Im Kino

Die Buddenbrooks der DDR

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
15.08.2018. Annekatrin Hendels Dokumentarfilm "Familie Brasch" ist reich an Erfahrungen und satt an erlebter Geschichte, vertraut allerdings sehr auf talking heads. In "The Equalizer 2" von Antoine Fuqua nimmt ein gleichzeitig buch- und streetsmarter Lyft-Fahrer einen jungen Nachbarn unter seine Fittiche.



"Ich danke der Filmhochschule der DDR für meine Ausbildung." Zack, der Satz sitzt, trifft sofort einen Nerv. Thomas Brasch hat gerade den Bayerischen Filmpreis für seinen von der Gladow-Bande handelnden Film "Engel aus Eisen" erhalten. Das Jahr ist 1981, es sind die letzten großen Tage des deutschen Autorenfilms, der sich ein Jahr später in den erzwungenen Winterschlaf verabschieden wird. Franz-Josef Strauß steht in all seiner bulligen Franz-Josef-Straußigkeit in direkter Nähe auf der Bühne. Zuvor hatte Brasch in seiner Rede noch über die Widersprüche gesprochen, in denen er sich als politischer Künstler bewegt, wenn er einen Preis von einem Politiker annimmt, "dessen politische Haltung der meinen genau entgegensetzt ist", und ein Loblied auf die Kriminalität als Form der widersprüchlichen Existenz in einer von Widersprüchen geprägten Welt gesungen.

"Ich danke der Filmhochschule der DDR" - und im Publikum machen sich Empörte Luft. Wer sich für die Geschichte des ästhetischen Widerstands in der alten BRD interessiert, vielleicht sogar manchmal wehmütig in die Debattenkultur der alten BRD blickt - wie hartnäckig, vielleicht auch stur damals Position bezogen wurde und Fronten definiert wurden -, der kennt diesen Auftritt. Wann gab es solche harten Markierungen im Moment konzentrierter Präsenz der Antipoden zuletzt eigentlich im hiesigen Gegenwartskino? Lemkes entblößter Arsch Richtung Berlinale-Palast zählt nicht - ich stand unmittelbar daneben, das hat nur die Fotografen interessiert, aber keinen am weit entfernten Roten Teppich, geschweige denn irgendwen im Kosslick-Zirkel.

In Annekatrin Hendels Dokumentarfilm "Familie Brasch" ist Thomas Braschs Auftritt enthalten, natürlich sehr kurz - die Rede lässt sich bei Zeit online nachlesen, auf Youtube ist sie ebenfalls dokumentiert:


Der Auftritt beim Bayerischen Filmpreis bildet eine Art Brennpunkt, in dem sich die politischen, persönlichen und biografischen Linien, die die Familie Brasch kennzeichnen, bündeln: Da steht also Thomas Brasch, linker Schriftsteller, Intellektueller, Filmdebütant, DDR-Emigrant und, pikanterweise, Sohn des stramm-orthodoxen Kommunisten und DDR-Apparatschiks Horst Brasch und dankt, im Angesicht des politischen Gegners und des kulturellen Establishment des Staates, der ihn aufgenommen hat, gerade jener DDR, die ihn - auch nach einer Audienz bei Erich Honecker, den man sich den im Film versammelten Materialien nach zu urteilen wohl als eine Art Onkel im Umfeld der Familie Brasch vorstellen darf - nicht haben wollte: Familiengeschichte und Landesgeschichte fallen auf der Bühne des Bayerischen Filmpreises in eins.

(Und natürlich war das eine forcierte Provokation, verrät Christoph Hein in entspannt-lustiger Art in Hendels Film: Die Filmhochschule hat Brasch ja nur ein Jahr lang besucht, was will er da schon gelernt haben.)

