Im Kino

Künstler des Krieges

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Jochen Werner
20.10.2021. David Gordon Greens "Halloween Kills" ist emanzipatorisch, ohne die ansteckende Boshaftigkeit älterer Halloween-Filme zu verlieren, ja, noch blutrünstiger und sadistischer als diese.  Die konsequente Anwendung eines "colorblind storytelling" lässt Heinz Emigholz' "The Last City" nicht nur zu einer formal radikalen Einübung in Traumlogik werden, sondern auch zur ziemlich zynischen Parodie auf jedes Konzept von Identitätspolitik.


Zu den Kuriositäten der "Halloween"-Filmreihe gehört eine für das Horrorkino ungewöhnliche Verweigerung von Kontinuität. Lediglich vorübergehend stellte die mittlerweile zwölf Teile umfassende Filmserie innere Zusammenhänge her. Zeitweilig hatte sie sogar mit der Idee geliebäugelt, ihren Markenkern aufzugeben: Selbst auf das wichtigste "Halloween"-Erkennungszeichen, den ahnungslosen Bürgern des kleinen Städtchens Haddonfield mit Maske und Messer auflauernden Psychopathen Michael Myers, war in fast 45 Franchise-Jahren nicht immer Verlass. So ging der unter Fans damals übel beleumundete dritte Teil gänzlich andere Wege: Statt von Meuchelmörder Michael, seinerzeit bereits zur ikonischen Genrefigur aufgestiegen, erzählte der Film die herrlich beknackte Geschichte eines Spielwarenherstellers, der Kinder mithilfe gechippter Halloween-Masken töten wollte. Am Ende gelang es dem unermüdlichen B-Movie-Star Tom Atkins nur ansatzweise, die Pläne des keltischen Glaubensritualen anheim gefallenen Firmenchefs zu vereiteln.

Jene tödlichen Kindermasken tauchen jetzt als prominent platziertes und wehmütig stimmendes Bildzitat in "Halloween Kills"" erneut auf - die schön zerfaserte Reihe zeigt sich um immerhin ästhetische Zirkelschlüsse bemüht. Publikumsrückkopplungen wie diese wollen als liebevolle Gesten vereinheitlichen, was in den widersprüchlichen Erzählungen der früheren Filme ständig neue Fragezeichen produziert. Der unmittelbare Vorgänger des aktuellen "Halloween"-Teils machte 2018 sogar eine gänzlich neue Zeitlinie auf. Er knüpfte direkt ans Original von 1978 an und ignorierte nicht nur die munteren Fortschreibungen des Myers-Kanons (in dem es zwischenzeitlich auch, wieder herrlich beknackt, um eine Druiden-Sekte ging, die in Michael ihren Auserwählten sah), sondern ebenfalls die Entwicklung der Antagonistin Michaels: Laurie Strode, gespielt von Jamie Lee Curtis. Ihre Figur mutierte im Serienverlauf von einer willkürlich attackierten Babysitterin zur erbarmungslos gejagten Myers-Schwester, die zwischenzeitlich von der Bildfläche verschwand, wobei zunächst unklar blieb, ob Curtis der Reihe endgültig den Rücken kehren oder doch noch einmal die Rolle der ewigen Scream Queen übernehmen würde (sie kam schließlich 1998 zurück, für den schön melancholischen "Halloween H20").



Ein vorläufiges Ende bescherte dem Strode-Charakter 2002 der achte "Halloween"-Film mit dem allzu programmatischen Titel "Resurrection", der in allen Belangen so verfehlt und unwürdig geriet, dass er einen kompletten Neustart unausweichlich machte. Erst zum 40. Jubiläum von John Carpenters Klassiker gelang den Produzenten des schlicht "Halloween" genannten und als Auftakt einer neuen Trilogie gedachten Wiedersehens, die nunmehr 60-jährige Jamie Lee Curtis ein weiteres Mal aus dem Franchise-Ruhestand zu holen. Von Myers-Blutsbanden wollte man jetzt nichts mehr wissen, Michael und Laurie wurden einfach zurück auf Anfang gesetzt, der aus der Anstalt entflohene Killer ohne ersichtliches Motiv wieder gegen sein unerwartet wehrhaftes Opfer in Stellung gebracht.

Curtis ist freilich umwerfend in diese Rolle gealtert. Für sie markierte "Halloween" damals den Beginn eines Rollen-Images, von dem sie sich erst langwierig befreien musste, um es Dekaden später doch wieder umarmen zu können. Der tumbe Masken-Michael mag das kommerzielle Zugpferd der Serie sein, doch Jamie Lee Curtis ist bis heute ihr emotionales Zentrum: Eine Genreheldin, die vom freudlos-tugendhaften Mädchen in langem Rock und langen Strümpfen zur entschlossenen, dem Tyrannen ihres Lebens die Stirn bietenden Frau reifte (stets mit einer gewissen Erhabenheit, die Curtis als Tochter zweier großer Stars des alten Hollywood womöglich ganz von selbst mitbrachte).

