Im Kino

Paradiesischer Raum

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Silvia Szymanski
09.04.2020. Kino zum Streamen: In "Kopfplatzen" erzählt Savas Ceviz von einem Mann, der kleine Jungen liebt und vom innere Kampf um die Rettung der Seele. Zwei andere Filme denken über Revolution und Technik nach: "La France contre les robots" von Jean-Marie Straub wendet sich gegen den Primat des Technischen. "Inventing the Future" von Isiah Medina hofft dagegen, dass die Robotergesellschaft uns vom Markt erlöst.


So etwas sucht sich keiner aus. Markus (Max Riemelt) ist ein netter Mann von Ende zwanzig, eingebettet in ein gediegenes und freundliches, geregeltes soziales Umfeld. Er verliebt sich oft und schaut seine Schwärme sehnsüchtig aus der Ferne an, mit klopfendem Herzen und verstohlener Erregung. Manchmal fotografiert er sie heimlich oder spricht sie schüchtern an. Er ist der obsessive Typ. Aber das ist nicht das Schlimme. Das Schlimme ist, dass es Kinder, kleine Jungen sind, in die er sich verliebt.

"Es tut mir Leid", sagt sein Psychotherapeut. "Das ist Ihr Schicksal. Sie können für Ihre Neigungen so wenig wie ich. Aber Sie können und müssen Ihre Handlungen steuern. Ob ein Kind durch Sie zu Schaden kommt, liegt in Ihrer Verantwortung."

Es ist eine Tortur, so zu sein. Zerrissen in einen guten Mann ohne Sex und einen bösen mit. Gegen Markus' Willen und besseres Wissen glaubt sein Trieb an die eigene Unschuld und dass es nicht schlimm sei, was er da will. Es sei eigentlich schön und natürlich. "Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse", hat sich Markus aus einem Nietzschebuch notiert. Doch dieser Gedanke öffnet unheilvollen Legitimationen die Tür. Der Trieb an sich mag animalisch unschuldig sein, aber wenn man ihm folgt, was richtet er an, in dem anderen, kindlicheren Menschen und in seinem Umfeld? Kann Liebe das wollen? Kann man es dann überhaupt noch Liebe nennen?

Wenn Markus solche Gedanken in sich wälzt und allein spazieren geht, erinnert er mich an den Werwolf aus Stings "Moon over Bourbon Street" oder auch an den Mann in Michel Tourniers "L'Ogre". In einem Zwinger im Park gibt es einen Wolf, den Markus füttert. Der Wolf frisst manierlich das Fleisch und knurrt wie Markus' Inneres. Er ist auch einfach nur so wie seine Natur, und deshalb gefährlich, deshalb eingesperrt.

Es darf nicht mehr draus werden. Es muss eine andere Art von Liebe dagegen gesetzt werden, ein besonderes, soziales, menschliches Mitgefühl, das den bösen Wolf blockiert, auch wenn er dann sein Leben lang im Kerker Selbstverteidigungsreden hält und beteuert, er meine es nicht böse.



In Markus' Wohnung und Innerem gibt es eine Dunkelkammer und eine Schublade mit Fotos "seiner" Jungen. Halb sammelt er sie, um mit dem Trieb zu verhandeln; vielleicht lässt er sich so beruhigen. Halb aber gibt er ihm damit ja nach. Der schnurgerade Strom der Autos auf der Bahn unter der Überführung ist eine tödliche Maschine. Er könnte versuchen, den Trieb zu töten, indem er sich da runter wirft. Sich ausradiert. Er könnte versuchen, den Trieb beim Boxtraining k.o. zu schlagen. Die Sammlung mit den Fotos "seiner" Jungen wie eine Hexe zu verbrennen. Alle Plätze zu meiden, wo sich die kleinen Jungen treffen, um nicht in Versuchung zu kommen.

Die moralphilosophische und spirituelle Dimension seines Konfliktes ist allgegenwärtig. Zwar wird sie nie vordergründig (das Kreuz an der Wand eines Krankenhauszimmers ist eher ein tristes Dekor), aber Markus' Not, sein Flehen darum, nicht in Versuchung zu kommen, sondern von dem Übel erlöst zu werden, daraus besteht der Film; der innere Kampf um die Rettung der Seele setzt ihn unter eine immense Spannung. "Ich will das nicht und bin das nicht. Aber alles dreht sich nur noch darum. Es gibt nichts anderes mehr", wimmert Markus in einem ergreifenden Monolog. Max Riemelt spielt diese Rolle sehr fein nuanciert, gut getimt, eindringlich, berührend.

