Im Kino

Während der Killer Käse schneidet

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Michael Kienzl
09.04.2021. John Hyams' Thriller "Alone" lebt ganz von der Wirkungskraft klassischer Erzählmuster, eine perfekt getimte Angstmaschine.  Kein hochgekochter Heroin Chic, aber auch kein pädagogisches Anschauungsmaterial: Ulrich Edels Film über die Drogenkarriere der Christiane F., der vor 40 Jahren in die Kinos kam, bleibt konsequent nüchtern.


Jessica (Jules Willcox) will erstmal nur weg und für sich sein. Nach dem Selbstmord ihres Mannes packt sie ihre Sachen, um woanders ein neues Leben zu beginnen. Sobald die Heldin von John Hyams' Thriller "Alone" den Zündschlüssel umgedreht hat, beginnt eine Fluchtbewegung, die den gesamten Film bestimmen wird. Jessica wirkt von Anfang an abweisend, als hätte sie sich in sich eingeschlossen. Ihre Mutter wimmelt sie maulfaul am Telefon ab und setzt sich gleich wieder nervös rauchend ans Steuer. Ihr Blick ist stur auf die leeren, von wuchtigen Wäldern flankierten Straßen Oregons gerichtet, die sie in eine ungewisse Zukunft führen. Unheilvoll langsam schwenkt die Kamera (Federico Verardi) mehrmals über die weite Landschaft. Sie unterstreicht nicht nur die selbst gewälte Einsamkeit der jungen Frau, sondern bereitet auch darauf vor, dass ihre Verlorenheit zur Todesfalle wird.

Irgendwann taucht ein schwarzer SUV mit getönten Scheiben auf. Schon bevor Jessica zu einem Überholmanöver ansetzt, ahnt man, dass sie damit die Jagd auf sich eröffnet. Ähnlich wie der LKW in Steven Spielbergs "Duell" (1971) ist auch der wie neu schimmernde Geländewagen zunächst eine Bedrohung mythischen Ausmaßes. Während das Tempo des Films weiterhin ruhig bleibt, verunsichert das wiederholt auftauchende Auto Jessica zunehmend.

Die diffuse Bedrohung wird mit einem Mal konkret, als der SUV-Fahrer (Marc Menchaca) an Jessicas Autoscheibe klopft, um sich für die eventuelle Einschüchterung zu entschuldigen. Es ist ein betont unauffälliger Kerl mit Holzfällerhemd, Schnauzer und Brille. Seine Worte sind freundlich, aber sein durchdringender Blick und seine Beharrlichkeit beunruhigend. Die Kamera erweist sich ein weiteres Mal als Seherin. Sie zeigt den Fremden aus Jessicas Perspektive von unten. Trotz seiner offensiven Bodenständigkeit wirkt der Freizeitjäger dadurch bedrohlich und unbezwingbar.

Kurz darauf wird dieser Mann Jessica betäuben und in eine Waldhütte sperren. Er macht keinen Hehl daraus, dass sie diesen Ort nur tot verlassen wird und bis dahin etliche Qualen zu erleiden hat. Nicht übermenschliche Fähigkeiten machen den Familienvater so furchterregend, sondern die Art, wie er seinen genießerischen Sadismus hinter einer Maske bürgerlicher Normalität verbirgt.



"Alone" setzt auf eine bewährte Mischung: Eine vermeintlich unterlegene, zudem psychisch labile Heldin kommt in eine ausweglose Situation, aus der sie sich nur befreien kann, indem sie über sich selbst hinauswächst. Hyams entwirft in seinem schnörkellos minimalistischen Film einen schweißtreibenden Überlebensparkours mit verschiedenen Disziplinen: Zunächst muss Jessica aus ihrem Verließ ausbrechen und barfuß eine Verfolgungsjagd überstehen, später strategisch denken und den Psychospielchen des eloquenten Killers widerstehen sowie, als es gar nicht mehr anders geht, dem Widersacher direkt ins Antlitz blicken.

Die Größe von "Alone" steckt in der Reduktion. Jessica muss es nicht nur mit einem Gegner aufnehmen, der im Abspann schlicht "Man" genannt wird, sondern auch erbarmungslosen Naturgewalten wie einem reißenden Fluss trotzen. Die Kapitel des Films tragen entsprechend archaische Titel wie "The Road", "The River", "The Rain", "The Night" und "The Clearing". Sie beschreiben einen Schauplatz oder konkrete Herausforderungen und besitzen auch eine allegorische Note. In "The Night" etwa kauert Jessica angeschossen im Wald, während der Killer sie mit einem darwinistischen Monolog hervorlocken will. Weil er dank ihres Smartphones von Jessicas Schicksal weiß, sind seine Provokationen maßgeschneidert. Beide Fluchtbewegungen des Films fallen zusammen. Die Konfrontation mit dem Peiniger wird zur Konfrontation mit der schmerzhaften Vergangenheit.

