Im Kino

Schluss mit Gehorsam!

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk, Katrin Doerksen
16.06.2021. Aleksandre Koberidzes Film "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?", erzählt ein sehr modernes Märchen aus Georgien und taucht die Welt in goldenes Licht. Claude Faraldos "Themroc" aus dem Jahr 1973 ist der Sommerfilm schlechthin: Wenn Michel Piccoli sich das Hemd aufreißt, seine Hauswand einreißt und grunzend schöne Frauen über die Schulter wirft, wackeln alle Fassaden.


Der Titel spricht vom Himmel, aber Alexandre Koberidze zeigt den Boden, vehement immer wieder den Boden, die Schuhe der Leute. Als wolle er sagen, dass jemand ist, wie er die Füße beim Gehen voreinander setzt und wie er seine Klamotten in die Ecke wirft; so wie man auch Schlüsse daraus zieht, wie jemand mit dem Restaurantpersonal spricht oder Tiere behandelt.

Das georgische Kutaisi ist eine der ältesten Städte der Welt, archäologische Funde von dort weisen zurück bis ins sechste Jahrhundert vor Christi. Da ist es denkbar, dass ein bisschen antike Magie in den Steinmauern erhalten geblieben ist, dass die Menschen für ihre Taten den bösen Blick auf sich ziehen. So geht es jedenfalls Lisa und Giorgi. Sie rempeln sich auf der Straße an, es ist Liebe auf den ersten Blick. Bevor sie sich am nächsten Tag wiedersehen können, trifft beide ein Fluch: Sie wachen in fremden Körpern auf, unmöglich, einander so wiederzufinden. Aber nicht nur das, sie verlernen auch, worin sie gut sind. Giorgi verliert sein Fußballtalent, Lisa ihr Verständnis für die Pharmazie. Wenn die äußere Gestalt abhanden kommt und dann auch noch die größte Leidenschaft, vielleicht bleibt dann wirklich nur noch die Art, wie jemand die Füße beim Gehen voreinander setzt. Mit welchen Bewegungen jemand abends seinen Schmuck ab- und morgens wieder anlegt.

Zumindest bilden solche kleinen Gesten und Beobachtungen das Herzstück von "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?", der dieser Tage im Rahmen der Sommerberlinale zu sehen ist. Er spielt anfangs vor allem bei Nacht und in halbdunklen, warm beleuchteten Innenräumen. Das - und das lange, dunkle Haar der Schauspielerinnen, ihre ätherische Ernsthaftigkeit - erinnert entfernt an die tschechischen Märchenfilme der 1970er Jahre. Aber "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" ist ein sehr modernes Märchen. Nur eben in einer sehr alten Stadt, einer beseelten Welt. Aus dem Off beschreibt die tiefe Stimme eines Erzählers den sprechenden Wind, lebendige Überwachungskameras, befreundete Hunde mit sehr spezifischen Vorlieben für den Ort, an dem sie die gerade stattfindende Fußballweltmeisterschaft verfolgen. Das alles nimmt man dem Erzähler ohne weiteres ab, bis einem auffällt, dass nur er selbst die Magie evoziert. Die Kamera selbst zeigt keine Wunder, keine sprechenden Gegenstände oder anthropomorphen Tiere und auch nicht das Ausleben von Emotionen, die man Figuren zugestehen würde, die in einem falschen Körper erwachen. Nicht einmal das ursprüngliche Aufeinandertreffen von Lisa und Giorgi. Auch in diesem entscheidenden Augenblick waren nur die Füße zu sehen.



Was die Kamera tatsächlich zeigt, steht im Kontrast zur behaupteten Zauberhaftigkeit der Welt: Eine Stadt, deren Patina häufig nur unzureichend über ihre marode Infrastruktur hinwegtäuscht. Zwei junge Menschen, die, plötzlich aus ihrem gewohnten Alltag herausgerissen, versuchen irgendwie ihre Existenz zu sichern. Unwissentlich beginnen sie für denselben Mann zu arbeiten, den Besitzer eines improvisierten Cafés am Flussufer. Lisa bedient die Kaffee- und Eismaschinen, Giorgi übernimmt das Marketing. Das heißt, er stellt sich mit einem Turnreck und einem Schild auf die benachbarte Brücke: Wer es schafft, zwei Minuten an der Stange zu hängen, darf kostenlos im Café essen.

