Im Kino

Verlängerung des Vorspiels

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl, Karsten Munt
24.10.2018. Ein zügelloses Begehren steht im Zentrum von Christophe Honorés im besten Sinne epischem neuen Film "Sorry Angel". David Gordon Greens "Halloween"-Neuauflage verläuft sich im Zitatendschungel.


Zum ersten Mal begegnen sich der Schriftsteller Jacques (Pierre Deladonchamps) und der Student Arthur (Vincent Lacoste) in einem Kino. Eigentlich muss Jacques einen Stock höher, um an den Theaterproben für sein neues Stück teilzunehmen, aber sein Widerwille treibt ihn spontan in den spärlich besuchten Saal, in dem gerade Jane Campions "Das Piano" läuft. Erst werfen sich die beiden über ein paar Reihen hinweg neugierige Blicke zu, dann rücken sie zusammen, necken sich und schmeicheln einander. Doch genau in jenem Moment, in dem das Eis endgültig gebrochen ist und die beiden gemeinsam das Kino verlassen könnten, vertröstet Jacques den Jungen, um doch noch zu den Proben zu eilen.

Christophe Honorés neuer Film erzählt von zwei Männern, die sich häufiger verpassen als aufeinandertreffen. In "Sorry Angel" ist eine leidenschaftliche Liebesgeschichte angelegt, die jedoch wegen äußerer Umstände nie so richtig in Gang kommt. Was die Beziehung von Jacques und Arthur unmöglich macht, ist weder der große Altersunterschied noch die Tatsache, dass Jacques an AIDS erkrankt ist (was hier im sozialen Miteinander ohnehin nie ein Problem darstellt). Dass die beiden nie richtig zusammenfinden, hat vielmehr damit zu tun, dass sie in völlig unterschiedlichen Sphären leben. Denn während Jacques sich langsam mit seinem nahenden Tod abfinden muss, fängt der bisher noch etwas heimlichtuerisch mit seiner Sexualität umgehende Arthur gerade erst richtig zu leben an. Der Film verstärkt diese Unvereinbarkeit noch, indem er die beiden nicht nur an verschiedenen Orten (Paris und Rennes) leben lässt, sondern, zumindest gefühlt, auch in verschiedenen Zeiten (auf der einen Seite die 90er Jahre als Gegenwart des Films, auf der anderen ein nostalgisches, eher hippiemäßiges Studentenleben aus WG-Parties und Road-Trips).

Jacques ist derjenige, der zwar auch immer wieder schwach wird, sich die meiste Zeit aber aus einem nicht näher definierten Schutzbedürfnis heraus im Verdrängen und Ausweichen versucht. Der Film nimmt sich diese Unverbindlichkeit zum Vorbild. Selbst am Ende, wenn die Unmöglichkeit dieser Liebe auf schmerzhafte Weise offensichtlich ist, wählt Honoré keinen maximal dramatischen und dafür auch irgendwie erlösenden Höhepunkt, sondern bleibt im Warten aufs Ungewisse gefangen. Dass dieses ewige Hinauszögern letztlich eher lustvoll als frustrierend ausfällt, hat damit zu tun, dass in "Sorry Angel" jede Verzögerung zugleich auch eine Verlängerung des Vorspiels ist. Bei einem sommerlichen Cruising-Ausflug auf einem Parkplatz stilisiert Honoré die Partnersuche dementsprechend zu einer spannungsgeladenen Choreografie aus herausfordernden Blicken, Gesten der Zuwendung und Ablehnung sowie einer überraschenden Wendung. Wenn es dann endlich zum Sex kommt, verliert die Kamera das Interesse.