Während dieser Reise in die Tiefen der Angst vertraut Hyams weder auf plumpe Effekte, noch versucht er zwanghaft clever oder einfallsreich zu sein. "Alone" besticht durch bescheidene Eleganz und ein Vertrauen in die Wirkungskraft klassischer Erzählmuster. Regie und Kamera sind ebenso wie der von sphärischen Drones, nervösem Pochen und vorsichtig angeschlagenen Klavierakkorden geprägte Soundtrack von Nima Fakhrara zurückgenommen und dabei doch ungemein effektiv. Der Film ist eine perfekt getimte Angstmaschine, die gerade in den leistesten und undynamischsten Szenen am packendsten ist.

Einmal lugt Jessica aus einem Türspalt hervor, während der Killer Käse schneidet, ein anderes Mal liegt sie im Kofferraum seines SUVs, während er ahnungslos am Steuer sitzt. Hyams nimmt sich in solchen Momenten viel Zeit, um die Spannung ins Unerträgliche anschwellen zu lassen. Es ist ein Gefühl der Ohnmacht, das er hier zerdehnt, eine lähmende Gewissheit, ausgeliefert zu sein. Aber es bleibt ein Hoffnungschimmer: vielleicht ist ein Überleben doch möglich, wenn man nur im richtigen Augenblick die richtige Entscheidung trifft. In solchen Szenen ist "Alone" ein in seiner Wirkung sehr körperliches Erlebnis, das uns ähnlich erschöpft zurück lässt wie seine aus den letzten Reserven schöpfende Heldin. Obwohl der Film ein perverses Spiel treibt, scheint er uns weniger zermürben als unseren Widerstand provozieren zu wollen. Wenn es auf einem brandgerodeten, apokalyptisch dampfenden Waldstück zum martialischen Endkampf kommt, ist es, als würde die Welt in Trümmern liegen. Doch selbst für das Leben, vor dem Jessica ursprünglich nur noch weglaufen wollte, ist es wert, bis zum bitteren Ende zu kämpfen.

Michael Kienzl

Alone - USA 2020 - Regie: John Hyams - Darsteller: Jules Willcox, Marc Menchaca, Anthony Heald, Jonathan Rosenthal - Laufzeit: 98 Minuten. Streamingmöglichkeiten für "Alone" bei justwatch finden

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Ein Film, der auf Grundlage des erfolgreichsten bundesdeutschen Sachbuchs beinahe fünf Millionen Menschen in die Kinos zog und jahrzehntelang zu den Lehrplankontinuitäten gymnasialer Mittelstufen zählte, muss sicherlich nicht rehabilitiert werden. Andererseits beginnen genau damit schon die lästigen Beschwerlichkeiten. "Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", Produzent Bernd Eichingers und Regisseur Uli Edels 1981 veröffentlichte Kinoversion der nach Tonbandprotokollen gesponnenen Drogen- und Prostitutionsgeschichte von Christiane Felscherinow, schien seit jeher ein Produkt der es auszeichnenden Etiketten zu sein. Prestigeprojekt, Aufklärungsfilm, Pflichtveranstaltung: Niemals stand "Christiane F." nicht unter Relevanzverdacht, immer war der Film alarmierend, skandalös, auf Ereignis kalibriert.

Zudem handelt es sich, jedenfalls nach Meinung mancher Cinephiler, um eine große ungenutzte Chance. Kurz vor Drehbeginn feuerten die Produzenten den ursprünglich mit der Umsetzung beauftragten Roland Klick (Bundesfilmpreis 1971 für "Deadlock") und wechselten ihn gegen Eichingers späteren Musterknaben Edel aus, der sich nicht, wie Klick es vorhatte, mit schauspielernden Laien und tatsächlichen Junkies ins Milieu schmiss, sondern mutmaßlich weniger ungestüm zur Tat schritt. Darüber, so die gängige Kritik, sei "Christiane F." dann einigermaßen missraten, zu sehr Qualitätskino, zu brav und bieder und bequem. In entlegenen Winkeln des Internets wird bis heute über die Frage diskutiert, wie das Resultat unter Klicks Regie hätte aussehen können. Womit man auch schnell wieder bei den Etiketten wäre.

Ich hatte "Christiane F." vor der jetzigen Wiederbegegnung ein einziges Mal gesehen, nicht im Unterricht, aber zu meiner Schulzeit, und damals erdrückte mich die Schwere des Films. Im Rückblick glaube ich, dass dafür der von der maßlos soziologisierten und zugleich überhöhenden wie vereinfachenden Vorlage übertragene Ballast verantwortlich war, der einem die Luft abschnüren konnte, bevor es überhaupt zum ersten Atemzug kam. Was ich nicht begriff, möglicherweise auch nicht begreifen konnte: Uli Edel arbeitete entschieden gegen den beschwerlichen Mythos an. Er reduzierte die Handlung auf ein Minimum, indem er biografische Details verknappte, und hatte offenbar kein exemplifizierendes Drogenhorrordrama im Sinn, sondern wollte von einem jugendlichen Mädchen und ihrem Umfeld, von einem spezifischen Ort zu einer spezifischen Zeit erzählen.



