Im Kino

Angriff der Zukunft

Die Filmkolumne. Von Janis El-Bira, Thomas Groh
26.08.2020. Christopher Nolan pflegt in "Tenet" nicht nur eine verdrehte Zeitlogik, sondern auch einen Furor gegen die schönen und edlen Dinge des Lebens: Vorbei die Kultur, am Boden die Kunst. Dagegen ist Diao Yinans "Der See der wilden Gänse" über einen Berufskriminellen eher eine nüchterne Bewegungsstudie à la Bresson, mit Realitätssplittern aus dem chinesischen Provinzalltag.


"Sator arepo tenet opera rotas"

lateinisches Palindrom

"Die Zeit ist kaputt."
Hans Albers als Baron von Münchhausen

Ein Platz in der Filmgeschichte ist Christopher Nolans "Tenet" schon jetzt sicher: Wenn dieses verfluchte Virus sich eines Tages endlich mal erledigt haben sollte, wird "Tenet" für immer jener Film gewesen sein, von dem sich die Branche die große Rettung erhofft hatte. Zwar dürfen die Kinos seit einigen Wochen wieder Filme zeigen, doch angesichts eines für weite Teile des Publikums bislang eher mäßigen Angebots findet dieses seinen Weg kaum zurück in die wegen der neuen Hygieneregelungen ohnehin nur spärlich füllbaren Säle. "Tenet" ist der große Tentpole-Hoffnungsträger, der erste und fürs Erste wohl einzige Blockbuster dieser Saison, der nicht verunsichert bis zum Sanktnimmerleinstag verschoben oder gleich, wie Disneys "Mulan", zu horrenden Preisen in die Streamingportale verschoben wird - dies wohl auch deshalb, weil Christopher Nolan, einer der wenigen Auteurs im Blockbustergeschäft, in der Debatte um den Film ein Wörtchen mitgeredet hat. Warner lässt es nun darauf ankommen und startet den Film in Europa sogar etwas früher als in den USA, da diesseits des Atlantiks wieder bessere Bedingungen herrschen als in den coronageplagten Vereinigten Staaten. Eine solche Umkehrung hätte es vor Corona nicht gegeben - zu invertierten Zeitachsen später mehr.

Nun will es der Zufall, dass der Film an coronabedingten Irritationen nicht arm ist (oder, um in der verdrehten Zeitlogik des Films zu bleiben: Vielleicht wird es gerade nicht der Zufall, sondern knallharte Absicht gewesen sein, die das in ferner Zukunft lanciert hatte). Schon gleich der Beginn, ein wuchtig-mitreißendes Setpiece von einigen Kino-Gnaden - buchstäblich große Oper, in Osteuropa, brutalistische Architektur. Die Ränge sind gefüllt, die Orchester stimmen ihre Instrumente, der Dirigent hebt den Stab - als ein Schuss mit bassgesättigter Multiplex-Wucht die flirrende Erwartung jäh zerreißt. Schwer bewaffnete Terroristen übernehmen das Gebäude, Panik, umgestoßene Instrumente, von den Terroristen brutal zertreten und zerstampft.

Im Nachhinein (oder, wie gesagt, vielleicht ja auch im noch kommenden Vorhinein einer aus ihrer Sicht längst schon vergangenen Zukunft) hat man plötzlich eine manifest-furiose Allegorie vor Augen: Man blickt vom deutlich entleerten Kinosaal auf das Vergangenheitsbild eines anderen, prall gefüllten Saals, als der Terror jäh Ende macht mit allem, was man zuvor als gegeben hingenommen hatte - vorbei die Kultur, am Boden die Kunst. Diesseits der Zeitachsenzäsur Corona ist ein naiver, unschuldiger Blick auf diese Bilder, die für viele die Rückkehr zum Kino darstellen, nicht mehr möglich. Überhaupt zieht sich ein bemerkenswerter Furor gegen die schönen und edlen Dinge des Lebens durch diesen Film: Mal geht es um adäquate Kleidung für Millionäre, mal wird in einer Edelküche gediegener Käse respektlos behandelt oder unter Hochsicherheitsbedingungen eingelagerte Kunst, deren Schutz vor Menschenleben geht, wird zur Kulisse eines buchstäblichen Dreh- und Angelmoment-Setpieces, in dem auf Kunst nicht einmal am Rande Rücksicht genommen wird. Nolan, der sich stets als distinguierter britischer Gentleman in Szene setzt und auch beim Dreh nie den Anzug auszieht, lässt hier seinen inneren Proletarier übernehmen.