Die dichte Exposition von "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" droht später gelegentlich auszufransen, aber Koberidze schafft es, so etwas wie die Essenz seines Films in Szenen zu konzentrieren, die einen die Zeit völlig vergessen lassen. Wenn er sich zum Beispiel von der Handlung ablenken lässt und gemeinsam mit dem sehnsüchtigen Giorgi das Fußballspiel einer Jugendmannschaft beobachtet: Zeitlupe, in goldenes Licht getaucht und dazu der große Schlager der Fußballweltmeisterschaft 1990, "Un'estate italiana". Oder er folgt Lisa in die Musikschule, wo es eine Frau geben soll, die sich mit alten Flüchen auskennt. Vom Treffen selbst sieht man aber wiederum fast nichts, Koberidze interessiert vor allem der Weg zu ihr. Er positioniert die Kamera am Ende des Flurs - geradlinige Sowjetarchitektur - und beobachtet Lisa, die sich durchfragen muss: Eine Frau nimmt sie mit ins obere Stockwerk, liefert sie in einem Sekretariat ab, wo sie zwei Minuten vor der Tür warten soll. Die Sekretärin bringt sie zur nächsten Tür, wieder zwei Minuten, die Frau dort zur Nächsten. Die Regeln, nach denen dieses Spiel funktioniert, erschließen nicht unmittelbar ihren Sinn, aber es ist trotzdem die Zeit wert, sie zu beobachten: Wie Lisa immer wieder in das Sonnenlicht taucht, das das zwischen den schattigen Gängen als Verbindungsglied liegende Treppenhaus durchflutet. Die Musikfetzen, die durch die dünnen Wände klingen.

"Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" ist bei aller Schwelgerei kein naiver Film. Wie bei jedem Märchen gibt es auch einen Hauch von Moral. Gelegentlich richtet der Erzähler das Wort direkt an sein Publikum: "Was sage ich meinen Kindern, wenn sie nach der Gewalt und Brutalität auf der Welt fragen?", grübelt er. "Dass ich Filme gemacht habe?" Im zweiten Handlungsstrang arbeitet eine Filmcrew an einer aufwändigen Schlussszene und ihr Werk wird erwartbarerweise zur Lösung für Lisas und Giorgis Problem. In einem Film, der unentwegt seine eigene Existenz zu rechtfertigen sucht, ist das die schönstmögliche Moral: Die Erkenntnis bringt das Filmmaterial selbst, durch das Kino-Auge sichtbar gemacht.

Katrin Doerksen

Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? - Deutschland, Georgien 2021 - OT: Ras vkhedavt, rodesac cas vukurebt? - Regie: Aleksandre Koberidze - Darsteller: u.a. Giorgi Ambroladze, Irina Chelidze, Vakhtang Panchulidze, Giorgi Bochorishvili, Ani Karseladze - Laufzeit: 150 Minuten. "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" auf der Sommerberlinale.

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Die bürgerlichen Fassaden fallen - wenn, dann - im Sommer. Von der Hitze werden Köpfe wirr, der Schlaf kurz, Arbeiten... doppelt belastend. Im Sommer ist man leicht gekleidet, man sieht und zeigt viel nackte Haut. Man stinkt und schwitzt und kommt dem Naturzustand dadurch ein ganzes Stück näher. Für diese Jahreszeit ist "Themroc" aus dem Jahr 1973 der perfekte Film.

Erzählt wird darin ein Protest durch Verwilderung. Das Besondere: "Themroc" kommt ganz ohne Worte aus, verzichtet im Sinne der Geschichte komplett auf artikulierte Sprache. Es beginnt humorvoll und trist in der Küche einer Pariser Wohnung, wo ein Mann namens Themroc (Michel Piccoli) an einem trockenen Baguette kaut. Das karge Frühstück des Arbeiters ist bar jeder Freude am neuen Tag, eine rein mechanische Sache, die obendrauf durch explosive Geräusche der Toilettenspülung gestört wird. Erst die Mutter, dann die Schwester ziehen in ihren Bademänteln an ihm vorbei, als bestünde der Mann aus Luft.