Das gelingt "Christiane F." besonders im ersten Drittel mit damals wie heute bemerkenswert trostlosen Bildern des Viertels um den Berliner Zoo, durch die beengende Geschäftsbauten, verwinkelte Einkaufspassagen und schummrige Jugendtreffs die Figuren ihre Körper schleifen, als sei tatsächlich George Romeros "Nacht der lebenden Toten" (den Christiane sich zu Beginn im Clubkino ansieht) über den Kurfürstendamm hereingebrochen. All das fängt der Film ohne falsche Poesie, aber mit genauem Blick für die Stimmungen des Moments ein; auf den Dächern des Europa-Centers, am unaufhörlich rotierenden Mercedes-Stern, über der kalten graunassen Stadt. Wenn Christiane häufig ein umgangssprachliches "Mensch" in ihre Sätze einbindet, dann verstärkt das noch den Anachronismus jener Nicht-Orte, an deren gesellschaftlicher Peripherie sie selbst Entmenschlichung erfahren wird.

In der verschlingenden Tristesse dieser karg funkelnden City West interessiert Uli Edel sich umso mehr für eine Körperlichkeit, die unartikuliertes Begehren über sehnsüchtige Blickkontakte, schüchtern gesenkte Köpfe und zärtliche Umklammerungen vermittelt (allerorts schmieden Christiane und Freund Detlef sich aneinander, als wollten sie neben Halt so etwas wie Bewegungssinn finden). Wenn Drogenexzesse die jungen Körper schließlich an den Rand ihrer Widerstandsfähigkeit führen, erliegt der Film nicht der Versuchung, Rauschzustände erfahrbar machen zu wollen, sondern bleibt konsequent nüchtern. Mit einer Klarheit, in der zwischen Genusserfahrung und Cold Turkey zu differenzieren sinnlos erschiene, glaubt Edel das Ausmaß von Drogensucht und die Bedingungen einer bestimmten soziokulturellen Sphäre erfassen zu können: bedingungslose Draufsicht als einzig akzeptable Perspektive.

Damit hat der Film sich nicht wenig angreifbar gemacht, obwohl er die sogenannten Kinder vom Bahnhof Zoo keineswegs kaltherzig oder mitleidlos als radikale ästhetische Subjekte denkt - und Empathie gerade durch seine Verweigerung zum Ausdruck bringt, figurenpsychologische Erhellung an Zustände von Ekstase oder Erwachen zu koppeln. Dass Drogentrips auf der Leinwand niemals nachvollziehbar, geschweige denn als immersives Erlebnis verdichtet werden können, schien Uli Edel lange vor jenen postmodernen Eskapaden des insbesondere im Kino der 90er Jahre hochgekochten Heroin Chics zu wissen, der von Filmen wie "Trainspotting" als penetrantes Festival diffuser Lebensgefühle veranstaltet wurde (und sich aktuell, welch verzichtbare Ironie, in der gründlich misslungenen Serie über Christiane F. breit macht, die auf Amazon Prime zu sehen ist).

Vor Zugriff durch schablonenhafte Pädagogik, die der als bloßes Anschauungsmaterial eben nicht geeigneten Kinoadaption Kausalität und Motivation unterstellt (was auch eine herablassende, bzw. klassistische Haltung gegenüber dem intendierten Publikum verrät), scheint mir "Christiane F." heute gut geschützt. Für einen auf funktionalistische Kategorien wie Authentizität oder Schlagkraft beschränkten Lehrstoff ist Uli Edels Annäherung weder spekulativ noch geschmackvoll genug, macht es dem Publikum vielmehr angemessen schwer, sich in ihr zurechtzufinden. Da nun sämtliche Kinos pandemiebedingt geschlossen sind, entfällt die geplante Jubiläumswiederaufführung des vor genau 40 Jahren erstmals gezeigten Films leider bis auf weiteres. Auf Nachfrage gibt der Verleih sich zuversichtlich, dass er bald in Freilufttheatern und (natürlich!) bei Schulveranstaltungen zu sehen sein wird.

Rajko Burchardt

Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo - BRD 1981 - Regie: Uli Edel - Darsteller: Natja Brunckhorst, Eberhard Auriga, Peggy Bussieck, Thomas Hausteon, Uwe Diderich - Laufzeit: 138 Minuten. Streamingmöglichkeiten für "Christiane F." bei justwatch finden