Aber zurück auf Anfang, worum wird es gegangen haben werden? Der Terroranschlag auf die Oper war vieles - verdeckte Operation, vorgeblicher Terror, versuchter Putsch, geglückte Entführung oder auch nicht, jedenfalls eine Sache, an der viele Parteien beteiligt waren. Darunter ein namenlos bleibender US-Agent (John David Washington) unter falscher Flagge, der im Nachhinein für tot erklärt wird. Da auch er nur zweimal lebt, wird er im Folgenden mit einer haarigen Mission beauftragt: Verhindere den Dritten Weltkrieg. Wie? Selber rauskriegen. Eine wichtige Rolle spielt ein russischer Oligarch namens Andrei Sator (Kenneth Branagh), dessen Neigung zu erlesen brutaler Gewalt ihn Böses im Schilde führen lässt. Nebenbei ist das Wort "Sator" ein kulturhistorischer Hinweis auf Nolans still mitlaufende Referenzlage.

So weit, so James Bond (ein Franchise, dem sich Nolan seit Jahren ohne Erfolg als Regisseur empfiehlt). Doch Nolan hat mal wieder einen Clou eingebaut: Unser Agent hat beim Angriff auf die Oper paradoxe Ballistik in konkreter Anwendung beobachten können - bereits in Wände eingeschlagene Kugeln, die aus diesen zurück in Gewehrläufe fliegen und unversehrte Substanz zurücklassen. Das Palindrom-Wort "Tenet" gibt einen weiteren Hinweis und öffnet zudem die Tür zu den Laboren einer Wissenschaftlerin (Clémence Poésy), die in einer langen Passage das Szenario erklärt (kein Spoiler, die Szene ist im Trailer): Objekte aus der Zukunft werden "invertiert" und bewegen sich rückwärts im Zeitfluss. Fällt eine invertierte Gewehrkugel wider alle Schwerkraft vom Boden in die Hand des Agenten? Oder lässt der Agent die Kugel aus ihrer Perspektive einfach nur fallen? Nolan illustriert das mit einer vor- und rückspulenden Videoaufnahme - die Realität als Filmstreifen, dem es gleich ist, in welche Richtung man ihn abspielt. Die Rückkehr des ältesten Filmtricks der Geschichte im Blockbustergewand, das konnte schon der Lumière-Film "Démolition d'un mur" von 1896.



Keine technologische Grille verbirgt sich hinter dieser Inversion, sondern nichts Geringeres als der Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit: Andrei Sator, erfahren wir nach einigem Hin und Her, steht in engem Kontakt mit der Zukunft (schließlich ist jede Nachricht, jede Mail eine Nachricht an die Zukunft), die ihn praktischerweise instantan beliefern kann: Was er an Bedarf hat, muss in der Zukunft nur invertiert und sicher genug verbuddelt werden, um es in der Gegenwart gegen diese in Anschlag bringen zu können.

Dass Nolan einen Narren daran gefressen hat, lineare Zeitkonzepte in der Filmform zu brechen und neu zu arrangieren, ist längst cinephile Folklore. Dass er die Ausgeklügeltheit seiner Filme den Figuren überstülpe und diese zum Spielball seiner Konzepte degradiere, lautet ein gängiger Vorwurf. Technokratisch seien seine Filme, emotional kalt und zudem noch von einer freudlosen Humorlosigkeit und selbstergriffenen Bedeutungshuberei. Mag alles richtig sein - dennoch habe ich selten den Eindruck, dass Nolan lediglich sein Ego pinselt: Er dreht seine Filme aus einem aufrichtigen Interesse so, wie er es für richtig hält. In der Blockbusterwelt ist er zweifelsfrei einer der interessantesten und originellsten Autorenfilmer.

Den intellektuellen Höhe- und Schlusspunkt seiner Zeit-Akrobatik dürfte Nolan allerdings 2014 mit seinem Hard-Science-Fiction-Film "Interstellar" erreicht haben, für den er mit Raumzeit, Schwerkraft, Relativitätstheorie und nicht zuletzt dem Faszinosum Schwarzer Löcher ein dankbares Gerüst für seine Interessenlage gefunden hat. "Tenet" ist demgegenüber fast schon naive Science-Fiction aus Pulpzeiten: Technologie als (buchstäbliche) "black box", die eine bestimmte Sache macht, die dem Erzählvorgang ein Konzept zur Verfügung stellt, um allerlei tolle Sachen damit auf die Leinwand zu hauen. Was nicht heißen soll, dass die grundlegende Idee nicht originell sei: Dass physisch miteinander wechselwirkende Menschen und Objekte sich gleichzeitig in zueinander diametral gegenläufigen Zeitvektoren bewegen, hat man so noch nicht gesehen, zumal was den Spektakelwert betrifft, der sich mit dieser Idee erzielen lässt.

