Im Kino

Ausdruck divergierender Weltverhältnisse

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Lukas Foerster
07.11.2018. Paul Feig erkundet in "Nur ein kleiner Gefallen" seine dunkle Seite, bleibt aber seinem figurenzentrierten Kinoverstänndnis treu. Außerdem ein Nachtrag von der Viennale: In Ted Fendts "Classical Period" verwandeln sich vergeistigte Gespräche über Dante in Selbstoffenbarungen.


Im Zentrum des Films steht die Freundschaft zweier sehr gegensätzlicher Frauen: Wo Stephanie (Anna Kendrick), die sich als Vloggerin für Mütter in Suburbia durchschlägt, ihre mit Bärchen bedruckten weißen Socken damit entschuldigt, dass das Fünferpack im Sonderangebot war, tritt die in der Innenstadt beruflich erfolgreiche Emily (Blake Lively), ihrem Job in der Modebranche entsprechend, stets perfekt durchgestylt in Designerkleidung auf. Erstere ist stets um gewaltfreie und politisch korrekte Kommunikation bemüht. Letztere verleiht ihrem Gegenüber nach dessen Geständnis intimer (und inzestuöser) Geheimnisse schon einmal den Spitznamen "brotherfucker".

Am interessantesten ist dabei, dass die beiden Frauen auch unterschiedlichen Medien anzugehören scheinen: Wo wir Stephanie in der ersten Einstellung des Films, durch einen Computer-Bildschirm gerahmt in ihrem Vlog sehen, steigt Emily bei ihrem ersten Auftritt in strömendem Regen aus einem Auto aus, das Gesicht zunächst von einem Schirm verdeckt - und wird damit eindeutig als neoklassische Kino-femme-fatale charakterisiert.



Eines Tages bittet Emily Stephanie um einen kleinen Gefallen: Sie soll ihren Sohn Nicky von der Schule abholen. Doch als Stephanie ihr das Kind zurückbringen will, ist die Freundin nicht mehr anzutreffen und bleibt auch weiterhin spurlos verschwunden. Stephanie macht sich gemeinsam mit Emilys Mann Sean (Henry Golding) auf die zunehmend fieberhafte Suche nach ihr. Als die beiden eine Affäre miteinander anfangen und nach und nach Geheimnisse aus Emilys Vergangenheit ans Licht kommen, finden sich die Figuren bald in einem dicht gesponnen Netz aus Intrigen, Lügen und Dopplungen gefangen.

Der Trailer verspricht einen Film "from the darker side of director Paul Feig". Der Regisseur, der sich bislang durch - mitunter sehr schöne - Komödien mit Melissa McCarthy hervortat, hat nun nominell einen Thriller gedreht. Doch die Art, wie Feig, dessen Kino gerne subversiv mit geschlechtsbezogenen Stereotypen spielte, seine Figuren auch hier überzeichnet, letztlich nie behauptet, dass sie etwas anderes wären als Karikaturen medialer Abziehbilder, macht schnell klar, dass man auf solche Zuschreibungen nicht allzu viel geben sollte. Die Figuren, von denen her der Film sehr deutlich gedacht ist, geben dabei eine Stoßrichtung vor, die sich auf das Thriller-Genre eher als Farce bezieht. Dementsprechend ist die Tatsache, dass nichts ist, wie es scheint, hier keine tiefschürfende Wahrheit, die es aufzudecken gilt, sondern eher eine Prämisse.

Dass "Nur ein kleiner Gefallen" letztlich von einer Welt erzählt, in der es für seine Figuren - anders als für ihre Vorgängerinnen in Feigs "offiziellen" Komödien - vor den medial tradierten Stereotypen kein Entkommen gibt (und auch keine Emanzipation von ihnen), ist problematisch. Für den Film nimmt aber ein, dass er großen Spaß macht darin, wie er immer wieder über alle Stränge schlägt. Dabei ist er sich bewusst, dass die stylischen Oberflächen seiner hochglänzenden Scope-Bilder sich kaum dazu eignen, irgendwelche realen Abgründe zu verbergen. Stattdessen sucht er Zuflucht im ausgelassenen narrativen Exzess. Etwa, wenn ein nach und nach enthüllter Subplot um eine heroinabhängige und gewaltsam zu Tode gekommene Zwillingsschwester schließlich noch um eine mysteriöse Drillingsschwester erweitert wird.

Nicolai Bühnemann

Nur ein kleiner Gefallen - USA 2018 - OT: A Simple Favor - Regie: Paul Feig - Darsteller: Anna Kendrick, Blacke Lively, Joshua Satine, Andrew Rannells, Henry Golding - Laufzeit: 117 Minuten.

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Cal (Calvin Engime) redet gern. Besonders über Themen, mit denen er sich gut auskennt. Und er kennt sich mit vielen Themen gut aus: Literaturgeschichte, besonders mittelalterliche, Architekturtheorie, Religionsgeschichte, wiederum vor allem mittelalterliche und so weiter. Cal kennt nicht nur die Originaltexte, sondern auch die Sekundärliteratur, und sogar die Fußnoten der Sekundärliteratur. Genauer gesagt: ganz besonders die. Cal ist ein Fußnotenspezialist, wenn nicht gar -fetischist.