Unglücklicherweise verkündet die bekannte Losung der Serie ("You can't kill the boogeyman") seit jeher auch die Nutzlosigkeit solcher Defensivbemühungen: Nachdem Laurie sowie ihre Tochter (Judy Greer) und Enkelin (Andi Matichak) glaubten, den Widersacher bezwungen zu haben, metzelt sich Michael Myers in "Halloween Kills" ein weiteres Mal einigermaßen unbeeindruckt durch Haddonfield. Laurie Strodes Anteil ist (hoffentlich nur) für diese Fortsetzung auf eine Handvoll Szenen beschränkt, in denen sie schwer verletzt das Bett hütet, während sich vor dem Krankenhaus garstige Vigilantemobs zusammenbrauen. Der damit einhergehende Fokuswechsel sorgt für eine gewinnbringende Neuperspektivierung der Geschichte, weil er das Augenmerk auf jene Bewohner des immer schon zentralen Spielorts richtet, die vom Trauma der Jahrzehnte zurückliegenden Halloween-Morde geprägt worden sind. Die eher fadenscheinig als allgegenwärtige kollektive Erfahrung begründete Vergeltungssehnsucht produziert heftige Begleitschäden, bevor allen Beteiligten ein genretypisches Schicksal blüht. Laurie nennt das ausgebrochene Chaos "Michaels Meisterwerk": Im großflächigen Rückfall hinter zivilisatorische Errungenschaften sieht sie das ultimative Verdienst des Gift streuenden Terrorschlitzers.



"Halloween Kills" ist nicht der erste Teil der Reihe, der reaktionäre Bürgerwehren und vergleichbare Gruppierungen thematisiert, die versuchen, aus Michaels Leichenbergen eigenen Nutzen zu gewinnen. Er tut das jedoch zum einen unter Mitwirkung bekannter Figuren und Gesichter des Originalfilms, die nicht als rein nostalgischer Wink auftreten, sondern angemessen glanzlos zum Blutzoll und der allgemeinen Überreizung beitragen (auch ein großer Star der Reihe kommt zu unerwarteten Ehren, leider ist es nicht Tom Atkins). Zum anderen geht der Film mit einer Schnörkellosigkeit ans Werk, die sich wahrscheinlich nur ein Trilogiemittelstück erlauben kann, das nicht dazu verpflichtet ist, ein ganzes filmisches Universum auszuerklären. Oft funktionieren solche "Zwischenfilme" nicht so recht, weil alles zwischen den Seilen zu hängen scheint. Regisseur David Gordon Green jedoch scheint sich diesmal wohl zu fühlen: Die eher hüftsteife, mit dem Horrorgenre spürbar fremdelnde Carpenter-Emulation des Vorgängers weicht hier einer selbstsicheren Konsolidierung ohne Ballast. Anders formuliert: "Halloween Kills" geht in die zuvor lediglich versprochenen Vollen. Er ist die saftige Mitte eines Sandwichs, dessen Belag an allen Seiten nur so herausquillt.

Was eine der Bedeutung nachspürende Filmkritik möglicherweise als gegenwartsdiskursive Einschüsse identifizieren mag (die Darstellung sich radikalisierender Gruppen oder das emanzipatorische Moment weiblichen Widerstands gegen die Myers-Angriffe), bleibt immer nur angerissen, droht nie die niederschmetternde Aggressivität und manchmal gar ansteckende Boshaftigkeit des Films abzuschwächen. "Halloween Kills" nämlich, das muss schon klar betont werden, ist blutrünstig und sadistisch wie bisher kein anderer Teil der ohnehin nie zimperlichen Serie. Die Fortsetzung ähnelt der rabiaten Interpretation des Materials von Musiker und Regiewüstling Rob Zombie, der sein eigenes braves Carpenter-Remake 2009 ebenfalls mit dem komplett entfesselten Nachschlag "Halloween II" konterkarierte. Genau wie er denkt David Gordon Green die Figur Michael Myers nicht vom potenten Mythos her, sondern lässt sie ganz Lumpenberserker ohne nennenswerte Eigenschaften sein. Die vorrangige Aufgabe des unkaputtbaren Kinomonsters besteht mittlerweile darin, einer breit gefächerten Zerstörungslust grobe Kontur zu verleihen - als schemenhafter Ausdruck urböser Prinzipien.

Rajko Burchardt

Halloween Kills - Regie: David Gordon Green - Darsteller: Jamie Lee Curtis, Judy Greer, Andi Matichak, James Jude Courtney, Nick Castle - Laufzeit: 105 Minuten.

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Am Anfang begegnen wir John Erdman und Jonathan Perel wieder, in einer Konstellation, die direkt an "Streetscapes [Dialogue]" anknüpft, jenen grandiosen Film, in dem der deutsche Experimentalfilmemacher Heinz Emigholz die Protokolle seiner eigenen Psychotherapie - oder vielmehr eines künstlerisch-therapeutischen Analysemarathons, den er gemeinsam mit dem befreundeten israelischen Traumatherapeuten Zohar Rubinstein unternahm - mit der spezifischen Form seiner Architekturfilme verknüpfte. Der Amerikaner Erdman und der Argentinier Perel agierten als Doubles für Emigholz und Rubinstein in einem über zweistündigen Dialog, der in einem Praxissetting beginnt und den Emigholz dann in seinen typisch schief verkanteten Einstellungen in den Stadtraum und in die Gebäude des uruguayischen Architekten Elardio Dieste, denen er auch einen weiteren, eigenen und wie zuvor gewohnt stummen Film gewidmet hat, hineinstellt.

