Im Kino

Die Larvenartigkeit des Arthur Fleck

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Thomas Groh
10.10.2019. Das Elend soll im Elend bleiben - Todd Phillips geht es in seinem "Joker" nicht um gekränkte Männlichkeit, sondern um gesellschaftliche Realitäten. Joaquin Phoenix erzählt das in der Titelrolle virtuos als Geschichte eines zugerichteten, sich eine Vaudeville-Eleganz erobernden Körpers. Louis-Julien Petit erzählt in "Les invisibles" von obdachlosen Frauen und Sozialarbeiterinnen, ihren Kämpfen und Widersprüchen - alles in Cinemascope.


"Everything must go" steht auf dem Schild, das Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) zu Beginn auf offener Straße in Gotham City über dem Kopf trägt. Gotham City, das war immer schon ein zugespitztes New York, hier nun ist es völlig mit dem Vorbild in eins gesetzt - genauer: mit dem schmierig-gerupften Pornokino-New-York der 70er und frühen 80er, wie man es aus den Filmen Martin Scorseses kennt. "Everything must go" also, "alles muss raus" - ein Räumungsverkauf, den Fleck als bei einer schäbigen Agentur gebuchter Clown annonciert.

Die Zeichen stehen schlecht - Geschäfte müssen schließen, auf den Straßen türmen sich die Müllberge. Arm und Reich verbarrikadieren sich in ihren Nischen, der Gesellschaftsvertrag ist aufgekündigt, das Elend soll im Elend bleiben und wird zur Selbstbrutalisierung freigegeben. Wenig später rauben Kids das Schild, schlagen den Clown brutal zusammen. Wie er da liegt, in der Gosse, drückt er noch den Knopf, der den Mechanismus in seiner Knopfblume auslöst. Etwas Wasser plätschert hervor. "Inside my heart is breaking, my make-up may be flaking. But my smile still stays on", heißt es bei Queen. The Show Must Go On.

Aber eben auch: "Everything must go", programmatische Ansage eines Films, der der in gesellschaftlichen Zuspitzungen brodelnden Stadt zusehends den Deckel vom Topf nimmt und sie zum Überlaufen bringt. An dessen Ende steht, nach einem langen Stationendrama, die enthemmte Entfesselung des Mobs und die Geburt einer Galionsfigur des DC-Comicuniversums: des Jokers, unter allen Gegenspielern Batmans der faszinierendste, wie schon die mittlerweile inflationäre Zahl an Kino-Interpretationen zeigt. Von Jack Nicholson bei Tim Burton und Heath Ledger bei Christopher Nolan über den (eher peinlichen Neben-)Auftritt von Jared Leto in "Suicide Squad" bis eben zu Joaquin Phoenix, der nun den Joker als Privatmensch Arthur Fleck zeichnet (was sich abgekürzt als A. Fleck lesen könnte, Affleck also, der bis dato letzte Batmandarsteller, aber dies nur am Rande).



Mit Fug und Recht könnte man sagen, dass es die Figur ihrer Faszinationskraft beraubt,  wenn man sie psychologisch ausleuchtet, wie Regisseur Todd Philips das im vorliegenden Fall tut. Als Chiffreeinladung bietet sich die Unberechenbarkeit der Figur ja geradezu an - in Nolans "Dark Knight", der seinerzeit 2008 zur Wirtschaftskrise in die Kinos kam, konnte man den Joker spätestens in jener Szene, in der er einen Haufen Geld abfackelt, durchaus als das personifizierte Chaos des globalen Spätkapitalismus deuten. Bei Nolan trat der Joker aus heiterem Himmel auf, folgte keiner Agenda außer der Lust an der Zersetzung gesellschaftlicher Strukturen und trieb ein jeckes Verwirrspiel mit seiner im Dunkeln liegenden Biografie.

