Im Kino

Haarige Früchte

Die Filmkolumne. Von Nikolaus Perneczky, Jochen Werner
22.05.2019. Die Zukunft ist trans, behauptet Bertrand Mandicos "Les Garçons Sauvages" in schwarz-weiß oder funkelnden Blau- und Violetttönen. Hausfrau bei Tag, schwuler Mörder bei Nacht: Yann Gonzalez' "Messer im Herz" mit Vanessa Paradis ist wunderbar schrundiger Camp.


Wild boys fallen far from glory
Reckless and so hungered
On the razor's edge you trail.
Duran Duran
 
Eine Art Verqueerung des "Herrn der Fliegen", so liest man derzeit oft, erwarte einen beim Anschauen von Bertrand Mandicos Langfilmdebüt "Les Garçons Sauvages", und ganz falsch mag das nicht sein, obgleich einem alles verändernden Unterschied Rechnung getragen werden muss: Der Firnis der Zivilisation, den abzuwerfen William Goldings verwildernde Jungen die Isolation einer einsamen Insel benötigen, zerfällt hier bereits in den ersten Minuten und im Rahmen der Mechanismen der nur vermeintlich zivilisierten Außenwelt, die ihre jungen Männer dazu einlädt, sich als Krone der Schöpfung außerhalb sozialer, gesetzlicher und sexueller Regeln zu verorten.
 
Eine Theaterprobe - "Macbeth", of all things - verlängert sich in den grausigen Lustmord an einer Lehrerin. Alles, was folgt, geschieht als Konsequenz dieser Transgression und der somit von vornherein diagnostizierten grundsätzlich antizivilisatorischen Wildheit der fünf Protagonisten, die, des Mordes angeklagt und freigesprochen, von ihren wohlhabenden Familien zur weiteren Erziehung und Zähmung einem sehr männlichen und sehr strengen Kapitän mit einer Vorliebe für haarige Früchte und einem großen, tätowierten Penis ("wenn du Lust zu lesen hast, komm vorbei") überantwortet werden. An Bord des Schiffes "Cold World" beginnt eine Seereise, von der keiner der Passagiere unverändert zurückkehren wird.
 


"Les Garçons Sauvages" ist ein Schwarzweißfilm, aber manchmal kippt er und es leuchten kräftigste Farben in ihn hinein - irreale, artifizielle Farben, strahlende Blau- und Violetttöne, ein Funkeln von Feuerwerken und Edelsteinen. Die ästhetische Haltung des Films entspricht der Erzählhaltung: Dies ist eine Reise in ein Reich des Mystischen, des (Studio-)Kinos auch, jedenfalls weit jenseits jedweden Realismus. Man mag sich an das Stummfilmchanneling eines Guy Maddin erinnert fühlen, oder auch an die homophilen Traumwelten Jean Genets, gewissermaßen in einer Engführung von dessen einziger eigenen Regiearbeit "Un chant d'amour" und der Farbexplosionen von Fassbinders Adaption von "Querelle".
 
Mandico nimmt sich Zeit, bevor er die Jungs, den Kapitän und uns auf der Insel ankommen lässt, auf der sich alles verändert - im Grunde lässt er uns auch lange auf einer falschen Fährte wandern, was die Tragweite der Transformationen angeht, um die es in " Les Garçons Sauvages" geht. Dass die Insel nicht Schauplatz, sondern organisch-animistische Akteur*in des Geschehens ist, deutet sich rasch an. Haariges Gestrüpp wuchert allüberall, Pilze sehen aus wie Ärsche, Nektar wird aus phallischen Ästen gesaugt, Pflanzen laden mit gespreizten Zweigen und Blättern zum Koitus ein.
 
Die geschlechtlichen Verhältnisse sperren sich nicht nur gegen jede Vereindeutigung, sondern verkomplizieren sich immer weiter. Bald nach der Ankunft trifft der Kapitän, unter dessen Hemd sich eine einzelne weibliche Brust abzeichnet - auf dieses Phänomen wurden wir bereits in der Eröffnungssequenz, einem Flash-Forward, hingewiesen - auf den/die androgyne Séverin(e) (Elina Löwensohn), die eine Art Verbindungsglied zum Mysterium im Herzen der Insel zu verkörpern scheint; ein Mysterium, das sich in einem über weite Strecken des Films hervorragend kaschierten Castingkniff ankündigt. So werden die fünf wilden Jungen - auf höchst überzeugende Weise - allesamt von Schauspielerinnen gespielt.
 
Das Weibliche als Utopie steht am Ende und im Zentrum von "Les Garçons Sauvages" - die Zivilisierung der wilden Jungs geschieht um den Preis ihrer Jungshaftigkeit, und in furiosen Sequenzen gegen Ende des Films werden frisch gewachsene Brüste offenbart, fallen Penisse und Hodensäcke von transformierten Körpern ab und Federn vom Himmel. Die Zukunft ist weiblich, das könnte man als Fazit dieses wunderbaren Films ziehen. Oder noch einen Schritt weitergehen, wozu einen die durch und durch queere, zauberische Welt Bertrand Mandicos ohnehin immer wieder verführen möchte: die Zukunft ist trans*.