Vielleicht ist gerade das eine der Unterscheidungen, um die es in "Classical Period", dem neuen Film von Ted Fendt, geht: Ist Cals Interesse an den Fußnoten eines, das sich organisch aus seinem Interesse an mittelalterlicher Literatur - Cal ist, wie die meisten anderen Figuren des Films, Mitglied eines Dante-Lesekreises - ergibt? Oder liebt er Fußnoten, weil sich in ihnen seine Vorliebe fürs Obskurantistische kristallisiert, weil sie eine "Welt für sich" sind, die mit der Welt, durch die er sich ansonsten bewegt (das Philadelphia der Gegenwart) so wenig wie möglich zu tun hat?

"Classical Period" ist ein Film wie ein Ufo im Gegenwartskino. Ein Film, der sich mit seinen Figuren unter anderem darin gemein macht, dass er, wie sie, jeden Hauch von Gegenwartsrelevanz und unmittelbarer Zeitgenossenschaft scheut wie der Teufel das Weihwasser. Es geht, in fast schon aggressiver Ausschließlichkeit, um ein paar hoffnungslos vergeistigte junge Leute, die sich eine Stunde lang über Dante und einige andere, tendenziell danteartige Dinge unterhalten. Das ist schon der gesamte Film, mehr oder weniger. Freilich kommt es am Ende genau auf das "mehr oder weniger" an. Aber erst einmal begeistert mich die Form, insbesondere ihre konzentrierte Schlichtheit. Die Kamera registriert die Gespräche ungerührt in bleichen, schönen, im Normalformat kadrierten 16mm-Bildern. Bilder, die vom sprechenden Menschen her gedacht sind. Oft wechselt die Kamera minutenlang nicht die Position, wie auch einige der Figuren, besonders Cal, das Wort ungern abgeben, wenn sie es einmal erobert haben.



Kurz vor Schluss gibt es so etwas Ähnliches wie eine Konfrontation, einen Hauch von Dramaturgie. Evelyn (Evelyn Emile), die Dante ähnlich ernsthaft, aber nicht ganz so fußnotenfixiert wie Cal liest, lässt zwei spitze Bemerkungen fallen, die sich gegen Cals intellektuelle und emotionale Selbsteinschließung richten. Cal geht nicht mit einem Wort darauf ein und lenkt das Gespräch, wenig elegant, auf moderne Lyrik um. Für einen Moment wird "Classical Period" fast zum Mumblecorefilm, passenderweise wenden sich in dem Moment beide Figuren von der Kamera ab. Das Framing entstammt eindeutig nicht mehr der "classical period", es wird tendenziell modernistisch, kommunikationsfeindlich. Ich halte diese Szene zwar für die schwächste im Film, aber sie macht etwas an ihm sichtbar: Fendts Figuren, so opak und kontextlos sie zunächst wirken, sind nicht einfach nur Sprech- und Diskursmaschinen, Roboter der Vergeistigung. Vielmehr geht es um Interferenzen von Wissen und Innerlichkeit. Genauer gesagt: Wissen ist im Film, dem äußeren Anschein zum Trotz, nicht Selbstzweck, sondern es wird zum Ausdruck divergierender Weltverhältnisse.

Entscheidend ist, dass in der Konfrontationsszene diese divergierenden Weltverhältnisse nicht nur in Evelyns Kommunikationsversuch, sondern auch in Cals Kommunikationsabwehr zum tragen kommen. Evelyn möchte die Texte, die sie liest, auf sich selbst beziehen, auf ihr eigenes Leben, auf ihre Subjektivität. Ihr Problem scheint vor allem darin zu bestehen, dass sie nicht weiß, wie ihr das gelingen könnte. Cal hingegen kann nicht durchweg verbergen, dass sein beeindruckendes (und beeindruckend flüssig ausformuliertes) Faktenwissen zumindest auch eine Fassade ist, hinter der gelegentlich ein fader Konservativismus zum Vorschein kommt: Die "classical period", der er hinterhertrauert, ist für ihn vor allem deshalb ein Sehnsuchtsort, weil sie - eben - unwiederbringlich vergangen ist und sich gegen seine Projektionen nicht zur Wehr setzen kann.

Einzigartig ist "Classical Period" nicht aufgrund seiner spröden, minimalistischen Form, sondern in der Art, wie Fendt mit Figuren arbeitet. Der Film blockt (von der einen, erwähnten Ausnahme abgesehen) jede Andeutung einer herkömmlichen dramaturgischen Zuspitzung ab. Er bewegt sich lediglich thematisch, von Gespräch zu Gespräch, von Thema zu Thema, von Kunst zu Kunst; gegen Ende kommt, in zwei schönen Miniaturen, klassische Musik ins Spiel. Und doch werden, in dieser Bewegung, in erster Linie nicht Ideen erörtert, sondern Figuren konturiert. Und zwar so exakt und schonungslos, dass gegen Ende jeder einzelne Gesprächsbeitrag den Charakter einer Selbstoffenbarung annimmt.

Lukas Foerster

Classical Period - USA 2018 - Regie: Ted Fendt - Darsteller: Calvin Engime, Evelyn Emile, Sam Ritterman, Christopher Stump, Michael Carwile - Laufzeit: 62 Minuten.

"Classical Period" war bisher auf der Berlinale und auf der Viennale zu sehen. Ein Kinostart ist bislang nicht in Sicht.