Im Kino

Trashy, aber mit Herz

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel, Nikolaus Perneczky
15.07.2021. Justin Lin pflegt mehr Frauenpower und mehr Identitätspolitik in "The Fast and the Furious", Teil 9, aber sonst bleibt alles beim Alten: Autos fliegen jetzt ins All, um die Welt vor einer irren Cyberterroristin zu retten. Ehre und Familie werden hochgehalten. Und am Ende gibt's ein Tischgebet. Akram Zataaris "Twenty-eight Nights and a Poem" setzt Hashem al Madanis Fotostudio Sherazade ein Denkmal und erzählt zugleich eine medienarchäologische Geschichte wechselnder Formate, Apparaturen und Dispositive.


Meister Proper und seine im Jenseits der physikalischen Möglichkeiten fluoreszierende Familie in röhrenden Töfftöffs ist zurück. Nach Sprüngen mit Autos zwischen den Etihad Towers und einer Verfolgungsjagd auf Eis mit einem U-Boot, ist es diesmal das Weltall, das die selbstironische Machobagage mit ihren hochgetunten Benzinkutschen erobert. Mit den Pferdestärken fährt wie gewohnt ein übersteigert intaktes Moralsystem auf dem Beifahrersitz: Familie, Loyalität, Ehre.

Mit Ausnahme von "Star Wars" gibt es wohl kein Franchise, das sich so hingebungsvoll im emotionalen Gewicht seiner eigenen Vergangenheit wälzt wie "The Fast and the Furious". Auch im inzwischen neunten von anvisierten zehn Filmen (ein Blick auf das Bankkonto der Produzenten genügt, um zu wissen, dass es dabei nicht bleiben wird), realisiert von Justin Lin, der maßgeblich am globalen Erfolg der Serie beteiligt war, würden sich neu hinzugekommene Zuschauer nur wundern, über all die Schwere und Tränen, die, wenn man ehrlich ist, auch für jene, die der Serie seit 2001 die Stabilisatorstange halten, nicht immer nachvollziehbar sind. Figuren kehren zurück oder haben eine Vorgeschichte, dann wird wieder gefahren mit Hip-Hop-Beats bis die Motoren glühen und die tanzenden Bikini-Girls aus den aktuellen Diskursen eliminiert werden wie aus einem Pitbull-Video.

Also um was geht es? Vin Diesels armeverschränkender No-Bullshit Dominic "Dom" Toretto lebt zusammen mit seiner großen Liebe Letty (Michelle Rodriguez) und seinem Sohn Brian (aus anderer Beziehung) zurückgezogen zwischen Scheunen und alten Karosserien. Dann aber erreichen ihn und seine Bande James-Bond-artiger Superagenten (ursprünglich waren es Autodiebe und illegale Streetracer) verstörende Bilder ihres ehemaligen Auftraggebers Mr. Nobody (Kurt Russell). Wieder einmal klemmt sich der Muskelprotz hinter das Steuer (man wundert sich wie er dort Platz findet), wobei er dieses Mal von mehr Frauenpower, mehr Identitätspolitik und vor allem stärkeren inneren Dämonen flankiert wird.

Denn nicht nur hat es die ultraböse, angenehm irre Cyberterroristin Cipher (Charlize Theron, die natürlich eigentlich Furiosa heißen müsste) erneut auf eine Art Weltauflösung mit Hilfe von wilden Magneten, Raketen, Überwachungssystemen, Hackerangriffen und Hologrammen abgesehen, sondern auch Doms jüngerer Bruder Jakob (John Cena) taucht auf, um sich dafür zu rächen, aus der Familie verstoßen worden zu sein. Am Toretto-Syndrom leidend, kann die Antwort auf den Verstoß aus der Familie nur lauten: alle töten.



Also um was geht es wirklich? Man würde glauben - und der herrlich ausgeflippte Vorgänger von F. Gary Gray hat das eindrucksvoll bewiesen -, dass es um Boom und Vroom und bestenfalls beides zugleich geht. Aber eigentlich geht es diesmal am ehesten um die eigene Rechtfertigung. So kommt Sidekick Tyrese Gibson die etwas nervige Meta-Rolle zu, ständig auf die fehlende Logik der Ereignisse zu referieren. Er betont etwa, wie unwahrscheinlich es ist, dass er nicht einmal verletzt wurde. Das ist in etwa so, als würde Sean Connery als James Bond sich wundern, dass er am Ende immer mit irgendeiner Frau im Bett landet. Man könnte auch sagen: Der Film traut seiner eigenen Fiktion nicht.

Hinzu kommt, dass die Handlung mit einem entscheidenden Flashback aus der Jugend der Toretto-Brüder gerahmt wird. Darin geht es um den tödlichen Unfall ihres Vaters bei einem Stock-Car-Rennen. Es ist nicht so, dass die damit verbundenen, von griechischen Dramen inspirierten Sentimentalitäten neu sind, sie werden nur stärker betont. "Fast & Furious 9" fragt dadurch auch nach der Rolle des Blockbusters heute. Es dürfte kaum überraschen, dass die Antworten äußerst konservativ ausfallen. Er soll laut und dosiert trashy sein, aber mit Herz. Er soll Spaß machen dürfen, aber auch selbstkritisch sein. Man verzeihe die platte Metapher, aber da hat jemand die Handbremse nicht lösen wollen.