Jochen Werner

Les Garçons Sauvages - Frankreich 2017 - Regie: Bertrand Mandico - Darsteller: Pauline Lorllard, Vimala Pons, Diane Rouxel, Anaël Snoek, Mathilde Warnier, Elina Löwensohn - Laufzeit: 110 Minuten.

---



Wir schreiben das Jahr 1979, es ist der letzte Sommer vor Anbruch der Achtzigerjahre, vor dem Ende der Unschuld. Anne Parèze (Vanessa Paradis) produziert in einer Pariser Autowerkstatt schwule Pornofilme. Es ist ein kleiner Betrieb: eine Porno-Manufaktur. Anne zur Seite steht ihr Assistent Archibald (von archetypischer Flamboyanz: Nicolas Maury). Beide sind sie umringt von einer Riege schöner Jünglinge, und dann ist da noch Annes amerikanische Ex-Freundin Lois, zugleich ihre Cutterin, von Anne durch ein Loch in der Wand am Schnittpult beobachtet. Wenn Not am Mann ist, wird Bouche d'or ("Goldmund") auf den Plan gerufen - ein pummeliger Mann mittleren Alters, der bei seiner Mutter lebt und seine Dienste kostenlos zur Verfügung stellt. Die Filme, die hier unter Annes Regie hergestellt werden, sind wunderbar schrundiger Camp mit Titeln wie "De sperme et d'eau fraîche" (in etwa: "Von Sperma und Liebe allein") oder "Le tueur homo" ("Homo Killer"). Zugleich treibt sich ein echter Killer auf dem Filmset herum, der Annes Darsteller einen nach dem anderen abmurkst. Die Mordwaffe: ein schwarzer Dildo, aus dem eine Messerklinge hervorschnellt.
 
Yann Gonzalez' zweiter Langspielfilm, "Un couteau dans le coeur", ist eine queere Giallo-Paraphrase von grandiosem Unernst. Die Camp-Attitüde von Annes B- bis Z-Produktionen greift über auf den ganzen Film. Während der Mörder weiter sein Unwesen treibt, ist es Annes vordringliches Anliegen, aus der laufenden Mordserie eine neue Filmidee zu spinnen - je gaga (und meta) desto besser. Als Mörder in diesem Film-im-Film entpuppt sich die Kartenverkäuferin des Pornokinos "Far West", die sich infolge übermäßigen Pornokonsums für einen schwulen Mann hält. "Hausfrau bei Tag, schwuler Mörder bei Nacht", so die in der Schlusseinstellung nachgereichte Psychopathologie, "ein zunehmendes Problem".

Erst nachdem "Homo Killer" abgedreht und der halbe Cast gemeuchelt ist, begibt sich Anne auf des Mörders Spur. Das einzige Indiz: die Feder eines seltenen Vogels, die der maskierte Mörder am Tatort zurückgelassen hat - Variation eines Motivs aus Dario Argentos Erstlingswerk "L'uccello dalle piume di cristallo". Annes Suche führt sie erst zu einem Vogelkundler mit einer seltenen genetischen Krankheit, und von da in einen tiefen Wald in der französischen Provinz. Dort offenbart sich die tragische Geschichte des Mörders. Der Schlüssel zur Aufklärung der Mordserie jedoch liegt in einem von Annes Filmen.
 


Die Ironie, mit der "Un couteau dans le coeur" auf Porno und Giallo blickt, ist eher teilnehmend als distanzierend. Anne glüht für ihr Metier mit heiligem Ernst und kindlicher Begeisterung: Porno ist für sie nicht lediglich Geschäft, sondern eine Lebensform. Die Welt des Films ist überformt von Kino. Ausstattung und Soundtrack lassen die siebziger Jahre durch die Linse des zeitgenössischen Genrekinos wiederaufleben.

Um an seine Vorbilder heranzureichen, fehlt es dem Film jedoch entschieden an Grindigkeit. Gonzalez stellt die mörderischen Standardsituationen des Giallo-Genres einigermaßen getreu nach, aber sie bleiben zitathaft und steril. Die blutigste Szene ist Film- bzw. Theaterblut: Auf der Bühne eines lesbischen Kabaretts, das Anne ihr zweites Zuhause nennt, wird eine Amour fou gegeben zwischen einem Bären und einer Frau, die der Bär mit seinen ungeschickten Tatzen in Stücke reißt. "Je mehr ich dich liebe, desto mehr töte ich dich!" Wir bekommen viel nackte Haut zu sehen, aber keine Geschlechtsorgane oder expliziten Handlungen. Sex ist strategisch verstellt oder ins Off verbannt. Eine merkwürdige Konstruktion: "Un couteau dans le coeur" zeigt schwules Leben vor der AIDS-Krise als unschuldiges guilty pleasure.

Nikolaus Perneczky

Un couteau dans le coeur (Messer im Herz) - Frankreich 2018 - Regie: Yann Gonzalez - Darsteller: Vanessa Paradis, Kate Moran, Nicolas Maury, Joanthan Genet, Khaled Alouach - Laufzeit: 102 Minuten.

"Un couteau dans le coeur" war bislang nur auf Festivals zu sehen. Ein Deutschlandstart folgt am 18.7. diesen Jahres.