Im Kino

Ein Kino zum Vergessen

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel
19.03.2020. Clint Eastwood porträtiert in "Richard Jewell" einen penetrant korrekten, fetten FBI-Beamten, der erst als Held gefeiert wird, als er in Atlanta ein Bombenattentat aufdeckt, und dann als Verdächtiger gilt. Tonie Marshall erzählt in "Schöne Venus" von drei Arbeiterinnen in einem Kosmektiksalon - Nathalie Baye, Bulle Ogier, Audrey Tautou - die einfach zu schön sind um ganz wahr zu sein.


In Romanen von Jane Austen wird meist über einige Kapitel hinweg ein Spielfeld aufgebaut, auf dem sich der romantisch-dramatische Konflikt im weiteren Verlauf der Geschichte entfalten kann. Verschiedene Figuren, ihre Konflikte und Leidenschaften werden eingeführt und in Konstellationen überführt, in denen Platz bleibt für Überraschungen, Wünsche und Identifikation. Nicht unähnlich agiert Clint Eastwood in seinen Arbeiten, und sein jüngster Film, "Richard Jewell" ist dafür ein perfektes Beispiel. Unterstützt von seinem langjährigen und fantastischen Schnittmeister Joel Cox stellt er uns in nur wenigen Einstellungen die Figuren, das Milieu und den geschichtlichen Hintergrund vor, bevor die eigentliche Handlung einsetzt. Dass Eastwood wie Austen in diese Exposition bereits entscheidende Handlungselemente verweben, ist nur Ausdruck ihrer handwerklichen Eleganz. Dazu gehört auch, dass der Beginn der Handlung nahtlos übergeht in die Einführung des Milieus. Es entsteht der Eindruck, dass diese Geschichte passieren musste.

Da ist zum einen der titelgebende Richard Jewell, ein penetrant korrekter, übergewichtiger Mann des Gesetzes, der mit seinem Übereifer als Sicherheitsbeamter manchen Arbeitgeber vergrault. Zum anderen lernen wir seinen späteren Anwalt, den cholerisch-herzenswarmen Watson Bryant, seine liebende Mutter Barbara Jewell, den FBI Agenten Tom Shaw und die Journalistin Kathy Scruggs kennen. Eastwood fügt diese Schicksalslinien nach und nach zusammen wie man das aus Filmen wie "Mystic River" oder "Changeling" kennt. Der Film beginnt in den späten 1980er Jahren, dreht sich aber vor allem um den Bombenanschlag im Centennial Park während der Olympischen Spiele in Atlanta 1996. Denn es war eben jener Richard Jewell, der dort den verdächtigen Rucksack entdeckte und so hunderten Menschen das Leben rettete. Allerdings geriet Jewell schnell als potenzieller Täter ins Kreuzfeuer des FBI und der Medien.

Austens letzter vollendeter Roman heißt "Persuasion" und als eine Überredung, als eine Verführung in diese Welt lässt sich auch Eastwoods narrative Strategie übersetzen. Die Sequenz, in der seine Figuren bei den Konzerten im Centennial Park beobachtet werden und das Zeitgefühl (inklusive Los del Ríos "Macarena") langsam einem Spannungsgefühl weicht, ist schlicht virtuos. Die Kamera bleibt nahe an Jewell, der seinen Pflichten nachgeht, aber sie fliegt förmlich durch und über das Konzertgelände, um immer mehr zu sehen von dem, was später eine so große Rolle spielen wird.



Doch mit der Explosion der Bombe endet die "Persuasion" von Eastwood und im Gegensatz zu Austen nutzt er die so eindrucksvoll aufgestellten Figurenkonstellationen nur teilweise. Denn was Eastwood insbesondere in seinen jüngeren Werken interessiert, ist weniger eine Figur als das, wofür sie steht. In diesem Fall pendelt die Metaphorik zwischen rührendem Humanismus (im Fall von Richard Jewell und seiner Mutter) und problematischer Wut auf die Presse (Kathy Scruggs) und des FBI (Tom Shaw).

Der Humanismus ist naturgemäß leichter zu verdauen und wirkt ohnedies wie das Herzstück des Films. Hier öffnet Eastwood jene feinen Linien, die sich durch sein ganzes Werk ziehen. Zum einen jene zwischen Heldentum und Verbrechen, denn Jewell wird zunächst als Held gefeiert, dann als Verbrecher stigmatisiert. Die Frage, welche Helden eine Gesellschaft sucht, welche sie braucht und welche sie verdient, treibt Eastwood schon lange um. Es geht um Stolz und Vorurteil, aber auch um Ignoranz und Leichtgläubigkeit. Außerdem interessiert jene Linie zwischen professionellem und leidenschaftlichem Verhalten und wie letzteres zu ersterem wird und ersteres sich selbst als falsch entlarvt. Das gilt für den etwas neben der Spur wirkenden Anwalt Bryant wie für den rein äußerlich seriös erscheinenden Agenten Shaw. Es gibt die Handgriffe, die Floskeln, das Gebaren, die von einer professionellen Welt erzählen, von der man Rückschlüsse auf das eigene Leben ziehen kann. Wie verhält man sich in dieser oder jener Situation, wann ist es besser zu glauben, wann ist es wichtig zu zweifeln? Er macht jede Entscheidung seiner Figuren sicht- und spürbar.

