Im Kino

Die Seele des Films

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Patrick Holzapfel
12.09.2018. Hiromasa Yonebayashis hält mit seinem schönen Animationsfilm "Mary und die Blume der Hexen" das Erbe des Studio Ghibli am Leben. "Seestück" von Volker Koepp will weniger etwas aufzeigen, als allgemeine Ansätze bestätigen.


"Ein Gärtner ist Teil der Landschaft", sagt der alte Mann zu Mary, während er sich in den Blumenbeeten vor dem Haus, in dem das rothaarige Mädchen mit ihrer Tante wohnt, zu schaffen macht. Der Satz beschreibt nicht nur seine Tätigkeit, sondern auch das ästhetische Ideal des klassischen japanischen Animationsfilms, wie es von den Meisterwerken des Studios Ghibli verkörpert wurde: Die schöpferische Hand des Zeichners-als-Gärtner offenbart sich nicht direkt, sondern nur durch die Welt, die sie hervorbringt. Durch die Gesamtheit eines ästhetischen Entwurfs, genauer gesagt, in dem nicht nur Bild und Dargestelltes, sondern auch Figuren, Umgebung und Erzählung untrennbar eins sind.

Daraus folgt unter anderem, dass das Innere der Figuren nicht Psychologie bleiben darf, sondern eine Entsprechung in der äußeren, sichtbaren Welt haben muss. Marys vorpubertäre Neugier zum Beispiel manifestiert sich in Gestalt einer - ein erstes, wohlbekanntes Ghibli-Motiv - Katze. Die kommt zunächst, kurz nach der Gärtnerszene, um eine Mauerecke geschlichen und baut sich dann, halb ängstlich, halb fordernd, vor Mary auf. Es folgt eine Katzengroßaufnahme, die den Eigensinn des Tiers etabliert. Denn auch die Katze ist beides in einem: Verkörperung von Marys Neugier und ein autonomer, schnurrender, kapriziöser Körper.

Außerdem ist sie das Bewegungsmoment, das die Geschichte in Gang setzt: Sie springt in den Wald, und ist plötzlich nicht mehr schwarz, sondern grau. Mary, die hinterherspringt, merkt bald: Da ist nicht eine Katze, sondern zwei. Und auch die blau fluoreszierenden Blumen, zu der das Katzenduo sie führt, sind nicht, was sie scheinen. Das Blau erweist sich als eine Farbe, die sich nicht damit begnügt, an einem Objekt zu kleben, sondern die übergriffig wird, von Mary Besitz ergreift und ihr schließlich Zutritt in ein Zauberreich hoch über den Wolken verschafft.

Um dorthin zu gelangen, muss Mary, wie einst die Hauptfigur im Ghiblierfolgsfilm "Kikis kleiner Lieferservice", lernen, auf einem Besen zu fliegen. Die mysteriöse Hexenschule, in die sie auf diesem Weg schließlich gelangt, hat wiederum gewisse Ähnlichkeiten mit dem Schauplatz von "Das Schloss im Himmel", einer anderen Ghibliproduktion. Und das sind beileibe nicht die einzigen Verweise auf die modernen Klassiker des berühmtesten japanischen Animationsstudios, das sich seit geraumer Zeit in einer Art Winterschlaf befindet - der legendäre Gründer Hayao Miyazaki hatte 2013 seinen Rückzug aus dem Geschäft angekündigt, 2014 wurden alle neuen Projekte auf Eis gelegt und im April diesen Jahres verstarb dann auch noch Isao Takahata, der zweite große Ghibliregisseur. Allerdings arbeitet Miyazaki inzwischen doch wieder an einem neuen Projekt; und dann gibt es noch Hiromasa Yonebayashi, der zwei schöne, weithin unterschätzte Ghiblifilme inszeniert hat ("Arrietty" und "When Marnie Was Here") und nun mit "Mary und die Blume der Hexe" sein drittes Werk vorlegt, diesmal für das neugegründete Studio Ponoc, wo neben ihm noch zahlreiche weitere ehemalige Ghiblimitarbeiter untergekommen sind.



Man liest kaum einen Text über "Mary und die Blume der Hexen", der dem Film die zahlreichen Ghibliallusionen nicht zumindest implizit zum Vorwurf macht. Einerseits liegt solcher Kritik ein fragwürdiger Originalitätskult zugrunde - man könnte sich, und das bietet sich gerade im von Lehrer-Schüler-Beziehungen geprägten japanischen Kino durchaus an, Kunstwerken ja auch über kreative Erbschaftsverhältnisse nähern: Yonebayashi war nun einmal lange Jahre Miyazakis wichtigster Mitarbeiter und da wundert es nicht, dass er in seinen ersten eigenen Filmen an Motive und Techniken seines Vorgängers anschließt.