Obwohl die Literatur in "Sorry Angel" scheinbar nur eine untergeordnete Rolle einnimmt, hat der Film doch etwas grundlegend Literarisches. Bücher (wie auch andere, über den Film verteilte Referenzen, etwa ein Plakat von Fassbinders "Querelle" oder eine Robert-Wilson-Inszenierung mit Isabelle Huppert) bieten Anlass, übers Leben nachzudenken, es gedanklich zu ordnen und den Blick auf die Welt neu zu justieren. Was die Literatur triggert, drückt sich vorwiegend über die Sprache aus, etwa in charmant witzigen Balzritualen, in Monologen, in denen Jacques seine Verzweiflung in all ihren Schattierungen ausbreitet oder auch in einer Typologie des Begehrens, mit der potentielle Sexpartner in vier verschiedene Kategorien eingeteilt werden.

Vor allem ist Honorés Erzählweise an sich episch. Nicht im Sinne von groß und monumental, sondern, weil sie sich nicht so sehr auf Protagonisten und Konflikte zuspitzt, sondern immer wieder abschweift, sich plötzlich an Nebenfiguren wie Jacques' Sohn oder Arthurs Freundin hängt und die Zeit dabei vergisst. Nicht obwohl, sondern gerade weil sich "Sorry Angel" in einem ständigen Modus der Zerstreuung befindet, behält die Liebe ihre Dynamik, lässt sich nie ganz greifen und bleibt ein noch einzulösendes Versprechen. Und darum, das eigentlich zügellose menschliche Begehren in die romantische Idealvorstellung einer monogamen Beziehung zu pressen, geht es ohnehin nie. Vielmehr umgibt die Figuren im Film eine Welt voller potentieller Partner, und es spricht nichts dagegen, auch mehrere gleichzeitig zu lieben.

Am besten wird die Zügellosigkeit, die "Sorry Angel" auszeichnet, vielleicht von Vincent Lacoste verkörpert. Schon das puppenhaft unschuldig wirkendes Gesicht beißt sich mit seinem verschmitzten Rotzbuben-Grinsen. Dahinter lauert eine ständige Unberechenbarkeit, die sich mal in jugendlichen Schlaumeiereien über das Leben, dann wieder in virtuosen Blödeleien entladen kann. Mitunter schimmert auch ein etwas zu selbstgefälliges Wissen um die eigene Wirkung durch, das aber immer an den richtigen Stellen gebrochen wird. Lacoste ist ein sehr körperbetonter, auch komödiantischer Schauspieler, der den schon durch sein Thema unweigerlich elegischen Film mit einer kindlichen Anarchie infiziert. Umso trauriger wirkt die Ironie, dass am Ende der sein Umfeld gerne ohne Vorwarnung überrumpelnde Arthur selbst hilflos der Ungewissheit ausgeliefert ist.

Michael Kienzl

Sorry Angel - Frankreich 2018 - OT: Plaire, aimer et courir vite - Regie: Christophe Honoré - Darsteller: Vincent Lacoste, Pierre Deladonchamps, Denis Podalydès, Adèle Wismes, Thomas Gonzalez - Laufzeit: 132 Minuten.

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Die "Halloween"-Reihe hat einen recht eigentümlichen Stammbaum. Nach dem nahtlosen Übergang von der ersten auf die zweite Generation riss bereits mit der dritten die Väterlinie um Michael Myers ab. Nachdem der maskierte Mörder in Teil eins und zwei mit Küchenmesser und Skalpell Haddonfield terrorisierte, brachten im dritten Teil nur noch die verzauberten Masken den Tod. Ein schöner und seltsamer Ausreisser, auf den sieben weitere Abzweigungen folgten, die den Stammbaum keineswegs übersichtlicher gestalteten und Michael Myers nach belieben für Sequels, Reboots und Remakes töteten und wiederbelebten.

