Im Kino

Momenthafte Überwindung der Anonymität

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann, Jochen Werner
25.02.2021. Was Sébastien Lifshitz in seiner Beobachtung der "Adolescentes" Emma und Anaïs, dokumentiert, ist beides: die generischen Züge einer Jugend in der Provinz und die Überraschungen, für die sie trotz allem gut ist. Und Hinweis auf einige Filme der "Woche der Kritik", die dies Jahr ebenfalls gestreamt wird, zum Beispiel auf Philipp Warnells "Intimate Distances".
Szene aus "Adolescentes". Foto: Agat Films & Cie



Sébastien Lifshitz
, dessen letzte Spielfilme eher skeptisch kommentiert worden sind, dreht seit zehn Jahren vor allem Dokumentarfilme. Und das mit sehr viel Erfolg. 2012 der César du meilleur film documentaire für "Les Invisibles" über alternde homosexuelle Männer und Frauen in einem Frankreich, das für sie nicht unbedingt bewohnbarer geworden ist. 2013 eine weitere César-Nominierung und der Teddy-Award der Berlinale für "Bambi", ein Porträt der Tänzerin, Perfomerin, Transfrau und Lehrerin Marie-Pierre Pruvot. 2016 die so genannte "Queer Palm" für "La Vies de Thérèse" über die todkranke LGBTQ-Aktivistin Thérèse Clerc; und in den letzten zwei Jahren weitere Auszeichnungen und Einladungen für "Adolescentes" (Prix Louis-Delluc 2019) über zwei sehr junge Frauen in der französischen Provinz und "Petite Fille" (Berlinale 2020) über Sacha, die ein Mädchen ist, auch wenn einige Lehrer und Eltern-vertreter das noch nicht ganz verstanden haben.

Mit den anderen Dokumentarfilmen von Lifshitz teilt "Adolescentes", diese ausführliche Beobachtung einer normativen und sehr heterosexuellen Sozialisation, mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Die Sympathie für die Protagonist:innen; die Suche nach Nahverhältnissen, die manchmal etwas unbehaglich geraten kann (in diesem Film: etwas zu viele Close-ups, Detailaufnahmen und Einblicke dort, wo Türen auch mal verschlossen bleiben könnten); die Insistenz, der gelassene Umgang mit Zwischenzeiten; das simple und dennoch sehr unselbstverständliche Interesse daran, wie sich eine Person zu dem entwickelt, was sie in einem bestimmten Moment ist, und, noch viel weniger selbstverständlich, die Frage, welches Potenzial zur Verwandlung und Entwicklung in jedem Moment in jeder Person angelegt sein könnte.

Dabei scheinen die Perspektiven der Entwicklung denkbar festgelegt. Ein proletarischer Haushalt und ein bourgeoiser, ein etwas verwahrlostes Umfeld und ein übermäßig geordnetes, eine hilflose Mutter und ein stahlharter Helikopter, einmal schlechte Schulnoten und einmal gute, mit denen eine klare Empfehlung für das Lycée verbunden ist. Die Codes, das Geld, die Klassenzugehörigkeit spielen für Emma, nicht für Anaïs, und es deutet vieles darauf hin, dass sich daran mit dem Ende des Films nichts geändert haben wird. Zugleich ist "Adolescentes" eine Probe darauf, dass Codes, Geld etc. für das Glück einer Person immer nur begrenzt viel vermögen, und dass die Spielräume, die sich in einer Biografie eröffnen können, mit dem Stichwort der sozialen Mobilität sehr unzureichend erfasst sind. (Anaïs, die proletarische Heldin, ist eine eigensinnige und tatsächlich heroische Protagonistin, unbekümmert um die Narrative der Selbstverbesserung, aber unaufhaltsam in ihrem Bestreben, ein Leben zu leben, das zu ihr passt.)

Was Lifshitz in seiner Beobachtung von Emma und Anaïs, die am Ende beinahe fünf Jahre gedauert haben wird, dokumentiert, ist folglich beides. Die generischen Züge einer Jugend in der Provinz und die Überraschungen, für die sie trotz allem gut ist; der deterministische Verlauf von Biografien und die individuellen, auch: die autonomen, Momente, die sich dennoch in ihnen ereignen; die Routinen, die das bestimmen, was später einmal Schulzeit genannt werden wird (vier Mal Ferien, vier Mal Rentrée; Busfahrten, Nachmittage, Ausflüge, der Schulhof und immer wieder die Examen, die im meritokratischen Frankreich mehr gefürchtet werden als andernorts), ebenso wie die Abweichungen, die gering sind und manchmal einen Unterschied ums Ganze bedeuten.