Andererseits ist "Mary und die Blume der Hexen" zwar ein Film voller kleiner Schönheiten (und als weitgehend handgezeichneter Animationsfilm gerade im Vergleich mit der Jahr für Jahr ideenloseren CGI-Konkurrenz schlichtweg ein Genuss fürs Auge), aber im Ganzen tatsächlich etwas schwächer als die beiden ersten Filme Yonebayashis. Die Kalibrierung von Alltag und Fantastik passt nicht ganz. Seltsamerweise betrifft das beide Seiten der Gleichung. Die realistischen Szenen zu Beginn wirken zu funktional, gewinnen kaum sinnlichen Eigenwert, der bald Überhand nehmende Fantasyplot wird dagegen fast schon etwas übereifrig, atemlos durchexerziert. Gerade an den Schnittstellen zwischen den beiden Welten knirscht es: Marys Besen zum Beispiel möchte der Film nicht nur mit Leben, sondern auch mit einer Persönlichkeit ausstatten. Leider sind diese Versuche nicht allzu effektiv, der Besen hüpft dann stets recht hilflos in der Gegend herum, in stummer Verzweiflung (denn reden, das ist vielleicht schon das ganze Problem, kann er nicht), als wüsste er selbst, dass ihm leider nicht die Möglichkeiten zur Verfügung stehen, sich adäquat auszudrücken.

Vielleicht ist "Mary und die Blume der Hexen" für Yonebayashi ein Übergangswerk. Nicht unbedingt auf dem Weg weg von seinem Lehrer, vielleicht ganz im Gegenteil: Seine ersten beiden Filme hatten, bei aller Brillanz, doch etwas Selbstgenügsames, Dioramahaftes, Puppenstubenartiges, alles detailliert und feinfühlig, aber auch sauber aufgeräumt, genau wie in den britischen Kinderbüchern, die ihnen als Vorlage dienen; grundsätzlich gilt das auch für "Mary und die Blume der Hexen" - seinerseits eine Verfilmung von Mary Stewarts The Little Broomstick -, aber in einigen Passagen, zum Beispiel im fabelhaften Prolog, der Hexenarmen fliegende Fische entschlüpfen lässt, blitzt diesmal eine fantasmagorische Energie auf, die an die düstereren Miyazakifilme wie etwa "Prinzessin Mononoke" erinnert. Einige großartige, überraschende Bilder gelingen Yonebayashi auch bei Marys erster Erkundung der Hexenschule. Gemeinsam mit der Hexenmeisterin gleitet Mary durch informationsgesättigte, komplex geschichtete Räume. Oben, unten, rechts, links, überall Hexenschüler, überall Transformationen, die die normierte Perspektivierung des Blicks aushebeln. So etwas gibt es nur im Animationsfilm: eine durch und durch verzauberte Welt.

Lukas Foerster

Mary und die Bume der Hexen - Japan 2017 - OT: Meari to majo no hana - Regie: Hiromasa Yonebayashi - Laufzeit: 104 Minuten.

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Am stärksten ist Volker Koepps neueste Auseinandersetzung mit dem Nordosten Europas immer dann, wenn er das Bild und das, was er damit sagen will, nicht kontrollieren kann. So rennen unbeteiligte Jogger durch seine Kadrierung, als er mit einem Experten über die Verschmutzung der Ostsee spricht, schlagen beeindruckende Wellen gegen das Fenster eines Schiffskapitäns und Sicherheitsexperten, müssen einige befragte Letten aufgrund des zu heiß werdenden Feuers in ihrem Rücken die Position wechseln oder übertönt der Wind die langen Ausführungen eines Naturschützers in Norddeutschland. Diese Momente sind auch deshalb so wichtig, weil sie von der Unzähmbarkeit des Meeres und der Natur erzählen. Es ist letztlich das Meer, genauer die Ostsee, die im Zentrum von "Seestück" steht und rauscht.

