Im Kino

Nur ein kleiner Husten

Die Filmkolumne. Von Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke
11.02.2021. Deepa Dhanraj zeigt in ihrer Doku "What Happened to this City?", wie in Hyderabad Politiker Mitte der 80er Jahre Muslime und Hindus gegeneinander aufhetzen. Hier stößt ihr erprobter Modus des gemeinsamen Lernens zusammen mit den Betroffenen an seine Grenzen. Hermann Kosterlitz erzählt in "Tagebuch der Geliebten" von 1935 die tragische Liebesgeschichte zwischen der Malerin Maria Baschkirtzeff und dem französischen Schriftsteller Guy de Maupassant im Tonfall einer Komödie.


Deepa Dhanraj macht seit den frühen 1980er Jahren Dokumentarfilme über Kämpfe für soziale Gerechtigkeit in Südindien; aktivistische Filme auf Augenhöhe mit den Dokumentierten, oft in enger Zusammenarbeit mit ihnen. Erst als Mitglied des feministischen Filmkollektivs Yugantar (was "Veränderung" oder "Übergang" bedeutet), dann unter ihrem eigenen Namen (und stets unter Mitwirkung von Yugantar-Kameramann Navroze Contractor), hat Dhanraj sich ganz dem Thema Ausbeutung indischer Frauen sowie ihren Kämpfen in den verborgenen Stätten der Produktion und Reproduktion verschrieben. Die Filme mit Yugantar, gegründet 1980 im südindischen Bengaluru (Bangalore), gingen direkt aus den politischen Aufwallungen jener Zeit, der Tauperiode nach dem Ende des von Indira Gandhi verhängten nationalen Ausnahmenzustands, hervor und wirkten, übermittelt an aktivistische Milieus durch alternative Verleihnetzwerke, auf sie zurück. Die Methode des Kollektivs, Lebens- und Arbeitsumstände gemeinsam mit den Betroffenen und basierend auf ihrer gelebten Erfahrung zu erforschen, erinnert an das Programm der operaistischen conricerca. Die dabei entstandenen Filme dokumentieren politisches Bewusstsein nicht als etwas Vorgefundenes, sondern nehmen an seinem Werden teil, wissen es nicht besser als die Frauen, die darin zu Wort kommen. Es sind aktivistische Filme, die nicht belehren oder zu verstehen geben, sondern gemeinsam zu verstehen suchen und einen Lernprozess verkörpern.

Letzten März liefen die Filme des Yugantar-Kollektivs auf Arsenal 3, nachdem sie von Nicole Wolf aus den Privatarchiven der ehemaligen Mitglieder geborgen und 2019 in Kooperation mit dem Arsenal restauriert und digitalisiert worden waren. Ein weiterer Film von Deepa Dhanraj aus derselben Periode, "Sudesha" (1983), wird derzeit restauriert und soll im September dieses Jahres, im Rahmen des Abschlussfestivals des Projekts "Archive außer sich", zur Wiederaufführung gelangen. In der Zwischenzeit zeigt Arsenal 3 noch bis Ende Februar einen essenziellen Dokumentarfilm von Dhanraj aus dem Jahr 1986, der 1988 im Forum lief und so seinen Weg ins Archiv des Arsenal Kinos fand: "Kya hua is shahar ko?" (What Happened to This City?)



Die fragliche Stadt ist Hyderabad im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh, die Frage bezieht sich auf die Eskalation "kommunaler" Gewalt im alten Stadtzentrum Mitte der 1980er Jahre. Im politischen Sprachgebrauch Indiens ist Gewalt "kommunal", wenn sie sich zwischen religiös oder über das Kastenwesen definierten Gruppen ereignet, hier zwischen Hindus und Muslimen. Ein Machtkonflikt um das Amt des Regierungschefs (Chief Minister) von Andhra Pradesh, der die Nachfolgepartei der 1948 entmachteten muslimischen Feudalherren in einer Allianz mit Indira Gandhis Indischem Nationalkongress gegen eine Koalition aus der regionalen Telugu Desam Party mit den Hindu-Nationalisten der Bharatiya Janata Party (BJP) und der Kommunistischen Partei stellte, brachte die Bewohner von Hyderabad, angestachelt von Lokalpolitikern beider Seiten, gegeneinander auf. Die arme Bevölkerung der religiös geteilten Altstadt bezahlte die Rechnung mit Blut und Verwüstung.