Thomas Braschs Lebenslauf bildet in Hendels Film zwar den roten Faden, doch der Horizont ist weiter: Es geht, wie der Titel schon verrät, um die ganze Familie. Ein Film voller Antipoden: die Eltern vor den Nazis ins Exil geflohen, Aufbau des Sozialismus, Auseinandersetzung mit dem politischen Feind, Söhne im Streit mit dem Vater, dessen glühende Liebe sich allerdings vor allem auf die Partei und den Aufbau des Sozialismus konzentriert. So sehr, dass er Thomas per schnellem Telefonanruf an die Polizei verrät, als dieser gesteht, agitatorische Flugblätter verteilt und sich für Biermann eingesetzt zu haben, und dass er sich in einer schwachen Stunde einen (missglückten) Selbstmordversuch unternimmt, weil die Partei ihn verstoßen hat. Es geht um Freunde und Wegbegleiter der Familie, die zurückblicken auf ihr nicht immer einfaches, oft von Enttäuschungen und Verletzungen geprägtes Verhältnis zum Brasch-Clan. Um alte Liebschaften und Enkelkinder, die ihre Großeltern nie gesehen haben. Und um die Tochter Marion Brasch, die heute in Berlin fürs Radio arbeitet - eine Art entspannter Ausklang dieser von den Zerwürfnissen des 20. Jahrhunderts geprägten Familiensaga.



Und es geht um ein Land, das mal ein zweites Deutschland war, und dessen Geschichte von der Geschichte des übriggebliebenen Deutschlands absorbiert zu werden droht. "Das Beste, was man über die DDR sagen kann, ist ja, dass es dort mal Leute gab, die tatsächlich glaubten, dass man hier Sozialismus machen kann", sagt der Theaterautor und Komponist Florian Havemann einmal, ein alter Jugendfreund Thomas Braschs. Später saß er ein, weil er gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings protestiert hatte, 1971 verließ er das Land. Was die DDR nicht verstehen konnte und wollte, so Havemann weiter, ist, dass es in dem Land selbst Widersprüche gab, die den Widerstand der Leute befeuert haben. Die Obrigkeit dachte, das käme durch Einflüsterungen von Außen. Dabei seien sie ja nicht gegen den Sozialismus gewesen, sagt Havemann, im Gegenteil: Sie wollten "mehr Sozialismus".

Man braucht nur einen Blick in die online hinterlegten Biografien aller am Film Beteiligten zu werfen, um Hendels eigene Einschätzung, bei der Familie Brasch handle es sich um eine Art "Buddenbrooks der DDR", für ziemlich plausibel zu halten. Ihr Film fügt sich dabei ein in eine Reihe von Gesprächsfilmen der Regisseurin über deutsche Geschichte. Von einem (grotesk unterirdischen) Film über Fassbinder abgesehen, steht dabei die ostdeutsche Geschichte im Vordergrund, die sie in Form der Biografien und Spurensuchen von DDR-Außenseitern ertastet: der DDR-Punker und heutige Rammstein-Keyboarder Flake, der oppositionelle Schriftsteller und Stasi-Spitzel Sascha Anderson, nun die Familie Brasch, in der politische Macht und dissidenter Furor am selben Küchentisch saßen.

Gerade erst sorgte Renate Schillings Essayfilm "Kulenkampffs Schuhe" zumindest in den Filterblasen des Kultur- und Medienbetriebs für Aufsehen, Erstaunen und viele berührte Kommentare. Die Präzision in der Zusammenstellung des Materials, die erhellenden Korrespondenzen zwischen Privatarchiv- und Fernseharchiv-Material, die stringenten Beobachtungen, Ableitungen und Querverbindungen ergaben einen hochkonzentrierten Film, der mitten ins Gewebe aus Landes-, Medien- und Mentalitätsgeschichte zielte und die Schichten dieser Ge-Schichten minutiös freilegte. Im direkten Vergleich zeigt sich: Hendels Art des Filmemachens ist eher das Gegenteil des Kulenkampff-Films: Über weite Strecken gibt es "talking heads", denen man zwar gerne zuhört - insbesondere Bettina Wegners gelegentlich in höheren Registern klirrender Ostberliner Akzent ist ein Spektakel für sich -, was aber kaum visuellen Mehrwert im Vergleich zu einem Radio-Feature (das vielleicht die naheliegendere Form gewesen wäre) bringt. Gerade zu Beginn wirkt der Film ein wenig konfus, nicht jeder Schnitt gleich prägnant und manche Insert-Füllsel von New Yorker Großstadtansichten bleiben als bloße Postkarten ohne Wert für die Argumentation.

