Im Kino

Milieuwechsel

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk, Jochen Werner
07.05.2020. 17 Filme umfasst Ilya Krzhanovskys Mammutprojekt "Dau", einige kann man jetzt online sehen: Besseres und aufregenderes Kino gibt es derzeit nirgendwo. In Maurice Pialats "Der Loulou" von 1980 leben Isabelle Huppert und Gérard Depardieu ganz im Hier und Jetzt: Man trifft sich, schlägt sich, dann versucht man's zu regeln. Wollen wir vielleicht etwas trinken?
Szene aus "DAU - Nora Mother"

Nach bald zwei Monaten Corona scheint die erste Chatrian-Berlinale schon eine Ewigkeit her, und auch die Kontroversen um Ilya Krzhanovskys monumentales "DAU"-Projekt wurden längst von der Schweigespirale eingeholt. Insbesondere die Premiere des Wettbewerbsbeitrags "DAU. Natasha" geriet infolge von #metoo-Vorwürfen zum heiß umstrittenen Festivalskandal, wobei der Film selbst von der internationalen Filmkritik begeistert aufgenommen und in der deutschen Presse weitestgehend verrissen wurde. Als besserer Einstiegspunkt in das nach derzeitigem Stand der Ankündigungen insgesamt 17 Filme umfassende "DAU"-Projekt bot sich der sechsstündige, im Berlinale Special nicht ganz so prominent platzierte "DAU. Degeneration" an, der in einem epischen Bogen zumindest ein klein wenig Überblick über die Themen von "DAU" verschaffte.

Vor einigen Wochen nun ist, ohne große Ankündigungen und ohne dass bis dato allzu viel Kenntnis davon genommen wurde, die Streaming-Plattform "DAU Cinema" online gegangen. In einer Testphase waren dort zunächst die beiden schon auf der Berlinale gezeigten Filme zu sehen - "DAU. Natasha" wurde dann, zumindest für deutsche Zuschauer*innen, wieder offline genommen, was auf einen zukünftigen deutschen Kinostart hinweisen könnte oder auch nicht. Im Abstand von jeweils wenigen Tagen sind jedoch bis heute drei weitere Filme freigeschaltet worden, die ihre Weltpremieren nun online feiern (müssen) - nach einem Vorlauf des Gesamtprojektes, der annähernd so lang ist wie Dieter Kosslicks gesamte Berlinale-Regentschaft, mag das ein wenig antiklimaktisch wirken, aber nach der Parade von Pleiten, Pech und Pannen, als die sich die Versuche herausstellten, "DAU" in groß angelegten Kunstperformances im öffentlichen Raum zu präsentieren, ist es wohl gut, dass das Material jetzt überhaupt endlich sichtbar wird. Qualitativ spricht es ohnehin für sich: Besseres und aufregenderes Kino als "DAU" gibt es derzeit nicht zu sehen.

Als erster neuer Film im DAU Cinema feierte "DAU. Nora Mother" Onlinepremiere. Wie schon "DAU. Natasha" entfaltet sich dieser weitgehend als Zweipersonenstück, als intimes, so komplexes wie schmerzhaftes Porträt einer Beziehung zweier Frauen. Nora ist die Ehefrau des titelgebenden "Dau", des Physikers Lew Landau, der in den ersten beiden gezeigten Filmen nur in seiner Abwesenheit beziehungsweise Sprachlosigkeit als leere Mitte, als Rätsel im Zentrum dieses wuchernden Großprojekts präsent war. In "Nora Mother" tritt er erstmals als Figur in Erscheinung, aber doch nur am Rande und ungreifbar, während die Frauen untereinander unter anderem eben diese Ungreifbarkeit verhandeln.

Nora hat ihre Mutter eingeladen, sie im "Institut" zu besuchen, wo sie mit Dau in einer luxuriösen Wohnung ein lieb- und sprachloses Familienleben führt. Im Laufe des Besuchs wird gesprochen, getrunken und noch mehr gesprochen, und eine Kindheitshölle tut sich auf, der Nora bis heute nicht entflohen ist. Wo die beiden Berlinalefilme zum Ende hin in körperliche Gewalt und Exzess eskalierten, bleibt die Gewalt hier im gesprochenen Wort, das aber keinesfalls weniger brutale Wirkung entfaltet. Scheißstück. Schlampe. Schlange. Mistvieh. Vier Worte, die wie Faustschläge lange nachwirken in einem Film, der mehr mit dem Familienhorror eines Ingmar Bergman gemein hat als mit den Folter- und Zerstörungsszenarien am Ende von "Natasha" oder "Degeneration".