Obwohl das ausdrücklich feministische Anliegen von Dhanrajs früheren Filmen in den Hintergrund tritt, beginnt auch "What Happened to This City?" mit einem Augenblick der Geselligkeit unter Frauen. Anders als sonst in Dhanrajs Werk vermag dieser Moment keine Freude zu spenden und keinen Trost, höchstens ein wenig Rückhalt angesichts der alltäglichen, allgegenwärtigen Gewalt - und vielleicht ist er eine Ermunterung, vor laufender Kamera darüber zu sprechen. Der erprobte Modus des gemeinsamen Lernens zusammen mit den Betroffenen stößt an seine Grenzen. Wie und was ist inmitten solcher Gewalt, in ständiger Angst vorm Nachbarn, überhaupt noch zu begreifen? "Everyone is struggling to survive", klagt ein soignierter älterer Herr, "Where is the time to understand this?"

Der Film nimmt diesen Einwand ernst. Er überlässt sich momentweise der Fassungslosigkeit und Trauer seiner Gesprächspartner*innen, teilt auch, wenn es dunkel wird, in einer besonders eindringlichen Szene, ihre Anspannung und Angst, schafft aber zugleich einen diskursiven Raum, um aus der oft schwer zu ertragenden Unmittelbarkeit nachbarschaftlicher Gewalt herauszutreten. Zwei Politiker, beide wiederholt der Anstiftung zur Gewalt angeklagt, leugnen ihre Verantwortung und schieben einander die Schuld in die Schuhe. Dagegen steht Dhanrajs Voiceover, darum bemüht, die politischen Hintergründe und das komplexe postkoloniale Terrain auszuloten, auf dem diese Gewalt gedeiht. Mitunter findet ihr analytischer Blick Verbündete vor der Kamera. Ein lokaler Vertreter der Jamaat-e-Islami bedauert den Stellenwert, den die Erfindung neuer "Traditionen" in diesem Konflikt eingenommen hat. Militante Umzüge in neotraditionalistischer Manier, die in Wahrheit wenig mehr sind als religiös verbrämte Machtdemonstrationen, sind häufig der Anlass für neuerliche Ausschreitungen.

Dhanraj und ihr Kameramann begeben sich in die Mitte dieser Umzüge. Sie drängen sich unter die Menschenmassen, aber auch auf das Podest, von dem aus die politischen Führer die Massen anheizen - selbst dann, wenn sie vorgeben, um Ruhe zu ersuchen. Es kommt, wie es kommen soll: Im nächsten Moment steht der Laden eines muslimischen Blumenhändlers in Flammen. Von einer ganzen Reihe von Geschäftslokalen bleibt am Ende nichts als Asche. "What Happened …" findet viele verschiedene, manchmal drastische Bilder dieser Gewalt: leere Straßen (während einer der ständigen Ausgangssperren, von denen die Ärmsten am meisten betroffen sind) und sich schließende Türen; das bange Wartens auf die nächste Eskalation; blutüberströmte Opfer eines Messerangriffs bei der Einlieferung ins Krankenhaus. Dhanraj hat sich der Gefahr, die aus den Zeugnissen der arbeitenden Bevölkerung von Hyderabad spricht, selbst ausgesetzt. An einer Stelle, als ein Projektil die Kamera trifft und in ihr Gehäuse eindringt, greift die umgebende Gewalt auf die Substanz des Bilds über. (Wie Deepa Dhanraj in einem spannenden Gespräch mit Devika Girish berichtet, warf die Digitalisierung des Films durch das Arsenal die Frage auf, ob dieses nicht-fotografische Zeugnis der Gewalt wegrestauriert oder beibehalten werden sollte.)

"What Happened to This City?" wirft einen langen Blick auf die Ursprünge kommunaler Gewalt in Indien, die von wechselnden politischen Interessen geschürt und instrumentalisiert worden ist. Zugleich ist dies die Geschichte der indischen Gegenwart: eine frühe Station des aufhaltsamen Aufstiegs von Premierminister Narendra Modis BJP. "What Happened to This City?" ist ein fulminantes, brandaktuelles Werk, dessen Frage nur noch an Dringlichkeit gewonnen hat. Wie alle Filme von Deepa Dhanraj ist er zutiefst unversöhnt.

Nikolaus Perneczky

What Happened to this City? - Indien 1986 - OT: Kya hua is shahar ko? - Regie: Deepa Dhanraj - Laufzeit: 90 Minuten. "What Happened to this City" bei Arsenal 3

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1883 in Paris, die Malerin Maria Baschkirtzeff, eine russische Adlige, arbeitet an einem Bild, das ihr großer Wurf werden soll. Das Porträt von "Gassenbuben" hat nur ein Manko: die Kinder sehen aus wie frisch poliert. Das bemängelt auch Baschkirtzeffs künstlerischer Mentor, der ihr, wenige Momente nachdem sie einen Heiratsantrag abgewimmelt hat, rät, sich weniger aus dem Ei gepellte Vorbilder für das Bild zu suchen. Bewohnern eines Pariser Armenviertels bietet das kurz darauf eine Gelegenheit, ihr unter bewundernden Worten für ihre Skizze die Handtasche zu leeren. Eine Bredouille, aus der sie ein junger Passant mit offener Kutsche rettet. All das kann die junge Frau in Hermann Kosterlitz' "Tagebuch der Geliebten" nicht schrecken. Sie arbeitet weiter an ihren Studien, während sich ihre Kreise immer öfter mit denen des jungen Passanten, der sich als Pferdehändler ausgegeben hat, kreuzen. Der Pferdehändler erweist sich später als der Schriftsteller Guy de Maupassant. Doch noch bevor die beiden recht wissen, wer der jeweils andere ist, verlieben sie sich ineinander.

