Im Kino

Sex ist eine Wahl

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Nikolaus Perneczky
28.12.2018. Hirokazu Koreedas wundersamer neuer Film "Shoplifters" lässt in einem sozialrealistischen Milieu einen utopischen Kern wachsen. Caroline Links Hape-Kerkeling-Filmbiografie "Der Junge muss an die frische Luft" evoziert westdeutsche Realitäten und verbindet Nostalgisches mit Groteskem.


In einem baufälligen alten Haus am Tokioter Stadtrand, umringt von modernen Sozialbauten, führen der Tagelöhner Osamu (Lily Franky) und die Wäscherin Nobuyo (Sakura Andō) ein spürbar armes Leben im Kreis ihrer Familie. Außer den beiden sind das Oma Hatsue (Kirin Kiki), der kleine Shota (Kairi Jō) sowie die junge Erwachsene Aki (Mayu Matsuoka), die sich als Hostess verdingt. Der Wohnraum ist eng und unaufgeräumt, die Beschäftigungsverhältnisse sind unsicher. Man lebt von der Hand in den Mund, bisweilen, wie es der Titel vorwegnimmt, ergänzt durch Ladendiebstähle, während derer sich die Familienmitglieder mit geheimen Handsignalen verständigen. Regisseur Hirokazu Kore-eda versteht "Shoplifters" als "sozialbewussten" Film von tagesaktueller Inspiration. Zugleich arbeitet er sich an Themen ab, die ihn schon längere Zeit beschäftigen. Unmittelbar geht es um prekäres Leben im Gefolge der japanischen Rezession, mittelbar jedoch um die Frage, was Familie bedeutet, beziehungsweise bedeuten könnte. In dem eigentlich sozialrealistischen Milieu, und über dieses hinaus, wächst ein utopischer Keim.

Das Motiv des Diebstahls, das regelmäßig wiederkehrt und an dem "Shoplifters" sich zuletzt klimaktisch zuspitzt, ist dabei nur eine gesellschaftliche Normverletzung unter vielen. Die größte liegt in der Familienkomposition selbst, die man als eine Art zusammengestohlenes Patchwork beschreiben könnte. "Was ist die Verbindung?", will eine der "Töchter" wissen. Das Geld, lautet eine Antwort - also die schwierigen materiellen Umstände, die Gruppenbildung notwendig machen. Wahl, heißt es an anderer Stelle. Wie frei und radikal diese Wahl im vorliegenden Fall ist, wird erst nach und nach offenbar. So richtig versteht man die Verwandtschaftsverhältnisse dieser (falschen) Familie erst vom Ende des Films her. Es verbinden sich in ihr aus der Gesellschaft Herausgefallene - ob aus eigenem Verschulden oder unschuldig, wie die von ihren leiblichen Eltern misshandelte Yuri, die Osamu und Shota eines Nachts auflesen, ist den Familienmitgliedern egal. Auch der Film interessiert sich dafür kaum. Wo die Schuldfrage doch aufscheint, stellt Kore-eda sie stets in den Zusammenhang gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, die den (eher angedeuteten als ausformulierten) Hintergrund der Erzählung bildet.



Der Umgangston innerhalb der Familie schwankt zwischen süßlich und rüde, die Positionen sind lose verfügt und nirgends verfestigt. Mutter und Vater mögen sich für den Moment mütter- beziehungsweise väterlich gebärden, aber es fehlen die dauerhaften Garantien, die sonst mit diesen Rollen einhergehen. An einer (kritischen) Stelle sehen die beiden sich gezwungen, eines ihrer Kinder zurückzulassen. Auch ihre Beziehung als Mann und Frau hat wenig Selbstverständliches. Sex ist eine Wahl, keine Routine, und im nächsten Augenblick wieder erscheinen sie fast kindlich, wie Bruder und Schwester. Was "Shoplifters" als "Familie" beschreibt ist kein festes System, sondern Nähe (in unterschiedlichen Ausprägungen), Zugewandtheit und Solidarität als Ankerpunkte eines ständig sich erneuernden, kollektiven und improvisatorischen Handelns: dass die Großmutter gleich erkennt, wenn es der Enkelin schlecht geht (an deren kalten Füßen), dass der Vater um das Versteck des Sohnes weiß, wenn der aus Trotz das Weite sucht, dass die Mutter die Tochter im Arm hält, wenn sie im Arm gehalten werden muss. Wenn Shota sich zuletzt - zu spät - doch noch dazu durchringen kann, Osamu seinen "Papa" zu nennen, dann in dessen Abwesenheit und nur mit den Lippen geformt, ohne Einsatz der Stimmbänder: Der Vater bleibt ein ferner Hauch.

Die ethische Dimension dieses Familien-Tuns wird laufend, aber eher unterschwellig mitverhandelt. Es sei in Ordnung zu klauen, setzt Osamu Shota auseinander, weil die unverkauften Sachen im Laden ja noch niemandem gehörten. Und als Aki der Oma erzählt, womit sie ihr Geld verdient, ist die darob nur verblüfft und nicht im Geringsten empört: Das ist ja ein Ding, dass die Leute für so etwas zahlen! Eine spontane und allseitig anpassungsfähige Moralität wird da vorgelebt, unabhängig von geltendem Recht und vorherrschender Sittlichkeit, jedoch ohne ihnen ein anderes, etwa innerfamiliär verbindliches Regelwerk entgegenzusetzen. Kore-edas Familien(räuber)bande ist und bleibt ein offener Entwurf. Ob sie sich listenreich dem staatlichen Zugriff widersetzt oder geschickt die Mechanismen staatlicher Unterstützung manipuliert (etwa wenn der Tod der Großmutter geheimgehalten wird, um weiterhin ihre Pension beziehen zu können) - die gelebte Negation der herrschenden Verhältnisse schlägt doch nie in einen ausdrücklichen Gegenentwurf um oder gar in ein ideologisches Programm. Die Welt, wie sie sich für die Familie darstellt, ist nicht in erster Linie ungerecht, sondern wundersam und sonderbar: Warum bloß entscheiden sich die Leute, so zu leben? Am tieftraurigen Ende von "Shoplifters", das dennoch alle Möglichkeiten offen hält, wissen wir auch keine Antwort mehr.