David Gordon Greens Fortsetzung kappt nun, zumindest auf der Handlungsebene, erneut alle Wurzeln, die nicht auf Carpenters Original zurückführen. Für Michael Myers hat sich demnach in 40 Jahren wenig verändert. Er sitzt nach wie vor seine Zeit in der Psychiatrie ab und wartet auf die nächste Möglichkeit, auszubrechen. Was sich seit der ersten Halloween-Nacht verändert hat, ist die Perspektive auf seinen damaligen Massenmord. Zum Jahrestag kommt ein neuer Personenkult um den maskierten Messerstecher auf. Die psychiatrische Einschätzung, die Donald Pleasance als Dr. Loomis seinerzeit mit der Diagnose "pure evil" abschloß, wird von zwei investigativen Journalisten für einen Podcast neu aufgerollt. Ihr Besuch bei Myers ergibt wenig Material: der Boogeyman-Prototyp hat auch weiterhin nichts zu sagen. Die mittlerweile abgeschottet lebende Laurie Strode (Jamie Lee Curtis) zeigt sich gegenüber den Nachwuchs-Podcastern ebenfalls wenig gesprächsbereit. Im Gegensatz zu Myers hat die Mordnacht Lauries Leben aber von Grund auf verändert. Noch immer unter dem Trauma leidend, hat sie ihr Leben an den Alkohol und ihre Lebensmotivation an Michael Myers verloren.



"Halloween" arbeitet die Folgen des Traumas, das alle Beteiligten unweigerlich erneut durchmachen werden, zunächst im Familienkreis der Strodes auf. Laurie, die sich im Laufe der 40 Jahren mithilfe von Panic-Room, Überwachungskameras und Waffenkammer auf die Rückkehr von Michael Myers vorbereitet hatte, ist von ihrer Familie isoliert. Ihre Tochter, die ihre Kindheit mit Selbstverteidungsausbildung und Schießtraining verbringen musste, bis man Laurie das Sorgerecht entzog, hat sich längst von ihrer Mutter losgesagt, ihre eigene Familie gegründet und keine Angst davor, ihre Tochter an Halloween babysitten zu lassen. Damit teilt sich die Halloween-Gesellschaft in zwei Lager: Die einen leben in der Vergangenheit, für die anderen taugt sie nur noch als traurige Kindheitserinnerung oder potenzieller Multiplikator einer Medienkarriere. Letztere erweist sich nach Myers' Ausbruch als recht kurzlebig: Die Recherchen der Podcaster werden von ihm höchstpersönlich "beendet".

Die Vergangenheit siegt und Green wechselt von Familiendrama und Meta-Spielerei auf Zitat-angereicherten Massenmord. So ist "Halloween" formal eng mit seinen Ahnen verwurzelt, auch wenn die Kontinuität der vorherigen Fortsetzungen gekappt wurde. Das wird spätestens dort ein Problem, wo Green dem Overallkiller in einer aufwändigen Plansequenz seinen Weg zurück in die Vorstadt weist. Hier werden erneut Babysitter verfolgt, ihre übermütigen Dates an die Wand genagelt oder an den nächsten Gartenzaun gehängt. Die Slasherlogik entfaltet sich als eine Art Franchisekompendium, das auf Basis der vorigen Generationen wahlweise bekannte Mordszenen unterläuft oder neu auflegt. Beim unvermeidlichen Aufeinandertreffen zwischen Laurie und Michael spielt Green den Willen zur Subversion aus, indem er kurzerhand die klassische Opfer-Täter-Dynamik auf den Kopf stellt. Doch dieses feine Zitathandwerk bringt eben auch ein Problem mit, von dem zumindest ich mich nur schwer lösen kann. Jede Spannungslogik, jede Bedrohung und jeder Mord ist immer nur das Echo einer früheren Filmerfahrung. Der ständige Abgleich mit der Vergangenheit wird zum Betablocker für jeden Reiz, den der Film zu produzieren versucht. Sollte die mantraartig wiederholte Forderung der Familie, Laurie möge die Vergangenheit doch endlich ruhen lassen, eigentlich von Myers' neuer Mordserie als unsinnig entlarvt werden, wirkt sie in der Anbetracht der beharrlichen Referenzwut leider doch erstaunlich stimmig.

Karsten Munt

Halloween - USA 2018 - Regie: David Gordon Green - Darsteller: Jamie Lee Curtis, Judy Greer, Andi Matichak, James Jude Courtney, Nick Castle, Haluk Bilginer - Laufzeit: 106 Minuten.