Im Kino

Eine performative Realität

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
11.06.2020. Charles Burnetts "My Brother´s Wedding" von 1985 erzählt von den vielstimmigen, von Widersprüchen durchzogenen Lebensentwürfen Afroamerikaner im Stadtteil Watts, Los Angeles. Tyler Spindels "The Wrong Missy" ist eine Sandler-Komödie über einen Dating-Alptraum. Der Mangel an Stil ist hier Konzept.


Der Stadtteil Watts in South Central Los Angeles erfährt seine nachhaltigste Eintragung ins kulturelle Bewusstsein der Vereinigten Staaten 1965, als, ausgelöst durch die Verhaftung eines schwarzen Jugendlichen durch die California Highway Patrol, ein Aufstand gegen rassistische Praktiken der Polizei, wie auch gegen die Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur des vorwiegend schwarzen Viertels ausbricht. Watts war ab den frühen 1940er Jahren ein Ziel der Second Great Migration, des Zugs von Millionen schwarzer Amerikaner*innen aus dem Süden in die Industriestädte des Nordens und Westens. Unter den Familien, die es dabei (in seinem Fall: aus Mississippi) nach Watts verschlägt, ist 1947 die des damals dreijährigen Charles Burnett.

Das Viertel seiner Kindheit und Jugend bildet einen wichtigen Bezugspunkt seines filmischen Werks, das sich zwischen den Bezügen auf die sozialen Verwerfungen der Gegenwart und den Resonanzen schwarzer Südstaatenkultur bewegt. Es ist ein Werk, das zumindest aus Rezeptionssicht weit verzweigt und verstreut wirkt und neben zahlreichen Kurzfilmen und unabhängig produzierten Filmen auch einige Arbeiten im oder am Rande des Hollywood-Systems umfasst. "The Glass Shield" (1994) etwa, ein Thriller für Miramax um einen jungen schwarzen Polizisten, dessen Idealismus an korrupter Staatsgewalt in einem Department abschleift, oder der Disney-Fernsehfilm "Nightjohn" (1996) - über einen entflohenen Sklaven, der anderen Schreiben und Lesen beibringt. Immer wieder entstehen auch dokumentarische und hybride Arbeiten, wie "Nat Turner: A Troublesome Property" (2003), der widersprüchliche Lesarten des historischen Aufstandsanführers befragt und dramatisiert, für PBS.



Burnett zählt zu einem Zusammenhang von Filmemacher*innen, die als L.A. Rebellion beschrieben wird. Die Gruppe, zu deren bekannteste Vertreter*innen neben Burnett Julie Dash und Haile Gerima zählen, zeigt sich im Rückblick, der in den letzten 10 Jahren in Filmforschungen und Retrospektiven genauer fokussiert wird als weit verzweigter Zusammenhang vor allem schwarzer Filmemacher*innen rund um die UCLA School of Theater, Film and Television. Die L.A. Rebellion sucht im Nachgang der Civil-Rights-Bewegung, in der Abgrenzung zur dominierenden Bilderproduktion und in Auseinandersetzungen mit den Dritten Kinos der Dekolonisation nach neuen Wegen, Bilder zu schaffen, die die komplexen Realitäten, die sie umgeben, nicht nur widerspiegeln, sondern auch aufschlüsseln. Burnetts zweiter Langfilm "My Brother's Wedding", der nach komplizierter Produktionsgeschichte in einer vorläufigen Fassung 1983 Premiere hat (und als Koproduktion des Kleinen Fernsehspiels im deutschen Fernsehen läuft), 2007 schließlich von Burnett fertiggestellt wurde, spielt wie sein Debüt "Killer of Sheep" (1978) in Watts.

Wo "Killer of Sheep", dokumentarisch anmutend aber präzise ersonnen, einen nüchternen, sensiblen Verismus pflegt, ist "My Brother's Wedding" stärker um ein narratives Moment und einen klassischen Konflikt herum gebaut. Nach dem für sich stehenden, aber ein langes Echo auslösenden raumlosen Prologbild eines alten Mannes, der Blues singt und Mundharmonika spielt, heftet sich der Film an die Fersen von Pierce Mundy (Everett Silas, wie die meisten der Protagonist*innen von Burnetts frühen Film ohne Schauspielerfahrung), einem Mann, der nicht mehr jung ist, aber auch nicht alt, in dessen Körper und Bewegungen Energie steckt, die Erfahrung bezeugt. Er arbeitet in der Textilreinigung seiner Eltern, primär aus Mangel an andere Optionen und Ideen. Sein Bruder Wendell (Monte Easter) ist ein Anwalt, der kurz vor der Heirat steht, sein Habitus von Aufstiegswillen gezeichnet. Pierce lässt kaum eine Gelegenheit aus, um insbesondere den Distinktionswille seiner zukünftigen Schwägerin und deren Familien zu brüskieren. Wieder anders durch die Welt bewegt sich sein Kindheitsfreund Soldier, der nach einem Gefängsnisaufenthalt wieder im Viertel aufschlägt, in der Hoffnung es diesmal anders zu machen. Die unterschiedlichen Logiken familiärer Bande und freundschaftlicher Loyalität spitzen sich zu einem Konflikt zu, in dem viele Kräfte in unterschiedliche Richtungen an Pierce ziehen, zuviel, als dass sie sich auflösen ließen, ohne dass etwas zu Bruch geht.