Der tough girl black Latinovibe lässt kaum Ausbrüche zu, am Ende gibt es Tischgebet und anhimmelnde Blicke. Die alleinerziehenden Seifenoperdaddies mit den weichen Kernen und den harten Schalen (die Abwesenheit der in den Vorgängern anwesenden Dwayne Johnson und Jason Statham machen sich vor allem auf der wichtigen humoristischen Ebene sehr bemerkbar) werden zu Grillmeistern aus der Würstchenwerbung.



Anscheinend kann man die ganze Welt bereisen, mit einem Auto ins Weltall geschossen werden, aber keine Inspiration finden, sein Leben zu ändern. Das Maximum ist, das Ende der Welt zu verhindern (dazu müsste man allerdings vermutlich weniger Benzin verbrauchen). Trotz all der Werte gibt es keinen übergeordneten Gedanken, keinen wirklichen Subplot, keinen Sinn. Das ist nicht nur der Unterschied zum klassischen Hollywoodkino, sondern auch entlarvend. Denn um was es wirklich geht, ist selbstredend nur das Einspielergebnis. Was wahrlich keine besondere Erkenntnis ist, trifft die bei diesem Film so paradoxe Unbeweglichkeit der Industrie in ihrer Existenzgrundlage. Im testosterongesteuerten Adrenalinkick-Straßenrennen fährt die Angst an vorderster Front und genau deshalb sieht auch dieser Plot letztlich so aus, als hätte eine Maschine sämtliche Kommentare zu den Vorgängern aus dem Internet gefiltert und in eine einzige demokratische Suppe gegossen.

Daraus könnten wenn dann die Bewegungen selbst ausbrechen. Das gelingt zwar stellenweise, zum Beispiel in einer in all ihren physikalischen Unmöglichkeiten zu Ende gefilmten Verfolgungsjagd mit Magneten, die Automobile, Panzer und unkategorisierbaren Fahrzeugtypen aneinanderkleben lassen, aber bleibt schließlich am Dilemma aller modernen visuellen Effekte hängen: Wenn die Antwort auf die Frage "Wie haben sie das gemacht?", "Computer" lautet, dann fragt man sich nicht mehr, wie sie das gemacht haben.

So bleibt der wahnwitzigste Moment einem Dialog zwischen Cipher und ihrem arroganten Schergen vorbehalten, in dem die beiden verhandeln, wer welche Figur aus dem "Star Wars"-Universum verkörpert. Und natürlich Helen Mirren, deren erneuter Gastauftritt das trockene britische Pendant zur aufgeladenen kalifornischen Grundhitze liefert. Vielleicht ist es ja ganz gut, dass das Kino mit den alten Maschinen auffährt, um sich selbst zu behaupten. Aber selbst dann gilt frei nach Dom: Nicht das Auto entscheidet, sondern wer hinter dem Steuer sitzt.

Patrick Holzapfel

The Fast and the Furious 9 - USA 2021 - Regie: Justin Lin - Darsteller: Vin Diesel, Michelle Rodriguez, Jordana Brewster, Tyrese Gibson, Ludacris, Nathalie Emmanuel, Charlize Theron, John Cena, Helen Mirren - Laufzeit: 143 Minuten.

---



Im Berliner Haus der Kulturen der Welt läuft im Juli und August ein Sommerprogramm mit dem Titel "21 Sunsets", das unter anderem eine Filmreihe ("21 Archives") beinhaltet. Die von Stefanie Schulte Strathaus zusammengestellte Auswahl bietet essayistisches bis experimentelles Filmschaffen, das sich in der einen oder anderen Weise auf den Begriff des Archivs bringen lässt, von der ethnofonografischen Sammlung, die im Zentrum von Philip Scheffners "The Halfmoon Files" (2007) steht, bis zu maßgeblichen jüngeren Archivfunden wie Marta Rodríguez und Jorge Silvas Nuestras "voz de tierra, memoria y future" (1981), einem militanten Dokumentarfilm aus Kolumbien, der indigene Kämpfe zugleich dokumentiert und in eindrücklichen Symbolbildern allegorisiert. Ebenfalls wiederzusehen ist "Twenty-eight Nights and a Poem", ein Langfilmwerk von Akram Zataari aus dem Jahr 2015, in dem sich die jahrelange Beschäftigung des libanesischen Künstlers mit einem kommerziellen Fotostudio in seiner Heimatstadt Saïda (Sidon) verdichtet.