Szene aus "DAU - Three Days"


Noch stiller, aber emotional nicht unbedingt weniger niederschmetternd ist "DAU. Three Days", in dem Dau selbst nun vom Rand ins Zentrum tritt und erstmals wirklich zum Protagonisten wird. Wie "Nora Mother" lässt auch "Three Days" seinen zentralen Konflikt durch den Eintritt einer Außenstehenden erkennbar werden: Dau lädt, in Abwesenheit seiner Frau, seine Jugendliebe Maria zu einem Besuch im Institut ein. Die beiden feiern, reden, trinken - Alkohol ist generell das entscheidende Instrument zur Hervorbringung des Unausgesprochenen in "DAU"; man hört, dass es im Produktionsprozess nicht unbedingt anders gewesen sei. Maria ist für Dau die Erinnerung an ein anderes mögliches Leben, eine unerfüllte Liebe, die nie ganz erkaltet ist und nun kurzzeitig wieder aufflammt. Allerdings nur eine Nacht lang, steht doch am nächsten Morgen überraschend Nora, die ihre Reise frühzeitig abbrach, in der Tür, und die Situation kippt in ein schreckliches Spiel aus gegenseitigen Verletzungen, Schweigen und leeren Ritualen.

"Nora Mother" und "Three Days" sollte man unbedingt zusammen schauen, da sich beide Filme gegenseitig ergänzen und vertiefen - zwei weitere Steine im Mosaik von "DAU", die jeweils für sich (wie auch schon "DAU. Natasha") als intime, komplexe Beziehungsstudien funktionieren, die aber darüber hinaus ihre jeweiligen Rollen in einem nach vier Filmen noch längst nicht überschaubaren großen Ganzen spielen.

Szene aus "DAU - Empire"


Eine Schlüsselfunktion in der Konstruktion dieses Ganzen scheint dem achteinhalbstündigen Film "DAU. The Empire" zuzukommen, der über einen Zeitraum von anderthalb Dekaden philosophische, literarische und politische Gespräche zwischen Dau und dem Institutsleiter Anatoli Krupitsa, gespielt vom russischen Theatermacher Anatoli Vassiliev, protokolliert. In vier "Novels" aufgeteilt, macht sich "The Empire" eine literarische Form zueigen, und man darf gespannt sein, welchen Bogen Krzhanovsky hier spannen wird. Als "Online-Preview" war vor einigen Tagen und nur wenige Stunden lang das gut zweistündige erste Kapitel dieses "Romans", "The Return of the Prodigal Son", zu sehen, dessen Themen - vom Stalinismus und der Erschaffung eines Staates bis zu Puschkin, Faust und Don Juan - allerdings, so aus dem Kontext gerissen, noch etwas in der Luft zu hängen schienen. In einer, durch die im gesamten Material stets vorenthaltenen chronologischen Verortungen, einigermaßen enigmatischen Sequenz im "Park Kultury", für die der Film den Schauplatz des Institut erstmals verlässt, findet "DAU. The Empire, Novel One: The Return of the Prodigal Son" allerdings dann auch wiederum die bislang stärksten Bilder des gesamten Zyklus.

Wer noch nicht viel weiß und noch nichts gesehen hat, dem stehen derzeit zwei verschiedene Wege des Einstiegs in die Welt von "DAU" offen. Wer einen größeren, politischen Bogen bevorzugt, möge sich die sechs Stunden Zeit für "DAU. Degeneration" nehmen. Und wer seinen Weg in das "Institut" über die kleineren, intimeren Geschichten suchen will, der wird mit "Nora Mother" und "Three Days" zwei Filme finden, die einander eng zugehörig sind, die jedoch auch ohne größeren Kontext als erschütternde, komplexe Psychogramme einer Ehe funktionieren. Wie auch immer man einsteigt, dass man es tut, sei dringend empfohlen.

Jochen Werner

Dau - Russland 2020 - Regie: Ilya Krzhanovsky u.a. - Laufzeit: bisher ca 686 Minuten. "Dau Cinema"-Website

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Isabelle Huppert und Gerard Depardieu in "Der Loulou"


Da ist eine Disco mit bunten Lichtern und mitreißender Musik. Ce-ce-celina, lala-la-lala, ham Se was dagegen, wenn ich Ihre Frau mal zum Tanz auffordere, lallt Loulou (Gérard Depardieu) einem Mann entgegen, denn er hat sich heute, comme d'habitude, volllaufen lassen. Wir sehen ihn mit Nelly (Isabelle Huppert) tanzen, wie er sie betatscht, zu breit für einen Augenkontakt. Dem feuchten Knutschen Loulous entzieht sich Nelly unwillig, seine Wucht ist ihr recht, aber auch ein bisschen gleich. Sie weiß: Ihr Freund André (Guy Marchand) macht ihr gleich eine Szene. Der Grund, warum Nelly diese Nacht mit dem schwer besoffenen Proleten Loulou verbringen wird, der sich nicht sonderlich um sie bemüht, ist schwer zu benennen. Trotz, Neugierde, Langeweile, spontane Laune? Nein, einen Grund dafür braucht sie nicht. Beim Sex geht das Bett kaputt und es wird viel gelacht. Am Ende dieser Nacht verlässt die junge kultivierte Frau ihren gut situierten André für einen mittellosen Müßiggänger.

"Stimmt es, dass du im Hotel wohnst?" fragt Loulous Mutter ihren Sohn. - "Ja". - "Und wer bezahlt das?" - "Na sie". - "Ich finde, du übertreibst etwas". Nelly aber findet das in Ordnung. In Bistros und Kneipen, wo die beiden sich fortan viel aufhalten, lernt sie seine Freunde kennen und ist glücklich. André will Nelly zurück. Er bemüht sich um sie, zärtlich und hangreiflich im Wechsel. In seiner bourgeoisen Traurigkeit trägt André einen Morgenmantel aus dunkelblauem Samt.

