Im Kino

Eine Welt für sich

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
18.07.2018. In "Poesía sin fin", dem zweiten Teil von Alejandro Jodorowskys autobiografischem Filmprojekt, ist Kunst vor allem eine Lizenz zum Blödsinnmachen. Einen eigenwilligen Weg durch das schwierige Genre des Biopics bahnt sich Susanna Nicchiarellis "Nico, 1988".


Zwei Filme, "El Topo" (1970) und "Montana Sacra - Der heilige Berg" (1973), haben Alejandro Jodorowsky seinen legendären Ruf als Meister des subversiven Gegenkinos eingebracht. In den darauffolgenden Jahrzehnten machten die zahlreichen Filme, die der Chilene nicht drehte (insbesondere ein spektakulär gescheitertes "Dune"-Projekt) mehr Schlagzeilen, als die recht wenigen, die er realisieren konnte. Inzwischen beginnt sich dies allerdings zu ändern. Mit einem bislang zweiteiligen autobiografischen Filmprojekt gelang dem auch als Dichter und Comiczeichner aktiven Regisseur ein überraschendes und im Großen und Ganzen auch überzeugendes Comeback. "La danza de la realidad" (2013), der erste Teil der Filmserie, nahm seinen Ausgangspunkt bei Jodorowskys Kindheit im Chile der 1930er Jahre und litt, einigen eindringlichen poetisch-surrealistischen Passagen zum Trotz, doch noch ein wenig unter dem Double-Bind von Historienfilm und Familiendrama. Dem nun die deutschen Kinos erreichenden "Poesía sin fin" gelingt es deutlich besser, sich von den im Vorgänger zentralen Daddy-Issues freizuspielen und die Energien seines Frühwerks zu mobilsieren.

Dabei wählt auch der neue Film eine im Vergleich zum delirant-entfesselten Frühwerk entschieden konservative Grundform. Erzählt wird die Geschichte eines jungen Mannes namens Alejandro Jodorowsky, der in Chile in einer kleinbürgerlich-kleingeistigen Umgebung aufwächst, schon früh mit Künstlern in Kontakt kommt und bald mit seiner Familie bricht, einige Jahre lang das auch sexuell befreite Leben eines zwischen den Künsten, Jobs und Liebschaften hin und her driftenden Bohemiens lebt, und schließlich, auch als Reaktion auf den aufkommenden Faschismus, sein Heimatland verlässt. Eine durch und durch klassische Coming-of-Age-Erzählung also, unterfüttert mit Authentizitätsmarkierungen: Gedreht wurde in Santiago, der Stadt, in der Jodorowsky seine Jugend- und jungen Erwachsenenjahre verbrachte; genauer gesagt sogar in denselben Straßen, in denen er einst aufgewachsen war und die für "Poesía sin fin" mithilfe von Fototapeten und anderen Props in einen hochgradig artifiziellen, hybriden Erinnerungsraum (ein schönes Detail: die der japanischen Kabuki-Tradition entlehnten, komplett schwarz gekleideten Bühnenhelfer, die live vor der Kamera Umbauten vornehmen) verwandelt werden. Der Regisseur selbst, inzwischen 88-jährig und schneeweißhaarig, aber immer noch äußerst agil, geleitet uns zu Anfang in seine Geschichte und verabschiedet sich am Ende auch wieder von uns und von seinem jüngeren Ego.

Genauer gesagt gibt es in "Poesía sin fin" zwei junge Alejandro-Jodorowsky-Darsteller, beide sind ziemlich großartig. Zunächst spielt der bereits aus "La danza de la realidad" bekannte Jeremias Herskovits den noch nicht den Fängen seiner Familie entkommenen Alejandro - ein schüchterner, linkischer Lockenkopf, der beim Gedichtedeklamieren noch eher auf den Mitleidsbonus setzen muss. Den erwachsenen, vom Elternhaus emanzipierten Sturm-und-Drang-Alejandro verkörpert dann Adan Jodorowsky, der Sohn des Regisseurs; und auch wenn der sich in seinem Körper wohler zu fühlen scheint als die jüngere Jodorowsky-Inkarnation, bleibt doch in allen seinen Bewegungen eine gewisse Grundbefangenheit sichtbar. Jodorowsky inszeniert sein jugendliches Selbst durchaus als hochgewachsenen, virilen Schönling, aber ein Ideal-Ich ist das trotzdem keineswegs. Eher ist das ein den äußerlichen Exzessen zum Trotz in seinem tiefsten Inneren gehemmter junger Mann, der vielleicht gar nicht so genau weiß, was er damit meint, wenn er seinem homophoben Vater wieder und wieder entgegnet: nein, ich bin keine Schwuchtel. Im Film jedenfalls wimmelt es vor Penissen und schönen Männern, weibliche Sexualität spielt auch eine wichtige Rolle, hat aber stets etwas entschieden Monströses.