"Tagebuch der Geliebten" ist einer von sechs Filmen, die Kosterlitz im europäischen Exil drehte, nachdem er nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten gemeinsam mit Joe Pasternak, dem Produzenten der Universal Berlin verlassen hatte und bevor er 1936 in die USA übersiedelte. Aktuell ist der Film Teil einer Onlineretrospektive des Filmarchiv Austria zum "anderen Wiener Film". Der Film ist in gleich mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme innerhalb dieses schmalen Exil-Korpus: als einziger ist er keine Komödie (auch wenn der Schauspieler Szöke Szakall sich alle Mühe gibt, das zu ändern) und er ist zusammen mit der ungarischen Produktion "A csúnya lány" einer von zwei Filmen, die nicht von Joe Pasternak für die Universal produziert wurde. Stattdessen entstand der Film als österreichisch-italienische Koproduktion zwischen der Wiener Panta-Film und der Astra Fil aus Rom. Wie für Koproduktionen der frühen Tonfilmzeit üblich, entstand der Film in einer deutschen und einer italienischen Sprachversion.



Die Liebesgeschichte ist für die junge Frau der Bruch mit der Konvention. Die Wahl des Lebemanns de Maupassant wird von ihrer Mutter unmissverständlich missbilligt, doch Baschkirtzeff lässt sich nicht von ihrer Liebe abbringen. Ein vergessener Regenschirm, ein Heimweg im Regen bilden den Wendepunkt. Nur ein kleiner Husten. Was harmlos beginnt, erweist sich als tödliche Tuberkulose-Erkrankung. Auf dem Höhepunkt des Glücks kündigt sich bereits das Dahinschwinden an.

Die Produktionsgeschichte des Films ist ein großer Widerspruch: Der Film war eine aufwändige Großproduktion, die auf internationale Vermarktung hin angelegt war, der jedoch zugleich der größte Markt für eine der Originalsprachen von Beginn an verwehrt war. Ohne die Auswertung auf dem deutschen Markt wurde der Film zu einem finanziellen Misserfolg. Es zählt zu den Eigentümlichkeiten der turbulenten ersten Hälfte der 1930er Jahre, dass ausgerechnet das faschistische Italien mit einer österreichischen Produktionsfirma kooperierte, um einen Film zu produzieren, an dem eine ganze Anzahl deutscher Exilanten mitwirkte.

Auch in der Anlage ist der Film widersprüchlich. Obgleich Kosterlitz wiederholt erklärt hat, nur ungern nach literarischen Vorlagen zu arbeiten, entstand "Tagebuch einer Geliebten" nach dem populären Tagebuch Marie Bashkirtseffs. Die Inszenierung lässt durch die Kulissen und Kostüme des Historienfilms die Gegenwart durchscheinen. So katapultieren die Gesangseinlagen in einer Reihe von Barszenen den Zuschauer direkt in die Entstehungszeit des Films. Die Szenen wechselt zwischen zeitgemäß vollgerümpelten Kulissen und kargen Räumen, die Zeitgenossenschaft anklingen lassen. Auch die Handlung ist ein Balanceakt: Kosterlitz' Film ist das Wagnis, im Tonfall einer Komödie eine tragische Liebesgeschichte zu erzählen. Die spitzen Dialoge dienen dazu, Fallhöhe zur Tragik der Handlung zu erzeugen.

In anderen historischen Konstellationen hätten solche Widersprüche vielleicht ein Manko dargestellt, nicht so jedoch im Fall von "Tagebuch einer Geliebten". Der Film korrespondiert mit den Komödien, die Kosterlitz vorher und nachher produziert hat, und er greift die Stimmungen einer Zeit voller unfreiwilliger Umbrüche auf. Tragik und Komik verschmelzen zum intimen, rührenden Melodram einer tragischen Liebe.

Fabian Tietke

Tagebuch der Geliebten - Österreich, Italien 1935 - Regie: Hermann Kosterlitz - Darsteller: Lili Dalvas, Hans Jaray, Szöke Szakall, Attila Hörbiger, Anna Kallina - Laufzeit: 86 Minuten. "Tagebuch der Geliebten" bei Filmarchiv Austria - oder direkt auf Youtube.