Métro, boulot, dodo: Auf dem Weg zur Arbeit wird Themroc von der somnambulen Arbeitermasse umschlungen. Zahlreiche Unterführungen sind zu sehen, Ein- und Ausgänge, wiederholtes Umsteigen. Die Montage spielt mit dem Proletariat ein böses Spielchen, alles wirkt wirr und sinnbefreit. Die Menschen sind müde. Und es scheint, als stünden sie alle nur dank ihrer gedrängten Vielzahl aufrecht - in einer komischen Szene klappt ein Fahrradfahrer im Alleingang immer wieder zusammen. Etwas später: Warteschlange vor der Stempeluhr. Klick-Klick, Themrocs Blick bleibt an den Beinen der weiblichen Kolleginnen kleben. Zuvor in der Wohnung hat er seine nackt schlafende Schwester heimlich beschnuppert und geküsst.

Die Arbeitsverhältnisse, die in dem Betrieb herrschen, sind eine Karikatur. Während die Chefs ungeniert die Sekretärinnen befummeln, bleiben den gentils proletaires wie Themroc nur Frustration und Neurosen übrig. Ins Vorzimmer bestellt, tritt der Anstreicher von einem Bein aufs andere und hustet, als bitte er höflich um Aufmerksamkeit. Achtung: Aus dem Husten wird Brüllen, Grunzen, Heulen. Es hört nicht mehr auf. Aus dem aufgeknüpften Arbeitsoverall tritt die haarige Brust Piccolis hervor. Dann bricht es aus ihm heraus, in seinem Inneren fliegen alle Schranken in die Luft, alle Mauern fallen. Schluss mit Gehorsam!



"Themroc", geschrieben und inszeniert von Claude Faraldo, zählt zu den Produktionen, die von heute aus gesehen gut gealtert sind. Faraldo traut sich was. Er erzählt sehr simpel und lustvoll, führt keinen Diskurs, sondern spinnt herum, folgt dem Impuls. Der Film lebt von Körperkomik und Mienenspiel der Figuren, die auf Themrocs Revolte allesamt zu reagieren gezwungen sind: Angst, blanke Panik, Begeisterung, Erregung, lachhafte Versuche der Verdrängung sind den Gesichtern in aller Deutlichkeit abzulesen. Wie zufrieden hier vor allem Männer sind, wenn sie sich, Themrocs Beispiel folgend, etwas trauen. Die Ferien des Monsieur Themroc sind eine Feier der Anarchie, erzählerisch und formal, die ungeheuer Spaß macht.

Wieder zu Hause setzt sich der Verwilderungsprozess weiter fort. Mit Bauschrott und Zement, die er von von einer Baustelle geklaut hat, mauert Themroc die Tür seines Zimmers zu. Unter den Blicken der versammelten Nachbarschaft schlägt er die Fenster aus, dann die Außenwand mit einem großen Hammer. Möbel, Fernseher, ein hübsches Gläser-Set, der riesige Wecker - alles raus! Die marode Bausubstanz, zum Schluss auch große neue Häuser aus Glas - wie schöne es wäre, sie alle in die Luft zu jagen! Von seiner zum schmuddeligen Hinterhof weit geöffneten Bühne schaut der Rebell auf die zivilisierte Welt der anständigen Leute hinab wie ein Herrscher. Die Polizei kann ihm nichts. Im Nebel der Rauchgranaten liebt man sich wie in einem Vintage-Porno. "Themroc" ist Kunst, die resolut, komisch und sexy daherkommt. Ein Film aus einer Zeit, in der es sich leichter träumen ließ, politisch und auch im Kino.

Olga Baruk

Themroc - Frankreich 1973 - Regie: Claude Faraldo - Darsteller: u.a. Michel Piccoli, Béatrice Romand, Marilù Tolo, Francesca Romana Coluzzi - Laufzeit: 110 Minuten. "Themroc" ist als französische Import-DVD erhältlich, zum Beispiel hier.