Die Makrogeschichte eines langsam nach rechts driftenden Frankreichs ist in "Adolescentes" beiläufig, aber unübersehbar präsent: im Fernsehen, auf diversen Displays, in Gestalt von Videos und Nachrichten, einmal auch in einer Versammlung mit Ansprache, in der die Belegschaft des Lycées auf die Werte der französischen Republik und eine sehr hypothetische Einheit verpflichtet werden soll. Die letzten Schuljahre von Anaïs und Emma sind die Jahre der Attentate auf Charlie Hebdo und auf das Bataclan, der Präsidentschaftswahlen 2017 (in Brive, Südwestfrankreich, bleiben die Sympathien eher auf Seiten von Marine Le Pen), der erodierenden Sozialsysteme und jener Umbrüche, die zu den Protesten der "Gilets Jaunes" führen werden. Die Figuren geht das an und nicht an; die Welt ist anderswo, aber nie sehr weit entfernt; und die Beziehungen, die zu ihr herzustellen wären, werden für Anaïs und Emma bis auf Weiteres offen gehalten.

Stefanie Diekmann

"Adolescentes" - Frankreich 2019 - Regie: Sébastien Lifshitz - Laufzeit: 135 Minuten. "Adolescentes"  auf justwatch.

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Szene aus "Intimate Distances". Copyright: Big Other Films Ltd, 2020

Nicht nur die Berlinale, die in der nächsten Woche erstmals in ihrer sieben Dekaden langen Geschichte (zunächst) als reines Branchen- und Onlineevent statt als 11 Tage lang die gesamte Stadt verwandelndes Publikumsfestival über die Bühne gehen wird, sondern auch die sie seit 2015 alljährlich begleitende "Woche der Kritik" ist in diesem Jahr gezwungen, alternative Wege zum Erreichen ihres Publikums zu beschreiten. Wie stets wurden sieben abendfüllende Programme - mit Double Features, Vorfilmen und Kurzfilmprogrammen  - kuratiert, die vom 27. Februar bis zum 7. März streambar sind. Die für das Festival charakteristischen ausführlichen (Streit-)Gespräche hingegen finden vom 1. bis 7. März allabendlich live und linear (und natürlich ebenfalls online) statt. Die Form also ist ganz anders als gewohnt, wie aber reagiert das Programm auf die Besonderheiten und Fragestellungen dieser merkwürdigen Zeit?

Eine mögliche Antwort wäre: eher auf abstrakte denn auf eineindeutige Weise, und das ist vermutlich bereits eine gute Nachricht, bedeutet es doch, dass die wohl unumgängliche Welle von Lockdown-Tagebuchfilmen und sonstiger Corona-Paraphernalia vorerst noch auf sich warten lässt oder es zumindest nicht ins Festivalprogramm geschafft hat. Fragen um Nähe und Distanz, privaten und öffentlichen Raum, oder auch um würdevolles Sterben und würdevolles Leben (im indischen Dokumentarfilm "Watch Over Me") ziehen sich durch etliche der sieben Filmprogramme, die dadurch mitunter sehr aktuell wirken, auch wenn das gezeigte Material der meisten Filme sichtlich in präpandemischen Zeiten gefilmt wurde.

So etwa in Philipp Warnells "Intimate Distances", einer Art Intervention im öffentlichen Raum, gefilmt in den wuseligen Straßen des New Yorker Stadtteils Queens. Eine ziemlich kleine, ziemlich extrovertierte ältere Dame begleitet die Kamera, aus wechselnden Distanzen, aber stets per Teleobjektiv, beim Flanieren durch die kulturell sehr diversen Menschenmassen. Immer wieder bleiben ihr Blick und ihre Neugier an einem Menschen hängen, den sie dann kurzerhand anspricht und, die Anonymität der Straßenszene durchbrechend, in ein Gespräch verwickelt. Die Fragen, die sie ihrem jeweiligen Gegenüber stellt, gleichen sich stets: Ob er schon einmal an einem Punkt im Leben gewesen sei, an dem dieses urplötzlich auf eine andere Bahn geriet, und ob er schon einmal etwas getan habe, dessen fähig zu sein er sich niemals habe vorstellen können. Unterbrochen wird das Szenario mit Voiceovers, in denen ein unsichtbarer Protagonist seine Lebensgeschichte erzählt, die ihn zuerst zum Kriminellen und dann zum Strafgefangenen machte.