Seitdem hat sich die Welt entgegen aller Eindrücke eines um sich greifenden Phlegmas gehörig weitergedreht: Die Weltwirtschaftskrise ist nur noch ein dunkler Schimmer in der Erinnerung, die Verbreitung des mobilen Internets setzte seinerzeit erst ein, Facebook und Youtube begannen gerade, die Grundlagen für unsere heutige Medienrealität zu legen, nicht zu vergessen: die geopolitischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten, der weltweite Aufstieg des Rechtspopulismus, die gespenstische Wiederkehr des Nationalismus, Fake-News- und Troll-Attacken, Amokläufe, die in düsteren Seitenarmen des Internets geplant und dort von Claqueuren zynisch bejubelt wurden. "Manche wollen die Welt einfach brennen sehen", hieß es im "Dark Knight" über die diffuse Bedrohung des Jokers - diffus ist diese Bedrohung mittlerweile ganz und gar nicht mehr, sie hat sich in den Schaltzentralen der Macht eingenistet. Im Weißen Haus sitzt heute ein Clown, der schlechte Scherze macht, Chaos stiftet und sich der Unterstützung seiner anonymen Troll-Armada im Netz gewiss sein kann. War der "Dark Knight" seinerzeit noch ein Autorenfilm im Superheldengewand, hat sich im Kino längst das Superheldentum als vergrößerte Fernsehserie breitgemacht und so ziemlich jeden anderen Kino-Entwurf zumindest aus den größeren Spielhäusern herausgekegelt.



Unter diesen Eindrücken ist es vielleicht sinnvoll, sich erstens an die Tugenden des New-Hollywood-Kinos zu erinnern, daran, dass in den historischen Tiefenschichten des oft so bleiern monoton wirkenden Gegenwartskinos einmal andere Entwürfe bestehen konnten - und zweitens, Ursachenforschung zu betreiben, Erklärversuche zu wagen. Todd Phillips, durch dessen Werk sich das Motiv enthemmter Männlichkeit zieht (von der Punk-Doku "Hated" über GG Allin bis zu seinem tollen "Starsky & Hutch"-Film und den "Hangover"-Komödien, bereits angekündigt ist ein Biopic über Hulk Hogan), mag dafür tatsächlich der Richtige sein, auch wenn man diesen ernsten Tonfall von ihm nicht erwartet hätte: Minutiös, vielleicht eine Spur zu didaktisch markiert er den Erfahrungsraum gesellschaftlichen Ausgestoßenseins angesichts einer fortschreitenden Auflösung sozialer Strukturen, fühlt sich detailliert in die Innenwelt dieser isolierten, von Traumata und Misshandlungen gezeichneten Figur ein - und das buchstäblich: Auffallend häufig ist Arthur Fleck in seiner Joker-Werdung gefangen in einer Welt des schmalen Schärfebereichs, in der seine Umwelt zu einem unlesbaren Spiel von Farbtupfern und Lichtreflexen wird, eine Welt, die er nicht deuten kann, mit deren Mechanismen er nicht vertraut wird, durch die er sich ungelenk bewegt, in der das Spotlight der Bühne - Arthur Fleck will Komiker werden, auch wenn ihm dazu jegliches Talent, geschweige denn ein grundlegendes Gespür für Humor abgeht - vielleicht der einzig erstrebenswerte Ort der Welt ist, weil sich darin deren Unlesbarkeit zu einem einzigen Lichtfleck verdichtet.