In Burnetts Film entwickelt die dramatische Grundkonstellation jedoch nicht den Sog unausweichlichen Schicksals, das sich die Eigenlogik der Figuren funktional unterwirft; keine Welt als Widerspruch, sondern eine Welt, die vielstimmig und von Widersprüchen durchzogen ist. An Eigensinn ist da viel: das kindische Gerangel zwischen Pierce und seinem Vater - ein alter Mann, der mit seiner Frau die Rolle einer Art Neighbourhoodältesten inne zu haben scheint, und dem Pierce beim Baden hilft. Ein Kunde in der Reinigung, der seine zerrissene Sonntagshose abliefert, worauf Pierces Mutter ihn anhält, das unrettbare Ding für verloren zu erklären und ihm bei der Abholung eine von den nie abgeholten gibt. Ein Teenager, der mit Pierce flirtet und erfolglos versucht, ihn als Prom Date einzuspannen. Häuser, die Heime sind, und solche, die es mal waren, ein flüchtiger Blick auf den Los Angeles River, als mülligem Kanal. Und immer wieder eine zärtliche, brüchige Komik.

Burnetts Blick ist ein wissender, einer, der nicht nur wahrnimmt, sondern versteht, Verständnis und Wissen zu teilen sucht, ein Blick, der die Bruchstücke von Welt zusammensetzen kann, sodass zwar nichts Heiles, aber etwas Ganzes entsteht, ein Ausschnitt der Welt, der in einem Netz von Beziehungen Verhältnisse sichtbar machen kann, in denen die Dinge, die geschehen, Gründe haben, ohne die Idee von Möglichkeiten zu tilgen.

Sebastian Markt

My Brother´s Wedding - USA 1983 - Regie: Charles Burnett - Darsteller: Everett Silas, Jessie Holmes, Gaye Shannon-Burnett, Robbie Bell, Dennis Kemper - Laufzeit: 76 Minuten.
"My Brother's Wedding" derzeit kostenlos zugänglich im Criterion Channel, wie auch andere ausgewählte Werke schwarzer amerikanischer Filmemacher*innen, darunter Julie Dashs "Daughters of the Dust" (hier)

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Lauren Lapkus ist The Wrong Missy. Wer ist diese Wrong Missy? Missy steht für Melissa, das ist aber auch schon alles, was wir sicher über sie wissen. Eventuell ist Missy, lernen wir im Laufe des Films, eine Amateur-Handleserin, eine Amateur-Hypnotistin, eine Amateur-Lebensberaterin. Jedenfalls behauptet sie das. Letzten Endes jedoch sind alle ihre Fähigkeiten, ist überhaupt alles, was man über sie erfährt, reduzierbar auf ihre große Klappe und ihre absolute Schamlosigkeit. Die Wrong Missy hat keine biografische, sondern nur eine performative Realität. Außerdem hat sie ein ausgesprochen rundes, äußerst eigenwilliges Gesicht. Selbst im entspannten Normalzustand scheint es Grimassen zu schneiden.

Wobei wir vor allem allem ihren erstaunlich breiten Mund selten im entspannten Zustand zu sehen bekommen. Die Wrong Missy redet viel und laut, außerdem ist sie impulsiv, jede Idee muss gleich in die Tat umgesetzt werden. Sie kennt keine Hemmungen, schon gar keine sexuellen. Sie ist eine, die wirklich gleich bei der allerersten Gelegenheit Hand anlegt. Daran, wie exzessiv der Film die entsprechende Szene auskostet, verlängert und in späteren, ähnlich gelagerten Pointen nachhallen lässt, zeigt sich: "The Wrong Missy", der Film, ist genauso wie The Wrong Missy, die Figur. Genauso unverschämt, genauso vulgär, genauso maßlos, genauso hedonistisch.

Aber noch einmal einen Schritt zurück: Woher kommt die Wrong Missy? Zunächst vermutlich aus einer Dating-App. Ein Zufallsmatch, ein Algorithmus, der mal so richtig daneben gegriffen hat. Einen schrecklichen Abend verbringt Tim Morris (David Spade) mit der Wrong Missy. Schon bevor er sie überhaupt zu Gesicht bekommt, bricht sie im Restaurant einen Streit mit einem anderen Paar vom Zaum. Beim Abendessen ist sie dann laut und zudringlich, und wenn ihr Zopf sich ins Rotweinglas verirrt, dann saugt sie die Flüssigkeit kurzerhand aus ihren Haaren. Selbst Tims eh schon peinlichen Fluchtversuch über die Herrentoilette weiß sie in eine noch größere Katastrophe zu verwandeln.