Ein Meer, das ausgenutzt, beherrscht, verschmutzt, ignoriert, aber auch geliebt wird. Blickt man auf die derzeitigen Weltkrisen, ist klar, dass das Meer eine der wichtigsten Rollen darin spielt, egal ob es um die Klimakatastrophe oder sogenannte Flüchtlingskrise geht. Heute einen Film über das Meer zu drehen, ist per se ein politischer Akt und Koepp ist sich dessen bewusst. "Seestück" will auch ein Plädoyer sein für friedliches Miteinander und den nachhaltigen Umgang mit der Natur.

Wer vertraut ist mit dem Werk von Koepp wird nicht viel Neues entdecken. Schon oft hat er sich an den Küsten zwischen Baltikum und Ostdeutschland herumgetrieben. Persönlichere und poetischere Reflexionen wechseln ab mit äußerst unspektakulär inszenierten Interviewpassagen. Die Seele des Films liegt in der Neugier eines Reisenden, der uns - nicht unähnlich, wenn auch deutlich weniger virtuos wie Schriftsteller à la Claudio Magris - einen politisch-geschichtlichen Reisebericht liefert. Seine Reise führt durch zahlreiche Länder entlang der Ostsee. Man fühlt sich am wohlsten mit dem Film, wenn einem diese Reise bewusst gemacht wird. Koepp spricht mit Menschen, die auf dem Meer arbeiten oder an den Küsten leben. Oftmals wirken die Begegnungen gerade in ihrer schlichten Unbedarftheit sympathisch. Manche der Protagonisten kennt man schon aus Koepps Filmen. Sie alle erzählen von ihrem Leben und ihrer Sicht auf das Meer.



Gleichzeitig zeichnet der Film wenig subtil spekulative Kriegsszenarien und fragt seine Gesprächspartner penetrant nach der Weltlage. Im Gegensatz zu einem Filmemacher wie Chris Marker, der in seinen Filmen durchaus auch sehr allgemeine politische Fragen an Gesprächspartner richtete, bricht hier keine Flut der Dringlichkeit über die Befragten herein, vielmehr hängen wir fest in einer repetitiven Ebbe fehlender Antworten. Der Antagonist des Films ist schnell gefunden, es ist Russland. Koepps Film wacht mitten im Kalten Krieg auf, was mit einer ängstlich gefilmten, versteckten Aufnahme aus einem Auto auf einer Fähre heraus evident wird. Zu sehen sind Panzer, die transportiert werden. Viel erfährt man nicht darüber. Allein die Anwesenheit von Panzern soll beunruhigen. Es ist die seltsame Perspektive des Bürgers, der nur seinen Frieden am Meer sucht und nicht genau weiß, was da alles passiert. Ob diese Perspektive genug für einen Kinofilm ist, sei dahingestellt. Überzeugender argumentieren Koepp und seine Gesprächspartner, wenn es um die Umwelt geht.

Zwischen Jean-Jacques Rousseau, dem Aussterben bestimmter Fischarten und ins Meer fließenden Antidepressiva erfährt man viel über die vielgescholtene und selten bekämpfte Verschmutzung des Meeres durch den Menschen. Eine besondere Rolle im Film spielen die riesigen "Hühnerställe", hunderte Meter lange Clubschiffe. "Früher hat man Containerschiffe en masse gebaut und heute baut man Kreuzfahrtschiffe en masse. Weiß gar nicht, wo die ganzen Menschen herkommen und wo die das Geld herhaben." Solche Sätze hört man viel und man ahnt, dass einem der Film weniger etwas aufzeigen, als allgemeine Ansätze bestätigen will.

Seestücke kommen eigentlich aus der Malerei. Koepp nimmt mehr als einmal direkten Bezug auf Caspar David Friedrich und die Romantik des Blicks in die Weite des Meeres. Seine Bilder bringen einen mit Ausnahme eines über den brechenden Wellen gleitenden Vogels im harmonischen Zweikampf mit dem Wind kaum ins erhabene Staunen. Die Kontraste und Farben wirken zu artifiziell und es ist festzustellen, dass Wolken im Digitalen tendenziell besser aussehen als Wasser. Deshalb blickt man in den Landschaftsaufnahmen meist gen Himmel und nur selten zur See.

Die Ostsee, ein mit circa 12000 Jahren sehr junges Meer, wird zumindest vorstellbarer. Es spricht für den Film, dass er keiner Werbung für die Region gleichkommt, nicht dazu motiviert, selbst zu reisen, sondern genügsam bleibt in seiner eigenen Reise. Ob einen diese aber interessieren muss, ist eine andere Frage.

Patrick Holzapfel

Seestück - Deutschland 2018 - Regie: Volker Koepp - Laufzeit: 135 Minuten.