Ein nervöser Tick - Fleck muss unkontrolliert lachen - zementiert seinen sozialen Außenseiterstatus, seine psychischen Marotten (ab und an wirft der Film einen Blick in sein Notizbuch, was darin zu sehen und zu lesen ist, verspricht nichts Gutes) tun das übrige. Dieser Arthur Fleck ist geworfen in die Welt, reduziert zum Körper, den er zu maskieren versucht (und wie so oft ist die Maske schlussendlich das eigentliche Gesicht), ein Körper, den er ungelenk bewegt. In der Tat ist Phoenix' Spiel ein Spektakel für sich - gar nicht mal so sehr, weil er sich beeindruckend abgehungert hat, sondern darin, wie er tanzt, wie er rennt (und dieser Joker rennt oft!), wie er unkt und wie er lacht. Wer gesellschaftlich funktionieren will, muss seinen Körper beherrschen - was diesem Arthur Fleck schwer fällt. "Joker" erzählt auch die Geschichte eines zugerichteten, fragmentierten Körpers, der zu einer bedrohlichen Form emanzipierter Souveränität findet - in dem Maße, in dem Flecks Bewegungen fließender, eleganter, anschmiegsamer und kontrolliert exzessiver werden, steigt seine Bedrohlichkeit. In Sichtweite zur Schmiere, aber gerade noch an der Grenze, spielt Phoenix erst die Larvenartigkeit des Arthur Fleck, in dessen Körper der Joker erst hinein- und dann herauswachsen muss, bis am Ende die lakonisch-sarkastische Eleganz eines Vaudeville-Impresarios steht.



Natürlich ist es eine bewusst gesetzte Zumutung, ganz dicht bei einem Menschen zu sein, bei dem, popkulturelles Wissen eingedenk, von vornherein klar ist, dass er zu einem psychotischen Massenmörder werden wird. An dieser Konsequenz lassen weder Phillips, noch der tragisch-melancholische und ziemlich großartige Soundtrack der isländischen Avantgarde-Cellistin Hildur Guðnadóttir Zweifel.

Man sollte Verstehen-Wollen allerdings nicht mit Verständnis-Haben verwechseln. Anders als die seit dem Venedig-Erfolg, wo der Film überraschend mit dem Goldenen Löwen geehrt und von der Kritik noch gefeiert wurde, zusehends schriller werdende Diskussion - Stichwort "incel" - nahelegt, geht es gerade nicht um eine gekränkte Männlichkeit, die sich im Angesicht feministischer Gleichberechtigung aus der völlig banalen biografischen Erfahrung vereinzelter Zurückweisungen eine eitle Elendsrealität konstruiert, in der auf ewig Wunden geleckt werden oder gleich zur Gewalt aufgerufen wird. Natürlich leidet auch Arthur Fleck an narzisstischem Größenwahn, wenn er sich vorstellt, in der TV-Sendung eines berühmten Komikers (Robert de Niro, als eine Art Echo seiner Rolle in Scorseses "King of Comedy") mit Kusshand empfangen und bewundert zu werden, was zu einer bitteren Kränkung führt, wenn besagter Komiker Fleck mit Videoausschnitten der Lächerlichkeit preisgibt.

Aber es geht nicht ausschließlich um patziges Beleidigtsein, sondern um konkrete gesellschaftliche Realitäten: Um die Aufkündigung gesellschaftlichen Halts, um eingestellte Programme medizinischer Fürsorge (Fleck ist in psychologischer Behandlung, die wegen Budgetkürzungen wegfällt), um die zum Elitenschutz bewusst in Kauf genommene Verelendung weiter Teile der Bevölkerung, die Aussichtslosigkeit prekärer Existenzen, die Brutalisierung sozialer und zwischenmenschlicher Beziehungen.

So sind es denn auch drei weiße reiche Männer, die in der U-Bahn erst eine Frau übergriffig malträtieren und dann Arthur Fleck zusammenschlagen - bis sich von seiner Seite aus der Schuss einer Waffe löst, die ihm ein Kollege zugesteckt hat. Eigentlich die Standard-Genese-Situation des Superheldenfilms: Der Protagonist wird in eine Gewalttat verstrickt, deren Schurken am Ende am Boden liegen - und die Öffentlichkeit fragt sich, wer dieser geheimnisvolle Vigilant nun sein könnte, der da neu in der Stadt unterwegs ist. "Joker" indes verwischt die Grenzen zwischen Superheld und Superschurke - und problematisiert damit, ähnlich wie Alan Moore das bereits in "Watchmen" getan hat, die Vorstellungen des Superhelden per se, in dem immer schon das Potenzial faschistischer Selbstermächtigung schlummert.