"Hallo, ich bin Arthur." Arthur (Oskar Netzel) ist die leuchtende, rührende Unschuld in Person. Ein Junge wie ein Engel, wie aus einer Thomas-Mann-Erzählung oder Angela Schanelecs "Ich war zuhause, aber". Die Kamera (Anne Bolick) fängt viele schöne Dinge um ihn ein. Den zarten, flaumigen Haaransatz an seinem Nacken. Die Klarheit seiner Augen. Die Transparenz seiner Gefühle. Den Zauber seines kindlichen Vertrauens. Arthur begrüßt Markus als väterlichen Spielkameraden und kuschelt sich an ihn: "Hast du mich lieb?" Markus fühlt sich mit ihm wie ein Kind, schwebend, verbunden mit ihm und allem. Aber der lichte, fragile, paradiesische Raum, der Arthur umgibt, und sich durch ihre Zuneigung erweitert, darf nicht für mehr benutzt werden. "Wenn du eine Figur berührst, dann musst du sie auch führen", erklärt Markus Arthur das Schachspiel. Es ist als belehre er sich selbst. "Du kannst deinen Zug nicht zurücknehmen." Markus beherrscht sich. Wie Christophorus trägt er den Knaben, der so schwer ist wie die Welt, durch das Wasser im Schwimmbecken.

"Ich kann dir einen Link schicken", schreibt ein Chatpartner an Markus in einem unzüchtigen Internetraum, "da siehst du, wie man mit den kleinen Himmelswesen umgeht." Markus bricht den Chat entsetzt ab. So will er das nicht sehen, nicht gesehen wissen.

Ich mag den Film. Ich mag seine sanfte, diskrete Musik (Jens Südkamp, Savaş Ceviz) und wie gut die beiden Hauptdarsteller spielen. Und ich finde es gut und mutig, wie der Film seine Geschichte sozusagen singt, als intensives, monothematisches, schmerzvolles Liebeslied, mit einer nur ganz schlichten, schlanken Handlung drum herum. Das Eigentliche geschieht im Inneren, in Markus' Herz- und Dunkelkammer, seinem Himmel, seiner Hölle.

"Kopfplatzen" ist das Spielfilmdebüt des Regisseurs und Drehbuchautors Savaş Ceviz. Er sollte ursprünglich am 2. April in die Kinos kommen. Aufgrund von Corona kann man ihn stattdessen nun noch drei Wochen lang bei salzgeber.de gegen eine Gebühr digital ausleihen und anschauen.

Silvia Szymanski

Kopfplatzen - Deutschland 2019 - Regie: Savaş Ceviz - Darsteller: Max Riemelt, Oskar Netzel, Aris Diamanti, Ercan Durmaz, Odine Johne - Laufzeit: 97 Minuten. Kopfplatzen im Salzgeber Club.

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Auch das ist Filmkultur in Zeiten von Corona: In einer zugegeben nicht allzu großen, aber einigermaßen schillernden, vornehmlich amerikanischen Film-und-Politik-Twitterbubble dreht sich derzeit (fast) alles um zwei Filme, die komplett nicht nur an den Kinos, sondern an allen kommerziellen Kanälen vorbei der Öffentlichkeit ohne Zugangsbeschränkungen zur Verfügung gestellt werden. In beiden geht es, auf die eine oder andere Weise und vielleicht in beiden nur vorderhand, um den Zusammenhang von Revolution und Technisierung.

Jean-Marie Straub, Veteran zahlloser filmpolitischer Schlachten der Sechziger und Siebziger, hat einen neuen, zehnminütigen Film namens "La France contre les robots" veröffentlicht, auf der Website Kino Slang, wo er seit dem 5.4. eine Woche lang zu sehen ist. Isiah Medina wiederum, ein junger, in der linken Internetcinephilie sozialisierter kanadischer Filmemacher, verbreitet seinen zweiten Langfilm "Inventing the Future" exklusiv über Youtube und torrent-Netzwerke.

Straubs Film besteht aus einer einzigen (in zwei minimal voneinander unterschiedenen Durchgängen variierten) Einstellung und basiert auf dem gleichnamigen, 1945 veröffentlichten Buch von Georges Bernanos: Ein älterer Herr geht am Genfer See spazieren und rezitiert dabei, den Kopf zumeist von der Kamera abgewendet, aus diesem Werk eine Passage, die, in einem ziemlich unspezifischen Aufruf zur Revolution, die kapitalistischen und die kommunistischen Staaten gleichermaßen verdammt. Das Ganze endet mit einem Blick hinaus auf den See und dem Ausruf, die Rettung der französischen Nation sei nur durch die radikale Abkehr von dem zu erhoffen, was allen Systemen des Unrechts gemeinsam sei: dem Primat des Technischen.



Auch Medinas Zweitwerk beruht auf einem Buch. Vorlage ist "Inventing the Future: Postcapitalism and a World Without Work" von Nick Srnicek und Alex Williams, ein technoutopisches Manifest des linken Akzelerationismus, das von der Filmversion in eine ihrerseits akzelerationistische Montageästhetik überführt wird. Der Argumentation von Srnicek und Williams liegt die kaum von der Hand zu weisende Prämisse zugrunde, dass ein revolutionäres Subjekt im Sinne der marxistischen Orthodoxie derzeit nicht in Sicht sei. Anstatt vom kommenden Aufstand zu raunen, solle linkes Denken und Handeln sich deshalb lieber darauf konzentrieren, die emanzipativen Potentiale aktueller, insbesondere auch technologischer Entwicklungen zu erkennen und zu fördern. Medina präfiguriert die, so Gott will, vom Diktat der Marktkräfte erlösende Robotergesellschaft in einem audiovisuellen Informationsoverkill, der Denkbilder der Essayfilm-Tradition (Godard, Farocki) mit tagebuchartigen flash-frame-Passagen verknüpft.