Nikolaus Perneczky

Shoplifters - Japan 2018 - Regie: Hirokazu Koreeda - Darsteller: Lily Franky, Sakura Andō, Kirin Kiki, Kairi Jō, Mayu Matsuoka - Laufzeit: 121 Minuten.

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Der kleine Hans Peter will ins Fernsehen. Ist es doch die große Leidenschaft des Jungen (Julius Umlauf), der in den frühen Siebziger Jahren in einer kleinbürgerlichen Großfamilie im Ruhrgebiet aufwächst, im Rampenlicht zu stehen (und sei es auch nur im heimischen Wohnzimmer), Späße zu treiben, sich zu verkleiden, in verschiedenste Rollen zu schlüpfen, mit denen sein ungehemmter Spieltrieb auch ein ums andere Mal tradierte Klassen- und Geschlechter-Codes unterwandert.

Caroline Links neuer Film, dessen Handlung angelehnt ist an die gleichnamige Autobiografie Hape Kerkelings, ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil er als Porträt einer Epoche funktioniert und es schafft, Heterogenes miteinander zu verbinden. Einerseits ist der Blick der Filmemacherin, die gleich alt wie Kerkeling ist und ebenfalls ihre Kindheit in Westdeutschland verbrachte, ein durch und durch nostalgischer, der aber gerade darin ein in sich stimmiges und präzises Bild eines konkreten Ortes zu einer konkreten Zeit vermittelt. In den genau kadrierten, schönen Scope-Einstellungen rauchen im Hintergrund der Wiesen der Kindheit die Industrieschornsteine, die Straßen sind auf pittoreske Art heruntergekommen, die Tante-Emma-Läden an den Ecken Orte - manchmal maximal seltsamer - sozialer Interaktion und im Kino läuft "Zwei Himmelhunde auf dem Weg zur Hölle". Andererseits ist das kleinbürgerliche Milieu der alten BRD auf eine Art grotesk, die vage an Fassbinder erinnert. Auf der Karnevalsfeier der Familie wird Polonaise getanzt, es gibt einen Mettigel und Unmengen von Sektchen, Bierchen und Eierlikörchen. Zum nachmittäglichen Kaffee hingegen wird Sahnetorte mit Sahne serviert: "Doppelt lecker."



Eine Gemeinsamkeit, die den Jungen vielleicht noch etwas mehr an seine Mutter Margarete (Luise Heyer) bindet, die eine schwere Krankheit hat, der sie schließlich auch erliegt, ist die schön beobachtete Art, wie die anderen - nicht nur männlichen - Figuren immer wieder herablassend über die selbst in der Szene Anwesenden sprechen: "Der Junge muss mal an die frische Luft", "Der Frau geht es schlecht", usw. Wenn Hans Peter das einmal selbst ironisch thematisiert, zeugt das vom subversiven Gehalt seines Humors. Dass die Darstellung der Erkrankung der Mutter betont fragmentarisch bleibt, belegt, wie sehr der Film die Perspektive des kindlichen Protagonisten einnimmt, der zwar weiß, dass hier etwas absolut nicht in Ordnung ist, auch bald ahnt, wie das enden wird, aber doch die Dinge noch nicht in ihren genauen Zusammenhängen zu verstehen vermag.

Wenn der Film dabei abwechselnd ziemlich witzig ist, vage melancholisch und zutiefst tragisch, dann geht es Link nicht um einen Lebensrealismus. Wenn sie verschiedene Emotionen und Affekte evoziert, dann immer im vollen Bewusstsein, sich in bestimmten medialen Traditionen zu bewegen: "Der Junge muss an die frische Luft" ist eine insgesamt sehr gelungene Mischung aus Kindheits-Biopic, grotesker Komödie und Melodram. Ein paar Schwächen gibt es. So kann man das gängige Narrativ, nach dem es auch ein Kind aus "einfachen Verhältnissen" schließlich nach oben schafft, sich seinen Traum erfüllt und zum Fernsehstar wird, natürlich an sich fragwürdig  finden, und die Art, wie der Film es per kindlichem Voice-Over expliziert, ist schlicht und einfach redundant (dass sich Hans Peter dabei auf die Stalingrad-Durchhalteparolen seiner männlichen Nazi-Vorfahren bezieht, bildet allerdings eine sehr interessante Kontinuität). Und das Ende ist - spätestens wenn es den kleinen Hans Peter und den echten Hape Kerkeling der Gegenwart in Schuss und Gegenschuss zeigt - auf leider recht unangenehme Weise sentimental und esoterisch.

Das ändert zum Glück nichts daran, dass der Film genug kleine Widerspenstigkeiten in sich trägt, ausreichend Ecken und Kanten hat, um sich vom Gros vergleichbarer deutscher Produktionen der Gegenwart wohltuend abzuheben.

Nicolai Bühnemann

Der Junge muss an die frische Luft - Deutschland 2018 - Regie: Caroline Link - Darsteller: Julius Weckauf, Luise Heyer, Sönke Möhrin, Diana Amft, Elena Uhlig - Laufzeit: 100 Minuten.