In "Joker" wird aus dieser keimzellenartigen Erfahrung ein diffus hybrides Bild: Die prekarisierten Massen sehen in diesem Totschlag eine revolutionäre Geste und begehren, massenhaft Clownsmasken tragend, auf (ein Echo der Anonymous-Proteste, denen ein Comic zumindest das ästhetische Vorbild gab). Arthur Fleck, noch anonym, radikalisiert sich derweil im Privaten, befeuert von der Wirkmächtigkeit, die seine Tat aus dem Affekt erzielt hat, befeuert von dem Rampenlicht, in dem er zumindest indirekt steht. Das Kunststück, das Phillips hier gelingt: dass man einer Figur ganz nah war, ihr Handeln minutiös nachvollzogen hat - und trotzdem blanken Schrecken spürt, wenn sich das Monstrum, das hier fabriziert wurde, entfaltet. Die Empathie, die man mit dem geschlagenen Arthur Fleck ohne weiteres empfinden kann, schafft keine Grundlagen für Sympathie, wenn Fleck die Gewalt, die ihm angetan wurde, als Joker in von jubilatorischer Katharsis völlig freie Gegengewalt ummünzt, und erst recht nicht legitimiert die frühere Empathie das spätere Handeln. Wer dem Film ein solches Argumentationsmuster unterstellt, spricht eher über sich selbst als über den Film.

"Joker" ist ein Film, der zwar in der Vergangenheit spielt, sich Erzählmuster früherer Filmentwürfe zunutze macht. Aber es geht eben auch um ein Unbehagen an der Gegenwart, um die diffusen politischen Fronten, ein politisches und gesellschaftliches  Klima, in dem zunehmend Enthemmung, Kränkung und narzisstische Gewalt das Ruder übernehmen. Entsprechend diffus bleibt die politische Ebene des Films. Soziale Anklage gesellschaftlicher Missstände? Aufruf zur Gewalt?

Am Ende, an dem die Stadt brennt, feiern die anonymisierten Clownsmasken den Joker als Erlöser, der im finalen Geschlagensein zum endgültigen Triumph findet. Ein gespenstisches Bild am Ende eines Films, der davon handelt, wie einem Außenseiter mit unbegründeten künstlerischen Ambitionen und einem ausgeprägten Mutterkomplex das Chaos von Umbruchszeiten Macht über die Massen in die Hände spielt. Man hat diese Geschichte schon einmal gelesen. Nicht in einem Comicbuch, sondern in Ian Kershaws Hitler-Biografie. Folgt man Siegried Kracauer, lässt sich von Robert Wienes Caligari-Film 1920 eine Linie zu Hitlers Machtergreifung ziehen. Im "Joker" kann man vergleichbaren Prozessen beim Gären zusehen. Wer davor die Augen verschließt, den Film aus Gründen moralischer Anstoßnahme von sich weist, schlägt einmal mehr auf den Botschafter ein, statt die Nachricht zur Kenntnis zu nehmen.

Thomas Groh

Joker - USA 2019 - Regie: Todd Phillips - Darsteller: Joaquin Phoenix, Robert De Niro, Zazie Beetz, Frances Conroy, Brett Cullen - Laufzeit: 122 Minuten.

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"Les invisibles" lautet der Originaltitel schlicht. Wer sich offenen Auges durch das Zentrum einer Stadt in den Industrienationen der Gegenwart bewegt, kann diejenigen, die unsere Gesellschaft zunächst produziert, um sie dann zu übersehen, für unsichtbar zu erklären, kaum übersehen. Diejenigen, die auf Matratzen unter Brücken schlafen, in Mülleimern nach Pfandflaschen suchen oder in der U-Bahn nach Geld oder etwas Essbarem betteln. Wie kann das Kino sich ihnen nähern? Wie kann es gelingen, ihnen etwas von der Würde wiederzugeben, die ihr gesellschaftliches Sein ihnen genommen hat? Wie kann es ihren Status als Opfer gesellschaftlicher Prozesse anerkennen, ohne in Miserabilismus zu verfallen, sie zu "gefallenen Engeln" zu stilisieren oder ihr Elend wiederum melodramatischen Effekten zu opfern?