Hinzu kommt eine leicht nervige Übergriffigkeit gegenüber dem versammelten fotografischen Material: Läuft Gerda Brasch, die Mutter der Geschwister Brasch, auf einem Foto über den Gehsteig, gibt es auf der Tonspur von Ferne heranwehende Schritte aus dem Hörspiel-Fundus zu hören und dergleichen mehr - heischende Realitätsproduktion für Dumme. Sicher, sehenswert und interessant ist der Film dennoch. Einfach, weil die Geschichte der Braschs, die Geschichte ihrer politischen Verwerfungen und ästhetischen Revolten unglaublich reich an Erfahrungen und satt an erlebter Geschichte ist. Nur eine interessantere Form für diese Vermittlung wäre wünschenswert gewesen.

Thomas Groh

Familie Brasch - Deutschland 2018 - Regie: Annekatrin Hendel - Laufzeit: 90 Minuten.

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"The Equalizer 2" ist das erste Sequel in Denzel Washingtons umfangreicher Filmografie. Washington gehört zu den wenigen Darstellern in Hollywood, die derart populär sind, dass die Filme, in denen sie auftreten, zu Starvehikeln, also gewissermaßen zu Extensionen einer Starpersona, werden. Auch deshalb ist es interessant, dass der Schauspieler, der ansonsten durchaus nicht davor zurückschreckt, moralisch oder psychologisch abgründige, in weltliche Probleme aller Art verstrickte Figuren zu verkörpern, sich dafür entschieden hat, ausgerechnet den de-facto-Superhelden Robert McCall ein zweites Mal zu verkörpern.

Er hat sich damit für einen ähnlichen Weg entschieden wie Tom Cruise - den vielleicht einzigen Hollywoodstar seiner Generation mit einer vergleichbar soliden Popularität. Ähnlich wie Cruises Geheimagent Ethan Hunt in den "Mission: Impossible"-Filme ist der Equalizer eine mindestens halbtranszendentale Figur: Nicht nur leisten beide in Extremsituationen Übermenschliches, es nistet in ihnen auch kein einziger unreiner Impuls. Hunt hatte einst, lernen wir in seinem aktuellen Abenteuer "Mission: Impossible - Fallout", auf die Liebe verzichten müssen, um weiterhin die Welt retten zu können; und auch McCall ist von einer Aura keuscher Melancholie umgeben. Allerdings resultiert daraus nicht, wie im Fall von Hunt, eine Isolation von der Welt. Beim "Mission: Impossible"-Protagonisten kann man sich kaum vorstellen, wie er die Zeit zwischen seinen Aufträgen verbringt - vermutlich sitzt er tatsächlich die ganze Zeit in einem spartanisch eingerichteten Zimmer vor seinem Laptop und wartet auf eine verschlüsselte Email-Nachricht, die ihn wieder zurück ins Gefecht beordert. McCall dagegen gehört zu jenen Göttern, die sich unter die Menschen mischen, die sogar aktiv den Kontakt mit uns suchen.

Allerdings inkognito: Solange er nicht hinter finsteren Gesellen her ist, arbeitet McCall in der Dienstleistungsbranche, im ersten Film war er Angestellter eines Baumarkts, jetzt verdient er sein Geld damit, im Auftrag des Uber-Konkurrenten Lyft in seinem Privatauto Leute durch Boston zu fahren. Wie aus dem Fluß des Großstadtverkehrs und der smooth in ihn eingepassten teuren Hollywoodbilder sich langsam Figuren und Dramatik herausschälen: Das ist die schönste Passage in "The Equalizer 2". Das langsame Hochfahren einer komplexen Maschinerie, deren exaktes Funktionsprinzip verborgen bleibt hinter einer detaildichten, fast schon hyperrealen Oberfläche. Es geht dabei auch um Scharniere zwischen Lebenswelt und Genrekino: Gleich mehrmals ist es der Blick in den Rückspiegel seines Autos, der McCall aktiviert, der einen schlechter bezahlten Taxifahrer in einen urbanen Vigilante verwandelt. Kurz nachdem er eine junge Frau mit abwesendem Gesichtsausdruck, verschmiertem Makeup und verdächtigen Verfärbungen am Hals zu hause abgeliefert hat, steht er bei den Männern, die für ihren Zustand verantwortlich sind, auf der Matte und schlägt sie humorlos krankenhausreif. Auch für einen Holocaustüberlebenden, der ein Gemälde sucht, das seine Schwester darstellt, nimmt sich McCall Zeit, genau wie - insbesondere - für Miles (Aston Sanders), einen jungen Nachbarn mit künsterischen Ambitionen, der auf die schiefe Bahn zu geraten droht.