Und dann wird auch noch Alejandros erste Liebe, die knallrothaarig-vampige, körperbemalte Dichterin Stella Díaz Varín von derselben Schauspielerin (Pamela Flores) gespielt wie seine Mutter. Wobei der freudianische Kurzschluss da (und auch sonst bei Jodorowsky) weniger wichtig ist als das pure Körperspektakel. Eine Parallelmontage zeigt zum einen Alejandros erotoman-mystische erste erotische Begegnung mit dem nackt und voluminös auf dem Bett ausgestreckten Gesamtkunstwerk Stella, und zum anderen den braven ehelichen Geschlechtsverkehr seiner Eltern. Dass Sexualität ja nicht auf Penetration, beziehungsweise "Geschlechtsverkehr" reduziert werden soll, das bleibt auch im Folgenden eine Grundvoraussetzung des bunten, polymorph-perversen Treibens. Gleichzeitig vagabundiert allerdings, in verschiedenen Inkarnationen, ein Jungfrauenkult durch den Film. Und während drei Freunde des jungen Alejandro sich in einem queeren Melodram verfangen, bleibt der Protagonist selbst emotional seltsam unge-, beziehungsweise unberührt von dem wilden Treiben um ihn herum. Adan Jodorowsky ist über weite Strecken eher Impressario als Akteur, die Ruhe im Zentrum des Orkans.

Der Film wird umso besser, je mehr er sich im Episodischen verliert. Und auch, umso mehr Jodorowsky seine Kunst nicht als ein Produkt sozialer, beziehungsweise psychologischer Zwänge darstellt, sondern als eine Welt für sich zeigt, als einen Freiraum, als eine Lizenz zum Blödsinnmachen. In ihrer konkreten Ausformung hat diese Kunst aus den fiktionalen Jodorowsky'schen Flegeljahren auch noch nicht allzu viel zu tun mit der blutrünstigen, blasphemischen, abjekten Drastik der Bildwelten von "El Topo" und "Montana Sacra". Stattdessen dominieren vulgärer Lowbrow-Humor (furzende Clowns; obszönes Kasperletheater), versponnene Erotomanie, Verkleidungs- und Maskierungsspiele. Entscheidend ist durchweg der kreative Impuls, nicht das Ergebnis. Wichtigster Schauplatz ist das "Cafe Iris", eine Künsteroase mit großartigem Design, irgendwo zwischen Fin-de-Siecle-Dekadenz, wunderbar überzogenen Existenzialismus-Klischees und Fassbindertristesse. Das "Cafe Iris" hat mit Sicherheit, wie die meisten Figuren und Ereignisse im Film, ein realweltliches Vorbild. In seiner filmischen Realisation ist es jedoch weder ein sozialer, noch ein historischer Raum, sondern eher ein Emblem der Differenz, die Kunst in die Welt einzutragen vermag.

All das wird so oder so, das lässt sich nach zwei Filmen der autobiografischen Serie mit ziemlicher Sicherheit sagen, hinauslaufen auf die Geburt des Großkünstlers Jodorowsky, der in "Poesía sin fin" zwar nicht unbedingt mit sich selbst identisch ist, aber letztlich dennoch als Anfang und Ende von allem und ganz besonders seiner eigenen Kunstpraxis gefeiert wird. Das war vielleicht schon immer das Sonderbare an Jodorowsky: Da ist ein anarchistischer Bilderzauberer, der mit seinen hemmungslosen Schöpfungen nicht nur die Bilderfabriken des Mainstreams, sondern auch das bürgerliche Kunstkino in Schutt und Asche legen möchte - und der dabei gleichzeitig und völlig unironisch dem schon in den 1960ern anachronistischen, romantischen Ideal des schöpferisch-genialen Großkünstlers verhaftet bleibt. "Poesía sin fin" legt nahe, dass es letztlich Jodorowskys purer, unvernünftiger, verantwortungsloser Spieltrieb ist, der diesen Widerspruch aussöhnt und der sein Werk da, wo es funktioniert, zu einem Erlebnis sondergleichen macht.