Eine erste Antwort auf diese Fragen, die Louis-Julien Petits zweite Regiearbeit gibt, zu der er auch das Drehbuch verfasste, lautet: durch Nähe. Und zwar, zunächst, durch die rein physische Nähe von David Chambilles toller Kamera zu den Figuren. Ein Film fast komplett aus nahen Einstellungen. Establishing Shots oder überhaupt Totalen gibt es kaum. Auch wenn die Kamera den Blick auf das nächtliche Lichtermeer einer nicht genau benannten Stadt im sozial und wirtschaftlich benachteiligten Norden Frankreichs öffnet (gedreht wurde in Tourcoing), ist der Hinterkopf der Frau, die es vom Balkon aus überblickt, mit im Bild.

Alle Hauptfiguren dieses Ensemblefilms sind weiblich. Die Sozialarbeiterinnen Audrey (Audrey Lamy), Manu (Corinne Masiero), Hèléne (Noemi Lvovsky) und Angélique (Déborah Lukumuena) arbeiten im L'Envol, einer Tagesstätte für obdachlose Frauen. Die Frauen, die hier ihre Tage verbringen, tragen im Film die Vornamen ihrer Darstellerinnen, werden aber meist mit den Namen von Prominenten angesprochen, und sind besetzt mit Laiendarstellerinnen, die selbst vorübergehend auf der Straße lebten: u. a. Patricia/Edith Piaf (Patrica Mouchon), Assia/Dalida (Assia Menmadala), Marianne/Lady Di (Marianne Garcia), Fedoua/Salma Hayek (Fedoua Laffou) und Aicha/Vanessa Paradis (Aicha Bangoura). Als die Einrichtung geschlossen werden soll, weil die Stadtverwaltung Zweifel an ihrer Effektivität hat, bleiben den Sozialarbeiterinnen drei Monate, um ihre Klientinnen auf die neue Situation vorzubereiten - und Widerstand gegen die (kommunal)politischen Realitäten zu leisten: in den Meetingsräume der Institutionen und auf der Straße.



Petit ließ sich für seine Mischung aus  Feel-Good-Komödie und Sozialdrama mit dokumentarischem Einschlag von Claire Lajuenis Buch "Sur la route des invisibles" und ihren Dokumentarfilm "Femmes invisibles: survivre dans la route" beeinflussen. Zu Recherchezwecken besuchte er ein Jahr lang Unterkünfte für obdachlose Frauen. Es also keine Überraschung, dass mich "Der Glanz der Unsichtbaren" an die Fernsehserien des einstigen Reporters David Simon erinnerte, an "The Wire" und "Treme". Auch bei Petit geht es um den Kampf des Menschen gegen die Institutionen mit ihrer kafkaesken, menschenverachtenden Bürokratie, gegen Institutionen, denen es eigentlich darum gehen sollte, Menschen in Not zu helfen, wobei rigide Sparzwängen diese Aufgabe zunehmend unmöglich machen.

Auch der deutsche Titel ist geschickt gewählt, weil es Petit darum geht, seinen Figuren einen gewissen Glanz zu verleihen, was mich an die Filme Sean Bakers denken lässt, der sich mit jedem neuen Film mehr zu einem bedingungslos humanistischen Chronisten des amerikanischen Prekariats der Gegenwart entwickelt. Wie für ihn ist es auch für Petit essentiell, in Scope zu drehen, um den Figuren ein gewisses Flair von "großem Kino" zu geben, jenen Glamour, den ihnen ihr gesellschaftliches Dasein so gründlich austreibt. Unterstrichen wird das durch die formale Gestaltung des Films. Wo zu Beginn der dokumentarische Duktus überwiegt, gibt es in der zweiten Hälfte mehrere videoclipartige Montagesequenzen zu Pop-Songs, wie sie das Hollywoodkino seit den Achtzigern, aber auch das Quality-TV gerne verwendet. Auch die Verwicklungen im Liebesleben der Sozialarbeiterinnen werden pflichtbewusst komödiantisch aufgelöst: Hochzeitsanträge werden gemacht und Ehekrisen überwunden.