Als "Der Loulou" - Regie: Maurice Pialat, Drehbuch: Pialat und Arlette Langmann - 1981 in die deutschen Kinos kommt, kann er die heimischen Kritiker eher mäßig begeistern. Ein Spiegel-Artikel konstatiert eine "wenig originelle Geschichte eines in bürgerlicher Sicherheit frustrierten Mädchens". Im Filmdienst bemängelt man an dem Film "die weitgehend unkritische Zeichnung der Figuren und seine unentschiedene Haltung". Sie mussten's damals aber echt gut gehabt haben! Von heute aus gesehen kommt mir der Film sehr eigenwillig vor und in seiner Haltung, welcher er kategorisch folgt - doch mehr als entschieden.

Beim Sex-Appeal und der naturbelassenen Zärtlichkeit Depardieus braucht man sich nicht lang aufzuhalten. In diesem dynamischen Film, in dem ausgesprochen viel um die Häuser gezogen, ausgegangen, gebummelt und gebumst, einander besucht und geprügelt wird, ist Nelly die Figur, die die größte Bewegung vollzieht. Sie macht etwas höchst Unvernünftiges, nämlich - wenn auch vermutlich nicht für ihr Leben lang - einen Milieuwechsel. Wichtig ist vor allem, wie sie es macht. Mit Gleichmut und Entschlossenheit, mit frischem (bei all den Zigaretten!) Teint und einer Undurchsichtigkeit, die die Schauspielerin Huppert ihren Figuren schon damals schenkte.

Loulou zu Nelly: "Ein Freund kommt gerade aus dem Knast. Er kann doch eine Weile bei uns wohnen, oder?" - "Aber sicher kann er das". Pas de problème! Und nein, Nelly ist nicht naiv! Sie nimmt Loulou, der partout nicht zu Vernunft kommen will, nimmt seine Clique lediglich nur, wie sie eben sind. Wie hier jede Figur alle anderen zum Kotzen findet und sie doch restlos akzeptiert. Niemand soll gerade gebogen werden.



Toll ist die daraus erwachsende Dynamik. Es sind nouvelle-vague'sche Potenzialitäten, aber viel triebhafter und konkreter, trivialer, ohne Überbau, mit natürlichen Mängeln durchwachsen. Fans von Klaus Lemke würden "Der Loulou" mögen. Nelly ist Lemkes Sylvie, nur nicht so blendend. Kein Frühstück mit Champagner ist sie, sondern eben ein petit dejeuner. Und keine Ménage-à-trois ist es, die sich vor unseren Augen abspielt, auch keine Dreiecksgeschichte gewöhnlicher Art. Die Interaktionen sind in verschiedene Richtungen möglich, bleiben dehnbar und wechselhaft. Die Kontrollverteilung ist fluide. Es geht heftig zu. Die Kamera (Pierre-William Glenn, Jacques Loiseleux) bleibt gerne dran und äußerst bewegt. Man trifft sich, schlägt sich, dann versucht man's zu regeln. Wollen wir vielleicht etwas trinken? Und die Gemeinheiten, die man einander zuwirft, lassen den alles verbindenden Faden nie reißen.

Auch André, ein manischer Charakter, bleibt verfügbar. Für Nelly, für Loulou. In seiner weitläufigen Wohnung ist er alleine wie ein im Zoo eingesperrtes Tier. André zu Nelly: "Na hör mal, du musst dir deinen Macker erziehen. Sorg dafür, dass er Mozart hört, während du ihm… (eine obszöne Geste)". André weiter: "Seit du weg bist, habe ich die Bettwäsche nicht gewechselt". - "Das wundert mich, da du dafür ja einen Tick hast".

Bei einem geselligen Landausflug passiert etwas, was sich in Folge als Wendepunkt der Geschichte erweist - so beiläufig gewendet sieht man Storys im Kino selten. Die Erfahrung des Hier und Jetzt ist dem Film wichtiger als irgendein Zukunftsentwurf. No Future? "Der Loulou" erzählt Momentaufnahmen und von Menschen, was nicht heißen soll, dass ihm Plot und Entwicklung unwichtig sind. Plot und Entwicklung sind da um zu zeigen, dass alles im Leben Vor- und Nachteile hat. Vor- und Nachteile, diese kleine Wahrheit trifft mich mitten ins Herz. Dass Maurice Pialat und Arlette Langmann ihre Figuren nicht kritisch beleuchten wollen, ist dabei ja eigentlich der Punkt. Ce-ce-celina, lala-la-lala.

Olga Baruk

Der Loulou - Frankreich 1980 - OT: Loulou - Regie: Maurice Pialat - Darsteller: Isabelle Huppert, Gérard Depardieu, Guy Marchant, Humbert Balsan - Laufzeit: 110 Minuten. "Der Loulou" bei filmfriend und Amazon Prime