Lukas Foerster

Poesía sin fin - Chile 2016 - Regie: Alejandro Jodorowsky - Darsteller: Adan Jodorowsky, Brontis Jodorowsky, Pamela Flores, Alejandro Jodorowsky, Jeremias Herskovits - Laufzeit: 128 Minuten.

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A true story wants to be mine

The story is telling a true lie

Nico: The Evening of Light / The Marble Index

Das letzte Bild des Films zeigt ein Gartentor, das sich langsam öffnet. Eine Frau tritt, ihr Fahrrad schiebend, ins Bild, wartet geduldig, bis das Tor sich geöffnet hat, geht hindurch und verschwindet. Das Bild bleibt bei dem geöffneten Tor stehen.

Man kann dieses Bild kontrafaktisch lesen, oder als Fantasie. Nico/Christa Päffgen, von der der Film erzählt, brach an einem Nachmittag im Sommer 1988 aus dem Urlaubsquartier auf Ibiza, das sie mit ihrem Sohn teilte, mit dem Fahrrad auf, um ins nahe Dorf zu fahren und kehrte nicht wieder zurück. Sie erlitt unterwegs einen Herzinfarkt und starb am selben Tag an einer Hirnblutung, die sie sich beim Sturz zugezogen hatte. Das Schlussbild lässt sich als das Wunschbild einer unmöglichen Ankunft lesen. Es ist in jedem Fall ein Bild in der Schwebe, mit dem die Erzählung ein Ende findet, eines, das sich nicht darauf festlegt, wie es sich zu den Bildern verhält, die ihm vorhergehen, und zu der außerhalb des Kinos liegenden Geschichte. Das letzte Bild ist eine der schlichtesten Gesten, die Susanna Nicchiarellis Spielfilm setzt, und zugleich eine der schönsten und treffendsten für einen Film, der einen eigenwilligen Weg durch das schwierige Genre des Biopics einschlägt.

Die grell ausgeleuchteten Stationen in Nicos Leben, vaterlose Kriegs- und Wiederaufbaukindheit, frühe Modelauftritte, die Filmrollen, die Beziehung mit Philippe Garrel, und die Liaison mit Alain Delon, der Sohn, den letzterer nicht anerkannte, die Zeit in New York rund um Andy Warhols Factory vor allem: Das findet alles Eingang in das Koordinatensystem des Films, definiert aber nicht seine Achsen.

Die erste auserzählte Szene des Films findet Nico in Manchester, wo sie Mitte der 1980er Jahre lebt, bei einem Radiointerview mit einem Moderator, der in der Frau, die ihm gegenüber sitzt, niemand anderen erkennen mag, als die ehemalige "Muse von Lou Reed" aus den Tagen von Velvet Underground, einer Zeit die sie selbst als blasse Vorgeschichte der langen Jahre ihrer musikalischen Solokarriere wahrgenommen sehen möchte. "Nenn mich nicht Nico" sagt sie dann im Taxi genervt zu ihrem Manager, "Ich heiße Christa". Der Film kokettiert an dieser Stelle, und an anderen, mit einer Geste des hinter-die-Maske-Blickens, läßt sich aber dann nie darauf ein, die Bilder nach Dichotomien von öffentlich/privat von Kunstfigur Nico und Mensch Christa zu sortieren.