Im Zentrum dieser Fragen nach Helden und Entscheidungen finden wir diesen Körper, in dem man so leicht einen Verbrecher erkennen kann. Paul Walter Hauser spielt Jewell in trotziger Schwerfälligkeit. Leicht gebeugter Gang, zittrige Wurstfinger, Doppelkinn und mal traurige, mal feurige Augen. Seine Hingabe an ein höheres Ideal des Zivilschutzes wirkt genauso unangepasst wie sein Körper in dieser geschniegelten Welt der locker sitzenden Hemden und Polizisten, die whiskeyschlurfend über ihre existenziellen Krisen nachdenken. Jewell ist ungebildet, schwabbelig, er kriecht mehr als dass er geht. Einmal sagt er zu seiner Mutter, dass er das Gefühl habe, dass sie beide mehr verdienen würden vom Leben. Dieser Jewell ist ein Verdrängter der Gesellschaft, jemand, auf dem man mit dem Finger zeigt. Er duckt sich, spielt nach den Regeln des Sklaven. Ein Außenseiter innerhalb der dominierenden Schicht, jemand für den man nicht kämpfen muss, weil es ihm trotz allem besser geht als vielen anderen. Eastwood tut es trotzdem, traut sich sogar komödiantische Szenen zu. Hauser zeigt uns, dass dieser Jewell unsere Zuneigung verdient.



Ganz anders geht Eastwood mit der Journalistin Kathy Scruggs um. Olivia Wilde spielt diese Frau irgendwo zwischen Rosalind Russell in "His Girl Friday", Elizabeth Berkley in "Showgirls" und Natalie Portman in "Black Swan". Im egomanischen Ehrgeiz verkauft sie ihren Körper für jede Schlagzeile, die Wahrheit ist ihr nicht so wichtig, sie möchte nur auf die Titelseite mit ihren News. Dazu würde sie sich auch die Brüste vergrößern lassen. Dumm nur, dass diese Figur - wie alle anderen - auf wahren Personen beruht und die echte Scruggs ihre Brüste wegen Rückenproblemen verkleinern lassen musste. Auch sonst hat die Darstellung laut verschiedener Gegendarstellungen nichts mit der echten Scruggs, die inzwischen verstorben ist, zu tun. In den USA kam es deshalb zu einem kleinen Skandal vor dem Release des Films.

Das Problem dabei ist weniger, dass Eastwood Eigenschaften der Figuren aus dramaturgischen Gründen verändert. Das ist sein gutes Recht. Im Sinne seines Aufbegehrens gegen falsche Berichterstattung und vorschnelle Urteile macht die Zeichnung der Figur (wie auch jene des FBI-Agenten) durchaus Sinn. Eastwood verwebt deren Ignoranz gegenüber der Wahrheit auch schön mit dem Sportevent, vor dessen Hintergrund der Film abläuft. In einer Szene, in der die Unschuld von Jewell aufgrund eines in einer bestimmten Zeit unmöglich zurückgelegten Weges offenbar wird, sieht man gleichzeitig den 200m-Weltrekord von Michael Johnson. Ein Athlet, dem trotz beinahe unmenschlicher Leistungen nie ein Dopingbetrug nachgewiesen wurde.

Was schmerzt ist, dass Eastwood seine am Anfang so faszinierend dargelegte Figurenkonstellationen entwertet für eine recht plumpe und überzogene Erzählung vom Guten und Bösen oder zumindest vom Falschen und Richtigen. Scruggs erfährt Reue, als sie während eines Statements von Jewells Mutter in Tränen ausbricht, das FBI bleibt ignorant, Jewell und Bryant werden belohnt. Eastwood kann nie verstecken, dass er ein Kino macht, das unbedingt wenig subtile und zum Teil wenig durchdachte Kommentare zu zeitgenössischen Themen loswerden will: Terror, Fake-News, Waffenbesitz, zu allem gibt es eine Eastwood-Szene. Er agiert hier, als wäre er auf Seite der Würde selbst. Die ständig im Bildhintergrund wehenden amerikanischen Flaggen werden gerade gerückt von einer Idee namens Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit bleibt aber abstrakt. Freut man sich bei den Happy Ends von Austen für die Figuren, muss man sich hier darüber freuen, dass die Gerechtigkeit gesiegt hat. Ganz ohne tragische Ironie, wobei noch zu klären wäre, was Gerechtigkeit in einem Film bedeutet.

Patrick Holzapfel

Richard Jewell - USA 2019 - Regie: Clint Eastwood - Darsteller: Paul Walter Hauser, Sam Rockwell, Olivia Wilde, Nina Arianda, Kathy Bates - Laufzeit: 131 Minuten.