So wenig wie sich der Film inszenatorisch oder narrativ an eine Einheitlichkeit oder die Grenzen des "guten Geschmacks" hält, so wenig sind seine Figuren dazu verdammt, durchweg "nette" oder in sich geschlossene Persönlichkeiten zu sein. Was für sie einnimmt, sind ihre Widersprüche, ihre Ecken und Kanten - auch Solidarität im Elend, das ein verbindendes Element sein könnte, ist nicht selbstverständlich, sondern etwas, das frau erst langsam lernen muss. Dabei spielen äußerliche Identitätsmerkmale wie Hautfarben ebenso eine Rolle wie die im einzelnen sehr unterschiedlichen Biografien, durch die die Frauen auf der Straße landeten. Petit hat sich in der Arbeit leiten lassen von seinen Darstellerinnen. Um sich auf sie einzustellen, drehte er den Film chronologisch, entschied schließlich, sie die Dialoge improvisieren zu lassen.



Der angestrebte Genre-Mix gelingt souverän. Wo der Film insgesamt sehr kurzweilig ist, und mich insbesondere die Räumung eines Obdachlosencamps zu Tränen rührte, hat er auch einen schönen Humor, der insbesondere am Ende als Bewältigungsstrategie lesbar wird, ohne dass dadurch die politische Befundaufnahme komödiantischen Impulsen geopfert würde: grundlegend verändern lassen sich die Verhältnisse nicht, aber vielleicht braucht es ein rebellisches Lächeln, um nicht ganz an ihnen kaputt zu gehen und im Kleinen weiter zu kämpfen.

Petit sagte, dass es ihm auch darum ging, von Obdachlosigkeit zu erzählen, ohne auf das Klischeebild des "Penners" zu verfallen. Mein einziger Kritikpunkt bestünde vielleicht darin, dass er etwas zu sehr danach trachtet, gängige Vorstellungen von extremer Armut nicht zu bedienen. Während er durchaus darauf eingeht, dass einige der Frauen psychisch krank sind, unter Depressionen leiden oder litten, werden Suchterkrankungen, die häufiges Resultat prekärer sozialer Verhältnissen sind und diese in einem Teufelskreis immer weiter verschlimmern, lediglich bei einer der Figuren angedeutet: einer jungen Frau, die mit ihrem Hippielook mit Dreadlocks ein wenig aussieht wie die Karikatur einer Backpackerin, die nicht Abenteuerlust, sondern ihre Biografie dazu brachten, aus einem Wanderrucksack zu leben. Dabei ist bezeichnend, dass wir sie zwar in einer Szene gegen Ende des Films mit einer Gruppe saufender Männer, buchstäbliche Schattengestalten in einer Tiefgaragen, stehen sehen, sie selbst dabei aber als einzige weder einen Flachmann noch eine Bierflasche in der Hand hat. So mutig, wie der Film in vielem ist, hätte ich mir manchmal etwas weniger Angst vor den Klischees gewünscht und etwas mehr Willen, den sozialen Realitäten, die sich hinter ihnen verstecken, auf den Zahn zu fühlen. David Simon und Sean Baker machen vor, wie das funktionieren kann.

Nicolai Bühnemann

Les invisibles (Der Glanz der Unsichtbaren) - Frankreich 2018 - Regie: Louis-Julien Petit - Darsteller: Audrey Lamy, Corinne Masiero, Noemi Lvovsky, Déborah Lukumuena, Patrica Mouchon, Assia Menmadala, Marianne Garcia, Fedoua Laffou, Aicha Bangoura - Laufzeit: 102 Minuten.