Es dauert, wie schon im Vorgänger, eine Weile, bis sich die diversen Handlungsfäden zu einer Eskalationsdramaturgie verdichten. Die Sorgfalt, die der Film insbesondere in dieser Anfangsphase auf seine Figuren verwendet, beweist ein weiteres Mal, dass sein Regisseur zu den unterschätztesten Hollywoodregisseuren der Gegenwart gehört. Antoine Fuqua dreht Genrekino im mittleren Budgetbereich und scheint sich dabei pudelwohl zu fühlen. Eine Handschrift im engeren Sinne kann man in seinen Filmen kaum ausmachen. Alles, was er dreht, sieht außerordentlich gut aus, aber ein großer Stilist ist er nicht. Das Baumarktfinale in "The Equalizer" oder die Sniperszene im Schnee in "Shooter" sind eher isolierte Kabinettstückchen denn Ausdruck einer auteuristischen Vision.



Außerdem hat Fuqua eine Schwäche für right-wing-Camp und ist im Detail nicht allzu geschmackssicher - in "The Equalizer 2" gibt es zum Beispiel einen recht trashig geratenen Türkeiprolog, in dem Washington sich einen Islamistenbart anklebt, um einen Kindesentführer dingfest zu machen. Aber all das ist Beiwerk. In erster Linie ist Fuqua ein Erzähler. Und zwar einer, der die Geschichten, die er erzählt, voll und ganz ernst nimmt und sie ihrem Maßstab gemäß erzählt. Das heißt: Weder verkleinert er sie mithilfe von Ironie (tatsächlich ist selbst die Idee eines "Comic Relief" seinen Filmen fremd), noch plustert er sie durch ein Übermaß an Pathos oder durch aufdringliche Metaphorik auf. Die Geschichten ihrerseits sind keineswegs originell, es sind vorderhand simple Pulperzählungen, die sich um Rache und Mitleid, um schuldhafte Verstrickung und selbstlosen Edelmut drehen. Und die nur lebendig werden durch die Figuren, beziehungsweise die Körper, die sie ausagieren. Ihrer sehr zeitgenössischen Visualisierung zum Trotz steckt in Fuquas Filmen ein solider, fast schon klassizistischer Kern.

"The Equalizer 2" - einer seiner schwächeren, weil unkonzentrieren Filme und dennoch sehenswert - ist weniger ein Balls-to-the-Wall-Actionfilm, als ein Bildungsroman, der langsam aus den Fugen gerät. Die Agentengeschichte, um die es vorderhand geht, erscheint über weite Strecken, auch aufgrund der wenig glücklichen Besetzung der bad Guys, fast wie ein Nachsatz, wie eine bloße Pflichtübung. Im Zentrum steht hingegen die Lehrer-Schüler-Beziehung von McCall und Miles. Die ist durchaus ambivalent ausgearbeitet. Der Equalizer fordert von seinem Nachbarn, dass der sein Leben selbst in die Hand nehmen und die Schuld für seine Probleme nicht bei Anderen oder gar der Gesellschaft suchen solle. Gleichzeitig allerdings möchte er ihn dazu bewegen, zu einem produktiven Teil einer innerstädtischen, interkulturellen Community zu werden.

Eher als um das Diktat neoliberaler Selbstoptimierung scheint es um das ältere republikanische Ideal einer Gemeinschaft der freien Einzelnen zu gehen. Dazu passt auch die bereits aus dem Vorgänger bekannte, im zweiten Teil noch einmal forcierte Bibliophilie McCalls. Wann immer irgendwie möglich, wird ein Buchrücken ins Bild gerückt. Es handelt sich, das ist entscheidend, um eine selbsterarbeitete, nicht um eine anerzogene Bibliographie, also um eine Booksmartness, die nicht das Gegenteil, sondern eine logische Fortsetzung von Streetsmartness ist. Der Equalizer hat sich, lernen wir in einer Szene, bereits durch einen ganzen Literaturkanon gearbeitet. In einer anderen wird ein Bücherregal zum Lebensretter.

Lukas Foerster

The Equalizer - USA 2018 - Regie: Antoine Fuqua - Darsteller: Denzel Washington, Pedro Pascal, Ashton Sanders, Bill Pullman, Melissa Leo - Laufzeit: 121 Minuten.