Vor allem die Spektakelei dürfte wohl auch Nolans zentrale Motivation für diesen Film gewesen sein, über dessen Logik man nicht allzu lange nachdenken sollte (mit Sätzen wie "schon mal Kopfschmerzen gehabt" kommentieren die Dialoge die Filmlogik auch fortlaufend selbst). Entsprechend fällt die Dramaturgie etwas schlicht aus: Auf viel Krawall folgt ein langwieriger Infodump, dem Krawall folgt, auf den ein Infodump folgt, gefolgt von Krawall, einem weiteren Infodump undsoweiter, schließlich Rolle rückwärts. Insbesondere die erste Hälfte des Films wirkt undurchsichtig und der Agent - in den Credits als "the Protagonist" aufgeführt - trotz aller physischer Souveränitätsmarkierung wie ein übergeordneten Kräften ausgelieferter Spielball, der sich nach viel lebensbedrohlicher Gymnastik von immer wieder neuen Leuten neue Instruktionen fürs weitere Vorgehen abholen muss (darunter auch Michael Caine in einem kurzen schönen Auftritt. Dass der Agent sich von ihm in einer Großaufnahme mit den Worten "Goodbye, Sir Michael" verabschiedet, darf man als Geste des Regisseurs verstehen, der mit dem bald 90-jährigen Schauspieler zahlreiche Filme gedreht hat).

Umso krawummiger aber, was Nolan auf die Leinwand holt. Längst hat der Mann carte blanche bei Warner und verfeuert hier ganz ohne Risikoversicherung eines bereits etablierten Franchise mit Leibeskräften 200 Millionen Dollar Kapital für eine Fülle aberwitziger Setpieces, in denen nicht immer ganz klar ist, welches Objekt und welcher Mensch sich gerade in welcher Richtung in der Zeit bewegen. Hinzu kommt, dass die Protagonisten sich schließlich selbst invertieren, was Nolan für eine wunderbare vorher/nachher-Filmanalogie nutzt: Die Schleuse des dafür nötigen Entropie-Paternosters (klicken Sie zum Paternoster gerne nochmal auf den Wikipedia-Artikel von vorhin), sollte man nur betreten, wenn man zuvor beim Blick durch ein Fenster auch tatsächlich überprüfen konnte, dass man das Gerät in der Zukunft wieder verlassen hat. Manche verwirrende Actionszene der ersten Hälfte des Films, wird, wenn sie nach der Rolle rückwärts nochmal vorwärts (oder umgekehrt) vollzogen wird, auf kuriose Weise verständlicher.

Dass Nolan das für seine Filme typische getragene Pathos und die dräuende Gravitas etwas lockert, tut dem Ganzen ziemlich gut. Für was er sich hier wirklich interessiert, ist nicht der grimmig hohe Ton, sondern Bilder und Actionszenen, die das Kino so noch nicht gesehen hat. Sein Kino der Physis - Nolan dreht fast ausschließlich auf analogem 70mm-Filmmaterial, was der digitalen Postproduktion arge Grenzen setzt - zeigt dem Digitalkino der Marvelzeit deutlich dessen Beschränktheit in Sachen Wagemut und Einfallsreichtum auf. Im Moment einer Gegenwart, deren Zeit zerschlagen ist, bündelt Nolan ein Kino der Zukunft, das aus der Frühgeschichte des Films seine zentralen Stichwörter empfängt - auch eine Art der Zeitachsenmanipulation.

Thomas Groh

Tenet - USA 2020 - Regie: Christopher Nolan - Darsteller: John David Washington, Elizabeth Debicki, Robert Pattinson, Kenneth Branagh, Clémence Poésy, Michael Caine - Laufzeit: 150 Minuten.

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Noch die letzte Bewegung ist wortwörtlich im Fluss. Eine Hand, ein Arm, vom sterbenden Körper wie alles in diesem Film nach vorne geschleudert, schlagen ins Wasser. Als könnte es immer noch weiter gehen. Als rebellierten die Gliedmaßen des Gejagten ein letztes Mal gegen das Ende, gegen das Einfrieren des Gesamtapparats. Auch intermediäres Leben, die Übergangsphase zwischen Hirntod und dem Ende aller Zellfunktionen, bedeutet noch Aktivität, folglich Bewegung.
 