Auf den ersten Blick sind die Rollen klar verteilt: Hier der technophobe grumpy old man, der sich, als ein-Mann-Opposition gegen die falsche Totalität des restlichen Gegenwartskinos, nach einem revolutionären Radikalismus sehnt, der am Ende vermutlich weniger mit einem empirischen politischen Anliegen zu tun hat als mit der nur noch mühsam - in der verbiesterten Sprödigkeit der filmischen Form - säkularisierten Sehnsucht nach einer letzten Transzendenzerfahrung; und da der mit allen Diskurswassern gewaschene Polithipster, ein digital native, der zwar von einem einigermaßen realistischen, erfahrungsgesättigten Blick auf die Gegenwart ausgeht, diesen aber letztlich doch an einen naiven, positivistischen Glaube an die Wunderwaffen künstliche Intelligenz und bedingungsloses Grundeinkommen verrät.

So ganz warm werde ich weder mit "La France contre les robots" noch mit "Inventing the Future", aber dennoch ist die Sache, glaube ich, in beiden Fällen etwas komplizierter - weil sich sowohl Straubs als auch Medinas Film bei näherer Betrachtung eindimensional polemischen beziehungsweise aktivistischen Lesarten doch widersetzen. Bei Straub fällt mir insbesondere die Insistenz auf die historische Datierung des Textes auf: Die Jahreszahl 1945 ist ihm eine eigene Einblendung wert. Das passt zum unbedingten Materialismus seines Kinos, das seit jeher Literatur nicht als Steinbruch für Erzählstoff, sondern als ein quasiphysisches Objekt begreift; es verweist aber auch auf die Shoah, den industrialisierten Massenmord, den der (bekehrte) Antifaschist Bernanos beim Verfassen seines Buchs durchaus vor Augen gehabt haben wird. Insofern schwingt in seinen Zeilen, und sei es lediglich vorbewusst, etwas von den Thesen der "Dialektik der Aufklärung" mit, nur eben ohne die Dialektik. Der Horror von Auschwitz übersetzt sich in eine unmittelbare, affektive Abscheu vor Technik, die gleichzeitig nicht nur mit den besiegten Deutschen, sondern mit der gesamten Ordnung der Welt identifiziert wird. Diesen Affekt heute noch einmal aufzugreifen, mag ein abenteuerliches Unterfangen sein, es ist aber doch nicht dasselbe wie reaktionäre Roboterfeindlichkeit.

In Medinas Film irritiert mich hingegen, ganz im Gegenteil, die weitgehende Abwesenheit von Geschichte. Srnicek und Williams argumentieren teilweise durchaus historisch (wenn auch zumindest die filmische Kondensation ihrer Thesen den Eindruck erweckt, dass sie im Zugriff auf die Vergangenheit etwas allzu selektiv vorgehen, etwa wenn sie den Neoliberalismus pauschal als das Resultat eines am Reißbrett entworfenen Masterplans konservativer Eliten darstellen); aber wirklich Fahrt nimmt Medinas Film stets dann auf, wenn er sich von historischen Bedingtheiten, oder überhaupt von der empirischen Seite des Akzelerationismus so weit wie nur möglich entfernt. Wie schon Medinas Erstlingsfilm "88:88" überzeugt auch "Inventing the Future" vor allem da, wo er Alltagsimpressionen unmittelbar, ohne Vermittlung von Geschichte und tagesaktuellem Diskurs, auf Fragmente philosophischen und mathematischen Denkens prallen lässt. Am Akzelerationismus scheint den Regisseur kaum mehr als das Konzept von Zukunft selbst zu interessieren, als einem der filmischen Fantasie frei verfügbaren Potential, das von Geschichte im engeren Sinne weitgehend abstrahiert. Ein besonders schönes, häufig wiederkehrendes Motiv zeigt eine Camouflagejacke, deren Muster sich per Montageabstration wieder in die Natur hinein entgrenzt, von der es einst inspiriert worden war.

Lukas Foerster

La France contre les robots - Schweiz 2020 - Regie: Jean-Marie Straub - Darsteller: Christophe Clavert - Laufzeit: 10 Minuten. "La France contre le robots" bei Kino Slang.

Inventing the Future - Kanada 2020 - Regie: Isiah Medina - Darsteller / Mitwirkende: Dahyeon Hwang, Erik J. Berg, Theresa Wang, Will Stronge - Laufzeit: 98 Minuten. "Inventing the Future" auf Youtube.