Seit 1953 hat Hashem al Madani in seinem Studio Sherazade die Bevölkerung der Küstenstadt Saïda abgelichtet, zunächst in erster Linie unter kontrollierten Studiobedingungen, später, auch weil technische Neuerungen es möglich machten, vermehrt im Freien. Vor allem unter den Badenden am örtlichen Strand erfreuten sich seine Dienste reger Nachfrage. Al Madanis Bilder sind ein Kompendium der medialen Selbstinszenierung: Männer und Frauen, jung und alt werfen sich vor dem Kameraobjektiv in Schale und in wechselnde Posen. Neben eher konservativen Familienanordnungen und Männern mit Maschinengewehr im Anschlag finden sich wie selbstverständlich homoerotische und transsexuelle Szenarios. Zwei Jungen als küssendes Brautpaar (den Schleier haben sie aus al Madanis Garderobe entwendet); ein betörend schöner junger Mann, der als Frau gesehen werden möchte; eine junge Frau, die sich bis auf ihre hochhackigen Schuhe entkleidet und ihren nackten Körper in eigenwilligen Posen verewigen lässt. "Twenty-eight Nights and a Poem" bringt dieses einzigartige Fotoarchiv, das heute, auch dank Zataaris Bemühungen, mit Recht als Teil des libanesischen Kulturerbes gilt, zum Schillern und - buchstäblich - zum Singen. Untermalt mit ägyptischer Popmusik und durchkreuzt von YouTube-Musikvideos aus Film und Fernsehen erscheint die kommerzielle Bildproduktion des Studio Sherazade noch einmal in ihrer ganzen Komplexität, changierend zwischen Selbst- und Herrschaftstechnik, Ermächtigung und kulturindustrieller Überformung.

Der Film bewegt sich zwischen dem Fotostudio in Saïda und der von Zaatari gemeinsam mit den Fotografen Fouad Elkoury und Samer Mohdad gegründeten Arab Image Foundation in Beirut, wo der Großteil von al Madanis Aufnahmen heute verwahrt ist. Die beiden Archive - das eine spontan in den Regalen und Schubladen einer verwinkelten Altbauwohnung gewachsen, das andere planvoll errichtet und mit moderner Archivinfrastruktur ausgestattet - könnten unterschiedlicher nicht sein, gehen in Zataaris Montage aber unterschiedslos ineinander über. Parallel zur Geschichte des Studio Sherazade erzählt "Twenty-eight Nights" eine medienarchäologische Geschichte wechselnder Formate, Apparaturen und Dispositive. Schmalspur-Filmformate treffen auf Smartphone-Videos, analoge Tonkassetten auf digitale Audiorekorder. Al Madanis Bilder werden, wie oben erwähnt, auf die dominanten Bilderwelten des ägyptischen Kinos und die populären Songs ägyptischer Popstars bezogen, die in zig Versionen und Formaten, von der Kinoleinwand bis zum Fernsehpropagandaevent im Beisein Hosni Mubaraks, durch den Film zirkulieren. Es ist eine komplexe Verschaltung unterschiedlicher Bildformen, die einander kommentieren, kontrastieren und neuerlich abbilden; eine Mise en abyme, die sich bewusst gegen den linearen Zeitstrahl des technischen Fortschritts richtet, wie in der Szene, in der Zaatari einen digitalen Vierfarbdrucker bei der Arbeit zeigt - gefilmt mit einer Super 8-Kamera und Filmmaterial aus al Madanis Besitz, das bereits 1976 abgelaufen ist. Als Zataari die Filmrolle auspackt, findet er einen Beipackzettel im Karton - ein Postschein, wie al Madani erklärt, um das abgefilmte Material zum Entwickeln nach Frankreich zu schicken.



Das übergreifende Thema dieser Versuchsanordnung, das sich im Verlauf des Films immer weiter zuspitzt und am Ende fast ausweglos erscheint, ist die totale Selbstreferenzialität medialer Apparaturen, zumal im Verbund mit hegemonialer oder gar propagandistischer Bild- und Tonproduktion. Allegorisch dafür steht der Liedtext, dem Ex-Präsident Mubarak inmitten seiner Militärentourage andächtig lauscht: "May the Arab sun never set." Vor diesem Hintergrund tritt das widerständige Moment an al Madanis kleiner Medienpraxis, mit ihrem beharrlich nachbarschaftlichen Selbstbezug, umso deutlicher in Erscheinung. In der letzten Einstellung sehen wir Zataari und al Madani in dessen Studio, wie sie auf einem Laptop ein Musikvideo betrachten, das dann auf den ganzen Raum übergreift. Ein weißer Lichtstrahl, wie er von einem Filmprojektor ausgehen könnte, entpuppt sich als Diskobeleuchtung, die das Studio in flirrende Farben hüllt. Dann legt sich der Sturm. Al Madani, ein leicht ironisches Lächeln auf den Lippen, ist immer noch hier.

Nikolaus Perneczky

Twenty-eight Nights and a Poem - Libanon 2015 - Regie: Akram Zataari - Laufzeit: 120 Minuten. Mehr Informationen zu 21 archives hier.