Sehr gerne hätte er es dabei bewenden lassen. Eine Verwechslung - wo eine Wrong Missy, da auch eine Right Missy, aber für die brauchen wir uns nicht allzu sehr zu interessieren; der Film tut es auch nicht - sorgt dafür, dass Tim wenige Wochen später die Wrong Missy als seine Begleitung zu einem Corporate Retreat in einem hawaiianischen Luxushotel einlädt. Auf dem Flug dorthin kommt es zur oben angedeuteten Handjobeskalation, und im Ressort angekommen blüht Missy, die selbsterklärte "people person" erst so richtig auf. Zwischen all den Bullshit Artists zeitgenössischer "Work Hard Play Hard"-Unternehmenskultur fühlt sie sich pudelwohl: als prima inter pares. Gelegentlich wird dabei der Blick frei auf die dezidiert finstere Grundierung einer solchen Laissez-faire-Attitüde: Nicht so schnell vergessen werde ich das gierig-manische Grinsen der Wrong Missy während eines Tauchausflugs in Erwartung einer Haiattacke. (Außerdem ist die Wrong Missy, ganz unter den Tisch fallen lassen sollte man das nicht, faktisch eine Vergewaltigerin.)



Hinter "The Wrong Missy" steckt Adam Sandlers Produktionsfirma Happy Madison, die seit einigen Jahren fast exklusiv für Netflix produziert. Der Star selbst ist diesmal vor der Kamera abwesend, auch sein prominentester Kumpel Kevin James macht sich rar. Neben der alles dominierenden Lapkus tummelt sich im Hawaiianischen Ressort das Happy-Madison-B-Team: Spade, Nick Swardson, ein ziemlich derangierter Rob Schneider und auch Sandlers Ehefrau Jackie. Letztere spielt eine ehrgeizige, bissige corporate lady (Spitzname: Barracuda), die den Männern den Platz an der betriebsinternen Sonne streitig zu machen droht, und die deswegen aber auch wirklich jede Demütigung redlich verdient hat. In der Theorie ein ziemlich unerträgliches Klischee; aber auch in diesem Fall siegt die lustbetonte, energiegeladene Performance mühelos über die Biografiefiktion. Jackie Sandler würde ich sehr gerne einmal in einer Hauptrolle sehen. Spade wiederum ist solange adäquat, wie er sich darauf beschränkt, der erste, peinlich berührte Zuschauer der Lapkus-Show zu sein. Auch als Mitläufer im grenzdebilen Bro-Kapitalismus macht er eine ordentliche Figur, weil man die Widerstände nachfühlen kann, die er beim Ranschmeißen überwinden muss. Wenn das Drehbuch gegen Ende darauf besteht, ihn einen genreüblichen Lernprozess durchlaufen zu lassen, dann lässt der Film doch etwas nach. Ohne freilich je seine grundsympathische Wurstigkeit zu verlieren.

"The Wrong Missy" schaut bei all dem kein Stück besser aus als das übliche Reality TV. Doch der Mangel an Stil ist kein Versehen, sondern Konzept. Low-Brow-Komödien haben vielleicht auch deshalb traditionell einen schweren Stand bei der Kritik, weil sie mit der Autorentheorie nur bedingt kompatibel sind. Klar, Lubitsch war ein Meister, aber die Laurel-and-Hardy- oder Marx-Brothers-Meisterwerke wurden oft von mäßig ambitionierten Komödienhandwerkern gedreht. Filme wie "The Wrong Missy" verlangen von der Regie nicht mehr als ein Minimum an handwerklicher Kompetenz. Solange die Szenerie gut ausgeleuchtet ist und die einzelnen Einstellungen einigermaßen flüssig aufeinander folgen, ist die Sache in Butter. Alles was darüber hinausgeht, ist eventuell sogar schädlich, weil es vom Entscheidenden ablenkt: von den Performances - von einzelnen, herausragenden komödiantischen Auftritten wie dem von Lapkus, und vielleicht noch mehr vom wuseligen, pluralistischen Durcheinander eines fröhlich verspulten Ensembles. Letzten Endes kommt "The Wrong Missy" dem Ideal vom Kino als einer demokratischen Kunst verdammt nah: als die realisierte Utopie einer Welt, in der die schlechten Witze genauso viel Wert sind wie die guten.

Lukas Foerster

The Wrong Missy - USA 2020 - Regie: Tyler Spindel - Darsteller: David Spade, Lauren Lapkus, Nick Swardson, Geoff Pierson, Jackie Sandler, Sarah Chalke, Rob Schneider - Laufzeit: 90 Minuten.
"The Wrong Missy" bei netflix