Bei der charismatischen älteren Dame handelt es sich um die Castingdirektorin Martha Wollner, die zuletzt unter anderem für Josephine Deckers brillanten Theaterfilm "Madeline's Madeline" arbeitete, aber man muss das nicht wissen, und "Intimate Distances" bemüht sich auch nicht, den Bezug zu einem Castingprozess angesichts einer Verfilmung des im Voiceover anerzählten Lebens zu konkretisieren. Im Grunde ist in den einerseits anonymen, aber von der Unruhe der stets bewegten Menschenmenge affizierten Bildern der aus sicherer Distanz filmenden Kamera und in den Dialogen zwischen Fremden, die sich mitunter nur mit Mühe gegen das allgegenwärtige großstädtische Hintergrundrauschen durchsetzen, alles enthalten, was der Film benötigt. Geschichten werden angerissen, Intimitäten für kürzeste Zeitspannen zugelassen, bevor die Wege wieder auseinanderführen, bevor irgendetwas wirklich zur Deckung kommen kann. Ein freier, offener und sehr menschlicher Film, der zudem, in Zeiten des Social Distancing geschaut, eine ungeheure Sehnsucht nach jener besonderen Form instabiler Gemeinschaft freisetzt, wie sie nur die momenthafte Überwindung der Anonymität im urbanen Raum ermöglicht.

Ebenfalls eine Observation des öffentlichen Raums und der Menschen, die sich durch ihn bewegen, führt der palästinensische Filmemacher Kamal Aljafari in seiner Found-Footage-Arbeit "An Unusual Summer" durch, wenngleich mit anderen Mitteln und zu anderem Zweck. Dafür montiert er fünfzehn Jahre altes Videomaterial, aufgenommen durch eine Überwachungskamera, die sein 2015 verstorbener Vater vor dem Haus der Familie im israelischen Ramla installierte. Bereits dreimal wurde eine Scheibe seines allnächtlich vor dem Haus geparkten Auto zertrümmert, und mittels der Kamera versuchte Aljafaris Vater, dem Täter auf die Spur zu kommen. "An Unusual Summer" beginnt als eine Art detektivische Spurensuche und verlässt diesen Pfad zumindest niemals komplett. Und doch treten mit voranschreitender Laufzeit viele andere Beobachtungen ins Zentrum, eine Entwicklung, die Aljafari durch experimentelle Montagetechniken und eigene, per Texteinblendungen kontextualisierende Kommentare forciert.

Auch hier ist der Blick des Filmemachers notwendigerweise ein distanzierter, nicht nur durch das starre Auge der Überwachungskamera, sondern auch durch die defizitäre mediale Beschaffenheit der im Zeitalter hyperrealer HD-Videobilder geradezu antik anmutenden, verwaschenen, flackernden Videoaufnahmen, in die Aljafari immerhin hinein- und hinauszuzoomen sich die Freiheit nimmt. Das erweckt in diesem Modus der distanzierten Beobachtung immer wieder den Eindruck, als würden wir gemeinsam mit Aljafari in ein Biotop hineinschauen, dessen sich unbeobachtet wähnendes Leben vor den ungerührten Augen der Kamera vorbeizieht - während es für Aljafari selbst ein Stück Familiengeschichte und Trauerarbeit darstellen mag. Am Ende kippen die ohnehin fragilen Bilder in weißes Rauschen, und Sprache und Text übernehmen. Hier wird ein grundsätzlicher Gegensatz zum allzu konkrete Kontextualisierungen vermeidenden "Intimate Distances" erkennbar, wird der allzu kleine Weltausschnitt, den wir durchs Kameraauge zuvor eine gute Stunde lang observiert haben, in einer Welt und einer Historie verankert, deren Brüche in achtzig Kinominuten lediglich gestreift werden können.

Jochen Werner

"Intimate_Distances" - USA 2020 - Regie: Phillip Warnell - Laufzeit: 61 Minuten.

"An Unusual Summer" - Deutschland / Palästina 2020 - Regie: Kamal Aljafari - Laufzeit: 80 Minuten.

Hier die Website der "Woche der Kritik" mit allen Informationen.