Vorwärts lautete bis dahin die ausschließliche Richtung von "Der See der wilden Gänse", mit dem Regisseur Diao Yinan nach seinem Berlinale-Gewinner "Feuerwerk am hellichten Tag" von 2014 erneut im Neo-Noir-Bereich startet, um sich dann gänzlich frei zu drehen, unterwegs nach Nirgendwo. Vorwärts, das muss vor allem auch Zedong (Hu Ge), ein Berufskrimineller im Motorradklau-Business, der bei einer grotesk gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen zwei Banden versehentlich einen Polizisten tötet. In der Folge sind alle an ihm dran: Der rivalisierende Clan, die Polizei sowieso, aber auch die rätselhafte Prostituierte Liu (Lun-Mei Kwei), die vielleicht Zedongs Liebe, vielleicht aber auch nur das Kopfgeld will. Und dann ist da noch Zedongs getrennt von ihm lebende Frau (Regina Wan), die die Verfolger auf die richtige Fährte bringen soll. Ein scheinbares Perpetuum mobile kommt in Gang, dessen Ende - man ahnt es schon mit den ersten, neonbeschienenen Szenen - erst der Tod setzen kann.
 


Gestorben wird viel und einfallsreich in diesem Film. Rot spritzt das Blut auf die Altherrenschuhe der Kinogangster. Menschliche Kollateralschäden pflastern Zedongs Weg, der ihm in der inzwischen weltbekannt gewordenen Stadt Wuhan von irrlichterndem Zigarettenglimmer gewiesen wird. Hochstilisiert ist das alles zwar, nur selten aber satt an sich selbst und den deftigeren seiner Gewalteffekte. Auch wenn hier ein Regenschirm bis zum Wiederaustritt durch den Leib eines Rivalen gespießt oder ein Biker bei voller Fahrt enthauptet wird: "Der See der wilden Gänse" ist eher Vexierspiel als Genrepastiche, eher nüchterne Bewegungsstudie à la Bresson als Style-Klamotte. Dazu gehört, dass der Blick des Films auf den Verfolgten und seine Verfolger sich immerzu selbst ins Abseits zu führen scheint. Derart dicht an dicht sind beide einander auf den Fersen, so ähnlich ihre jeweiligen Methoden, dass sie im dauermobilisierten Gewimmel kaum mehr unterscheidbar sind. Alle schwitzen denselben Schweiß, der großflächig die T-Shirts eindunkelt. Einmal wird ein Polizist beim Undercover-Einsatz von seinem Vorgesetzten ermahnt, sich weniger auffällig zu kleiden - kein Mitglied einer Motorradgang würde je derart buntes Designerzeug tragen.
 
Exzentrik hingegen erlaubt sich Diao Yinan, wenn er die tödliche Hatz mit dem Leben der Unbeteiligten kontrastiert. Auf einem Nachtmarkt kommt es zum Schusswechsel, während die mit Leuchtdioden versehenen Sohlen von Tänzern zum Schlager "Dschingis Khan" über den Asphalt gleiten; bei einer Verfolgungsjagd im Zoo blinzelt ein Dickhäuter knopfäugig wie ausgestopft zwischen dem Grün hervor. Hier entwindet sich der Film genauso der leichten Kitschnähe seiner Noir-Schönheit wie dort, wo "Der See der wilden Gänse" Realitätssplitter des chinesischen Provinzalltags gegen das bunte Neonlicht stellt. Fabrikarbeiter werden im Schein von Taschenlampen verhört, sich prostituierende "bathing beauties" bieten ihre Dienste am Strand neben DVD-Kopien und Garküchen an, die Polizei durchkämmt in Reih und Glied ein Waldgebiet auf der Suche nach unsichtbaren Flüchtigen. Masse und Ohnmacht. Der Schlüssel liegt dagegen im Nachvollzug von Bewegungsprofilen und Kontaktpersonen, wenn man also will: von Infektionsketten. Von deren Bedeutung für unsere unmittelbare Gegenwart konnte der ursprünglich 2019 erschienene Film freilich noch nichts ahnen. Genauso wie es natürlich ein Zufall ist, dass er in einer Region entstand, deren Name zu Beginn dieser Pandemie untrennbar mit jenem Virus verbunden war, das seinen Jägern noch immer einen Schritt voraus bleibt.

Janis El-Bira

Der See der wilden Gänse - China 2019 - OT: Nan fang che zhan de ju hui - Regie: Diao Yinan - Darsteller: Hu Ge, Lun-Mei Gwei, Regina Wan, Liao Fan - Laufzeit: 113 Minuten.