***



"Schöne Venus" verströmt jenen französischen Romantikduft, der unter dick aufgetragenen Oberflächen von komisch scheiternden und sich emotional erfüllenden Liebeleien erzählt, obwohl sämtliche Darsteller zu attraktiv sind, um diese wirklich zu kennen. Im Film soll es um das Leben der gemeinen Frau gehen, aber Schönheitsschichten legen sich über die angeblichen Probleme, so dass man nichts mehr sieht außer körperloser Leidenschaft. Diese körperlosen Ideen von Liebe und Weiblichkeit finden sich in Nathalie Baye, Audrey Tautou oder Bulle Ogier, die den Film tragen und gleichzeitig verschlucken, weil sie zu große Schauspielerinnen sind, um echt zu sein. Es gibt hier eine Identifikation mit Perfektion, eine große Stärke des französischen Kinos. Man schluchzt, man lacht, man erzählt und letztlich bleibt alles wie es ist, weil sich hinter all dem engagierten Realismus nur der nächste Traum verbirgt. Ein Kino zum Vergessen im doppelten Sinn.

Doch existieren kleine Widerhaken im wohl bekanntesten Werk der kürzlich verstorbenen Filmemacherin Tonie Marshall und diese machen "Schöne Venus" zu mehr als der Titel verrät. Das liegt vor allem am titelgebenden Schönheitssalon, in dem die Handlung angesiedelt ist. Baye spielt Angéle, eine Angestellte dort, eine Frau "mit magischen Händen". Sie massiert die Kundinnen, reibt sie mit den neuesten Cremes ein. Ihre Arbeit umfasst weit mehr als Kosmetik und Massage, sie ist Seelenklempnerin, Retterin in der Not. Natürlich bräuchte sie ähnlichen Zuspruch auch in ihrem eigenen, ziemlich verkorksten Liebesleben. Sie hangelt sich von Affäre zu Affäre, lügt sich selbst ein Leben vor, das sie nicht (mehr) hat.



Nun ist es nicht nur so, dass Marshall diese kleinen und großen Kämpfe um die Liebe aus Sicht von Frauen zeigt, die von Männern in Rollen gesteckt werden (man ist entweder zu dünn oder zu dick, man riecht gut oder nicht, prinzipiell ist alles oberflächlich). Vielmehr verdreht und spiegelt sie diese Welt der Männerfantasien an einem Ort, der vorgibt, all das zu liefern, was Männer wollen, der aber von Frauen beseelt wird. Eingetaucht in blasses Rosa, Türkisblau, Joghurt- und Mandarinfarben, begleitet von einem traumwandlerischen Harfenklang, sobald sich die Tür öffnet - klar, dass dieser Ort nicht echt sein kann, nicht echt sein will. Eine Traumblase, eingehüllt in die neuesten Düfte, Glyceride in der Luft, solariumgebräunter Reigen als fragiles Wunschbild.

Hinter den Fassaden herrscht Traurigkeit und Einsamkeit. Ein Suizidversuch, Frustration und sich langsam ablösende Fetzen von Verjüngungscreme, die aus dem Gesicht hängen. Man denkt auch an den verkrampften "Meine schöne innere Sonne" von Claire Denis. "Schöne Venus" kommt lockerer daher. In den Gesprächen zwischen den Arbeiterinnen offenbaren sich trotzdem Abgründe. Ihre Blicke aus dem Fenster, die gaffenden Augen vor der Glastür, all das verrät einen Konflikt zwischen der Welt der Venus und der harten Realität. Gleich von Beginn an, wenn man diese sanften Farben sieht, denkt man auch an "Das Glück" von Agnès Varda. Das Glück ist nicht für jeden gleich. Von Anfang an zeigt Marshall eine Enttäuschung, die Enttäuschung der Frau.

Diese Enttäuschung wird in der Folge immer enger mit der Traumblase verschränkt, bis in einem furiosen Finale alles einzustürzen droht. In den feinen Rissen, die Marshall zwischen dem Make-Up sichtbar macht, gibt es einen Bruch, der auf das Kino selbst verweist. All diese Stars, ihre ewige Jugend, ihre Bildlichkeit scheitern an der Geschichte, die sie eigentlich erzählen wollen. Denn bis heute sieht man erschreckend selten wie hier eine Frau, die sich zu einem Mann setzt, um ihn einfach abzuschleppen, noch seltener werden weibliche Fantasien nicht nur diskutiert, sondern in gebührender Ambivalenz vorgeführt, und am seltensten geschieht das in Filmen, die so nett sind, dass sie tatsächlich Menschen erreichen können. Wenn man diesen Film sieht, spürt man weniger von seiner wütenden Dringlichkeit, als wann man jemanden erzählt, was im Film passiert. In dieser Hinsicht ist "Schöne Venus" die vollendete Umsetzung von Jean-Luc Godards Idee, dass das Kino zur Make-Up-Industrie gehört.

Patrick Holzapfel

Schöne Venus - Frankreich 1999 - OT: Vénus beauté (institut) - Regie: Tonie Marshall - Darsteller: Nathalie Baye, Bulle Ogier, Audrey Tautou, Robert Hossein, Samuel Le Bihan - Laufzeit: 105 Minuten.

Der Film steht in Erinnerung an die am 12. März verstorbene französische Filmemacherin Tonie Marshall bis zum 22. März in der Mediathek von arte.