Dass Nicchiarelli, wie schon der Titel nahelegt, sich für den letzten Abschnitt im Leben des Stars interessiert, bedeutet andererseits nicht, dass hier ein Leben von seinem Ende her gelesen wird. Seinen Anfang nimmt der Film in einer dichten Montage kurzer Sequenzen: Ein angekitschtes Erinnerungsbild der Bombardierung Berlins 1945, das die junge Christa als fernes Farbenspiel am Horizont mit ihrer Mutter beobachtet; die Öffnung der Klammer, die das Ende schließt: Ibiza, 1988, Nico ruft ihrem Sohn zu, ins Dorf zu fahren, blickt in den Spiegel und geht; und schließlich, als Titelsequenz, und wie eine weitere Erinnerung, nun an die 1960er Jahre in New York, Bilder aus Jonas Mekas' "Walden" (Ausschnitt) bzw. "Scenes from the Life of Andy Warhol". (Mekas' Filmtagebücher bleiben dann auch der einzige Weg, auf dem dokumentarisches Material in den Film findet.)



"Nico, 1988" ist ein loses Road Movie, folgt über weite Strecken einer Tour durch Süd- und Osteuropa und reiht entlang dieses Fadens szenische Arrangements aneinander, die die Motive eines schwierigen Lebens - eine traumatische Kindheitserfahrung, die erbarmungslose Maschinerie popkulturellen Ruhms, das Ringen mit Abhängigkeiten, von konkreten Menschen und einer vorgestellten Öffentlichkeit, und von Drogen, die kultivierte Ästhetik des Ruinösen, die auch darauf abhebt - nicht im strengen biographischen Sinne erzählt, sondern als Zustände aufscheinen lässt.

Die Szenen sind oft um Liveauftritte herum gebaut, durchzogen von den Spannungen innerhalb einer hastig zusammengewürfelten Band unter Führung einer unberechenbaren Diva, und den energetischen Austauschverhältnissen zwischen Bühne und Publikum, das von desaströser Verweigerung in einem italienischen Küstenort bis zu einem ekstatischen Moment des Überschlags bei einem halblegal organisierten Konzert in Prag reicht. Der Versuch, Nähe zu dem Sohn herzustellen, der bei Delons Mutter aufwächst ist, ist ein wiederkehrender Strang, wie auch das Verhältnis zu ihrem wohlmeinenden Manager, der ihr einen Weg zu einer Produktivität weisen will, der sich nicht aus Destruktion speist.

Verkörpert wird Nico in diesem Film von der dänischen Schauspielerin Trine Dyrholm. Ihr Spiel und der Soundtrack aus Nico-Songs, den sie mit der italienischen Band Gatto Ciliegia contro il Grande Fredo erarbeitet hat, fügen sich in diesen Zugriff auf eine Biografie. Der Film stützt sich weniger auf ein analytisches Ergründen, als auf ein Rearrangement von Motiven. Dyrholms Verkörperung und die Neuinterpretation von Nicos Musik lösen sich von dem Druck mimetischen Aufrufens und setzen stattdessen auf das imaginierende Ausfüllen der Lücken, die Konkretisierung einer Lesart. An den Rändern legt der Film eine Handvoll dramaturgischer Fährten aus, die er zum Schluss in Momenten biografischer Wahrheiten auflösen wird: Nicos Tonbandrekorder, mit dem sie auf ständiger Suche nach den Geräuschen der Welt ist, ein Gedichtband von Wordsworth. Gegenüber derartiger Schließung behält allerdings der Moment des Auflebenlassens die Oberhand.

"Nico 1988" will die Brüche eines kompliziertes Lebens nicht begradigen oder kitten, er kreiert Bilder, in denen etwas von der Spannung aufgehoben ist, Bilder, in denen eine Frau, deren Leben in ein unauflösbares Verhältnis von Entwürfen und Spiegelungen eingefasst ist, ein unermüdliches Bemühen um eine unmögliche Kohärenz an den Tag legt, und genau darin zu einer starken Subjektivität findet. So liest sich dann das letzte Bild noch einmal anders: die Wahrheit liegt in den Bildern und ihren Überlagerungen und nicht dahinter.

Sebastian Markt

Nico, 1988 - Italien 2017 - Regie: Susanna Nicchiarelli - Darsteller: Trine Dyrholm, John Gordon Sinclair, Anamaria Marinca, Sandor Funtek, Thomas Trabacchi - Laufzeit: 93 Minuten.