Am Anfang von "The Last City" stehen Erdman und Perel inmitten einer archäologischen Ausgrabungsstätte in der israelischen Negev-Wüste und setzen ihren im früheren Film begonnen Dialog nur scheinbar ungebrochen, durch die Wüste und in die Stadt Beer'Sheva hinein, fort. Denn zwischen den Filmen ist einiges geschehen. Der einstige Psychotherapeut hat seinen Beruf an den Nagel gehängt, aus einem Bedürfnis heraus, selbst schöpferisch tätig zu werden. Heute designt er Waffen, ein Philosoph und Künstler des Krieges, und der Film sieht plötzlich allüberall ornamenthafte Nano-Drohnen, von martialischen Kinderzeichnungen bis zu Erdmans Schlafanzug. Der hier aufgenommene Erzählstrang bricht jedoch abrupt ab. In einer anderen Stadt, in Athen, wacht Erdman neben einem jungen asiatischen Mann auf, den er anhand von Narben und Tätowierungen als sein eigenes, jüngeres Ich identifiziert und mit dem er einen Dialog über Jugend und Alter, Entscheidungen, Erfahrungen und Fehler beginnt.

Dieser junge Mann wiederum wird in einer dritten Episode in Berlin einen schwulen Priester spielen, der in einer glücklichen inzestuösen Beziehung mit seinem Bruder, einem Polizisten, lebt. Die Mutter der beiden wird in der vierten Episode wieder auftauchen als chinesische Frau, die in Hongkong mit einer intellektuellen Japanerin (Susanne Sachsse in einer Art Yellowface) ein Gespräch über die japanischen Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs und die Konzepte von nationaler wie individueller Ehre und Kollektivschuld führt. Und Susanne Sachsse schließlich erzählt einem Liebhaber - erneut Jonathan Perel, ein Kreis schließt sich und beginnt neu, oder verdreht er sich eher zu einer Spirale? - in São Paulo ihren Traum, in dem sie eine Deutsche war, philosophiert über extraterrestrisches Leben und hat einen Autounfall.



Jede dieser Episoden wird zunächst unabgeschlossen abgebrochen, und zu jeder kehren wir gegen Ende von "The Last City" noch einmal zurück, für eine Art Coda, die sie vielleicht abschließt und vielleicht auch nicht. Jede dieser Episoden ist mit der vorhergehenden sowie der nachfolgenden verknüpft durch eine*n Schauspieler*in, jedoch nicht durch ihre Figuren, die sich vielmehr fortwährend in verschiedenen Auflösungszuständen ihrer immer längst schon fluiden Identitäten befinden. Die konsequente Anwendung eines "colorblind storytelling" im Hinblick auf die konzeptuelle Integration dieser Fluidität in das Narrativ von "The Last City" lässt den Film nicht nur zu einer formal radikalen Einübung in Traumlogik werden, in der Orte, Figuren, Zeiten sich stetig überlappen, durchkreuzen, widersprechen oder anreichern, sondern auch zur ziemlich zynischen Parodie auf jedes Konzept von Identitätspolitik. "Wir sind nicht identisch", so kommentiert Emigholz selbst seinen Film, "wir sind Multituden."

Es ist ein großes Glück, dass Heinz Emigholz nach einer langen Zeit, in der er sich vornehmlich stummen Erkundungen von Architekturen und Lebensräumen - Hardcore-Dokumentarfilmen, wie er sie selbst nennt - gewidmet hat, nun in gehobenem Alter die gesprochene Sprache für sich wiederentdeck. Es scheint, als werfe sich Emigholz nun, Jahrzehnte nach so durchgeknallten wie fantasievollen (und oft ungeheuer lustigen) narrativen Experimenten in Filmen wie "Der zynische Körper" oder "Die Wiese der Sachen", in diese Wiederentdeckung mit nicht so schnell versiegendem Elan hinein: Wo "Streetscapes [Dialogue]" noch auf das eigene Therapieprotokoll als eine Art Found Footage zurückgreift, handelt es sich bei "The Last City" um einen komplett geskripteten Episodenfilm, der in diesem Jahrtausend bisher im emigholzschen Werk eher unvorstellbar schien - und der mit "The Lobby", einem zornigen Monologfilm über den Tod, bereits eine Fortführung erhielt.

Überhaupt, der Zorn: selbst die innig mit Emigholz' jüngeren, abstrakt-dokumentarischen Arbeiten vertrauten Zuschauer*innen dürften verblüfft sein von der Wut und der Vehemenz, mit der "The Last City" in einem konsequenten Nihilismus schwelgt, der sich zu Gewaltfantasien zuspitzt. In den 80er-Jahren hatte Emigholz mit seinem Film "Die Basis des Make-Up" bereits einmal für einen deutschen Filmskandal gesorgt, aber das dekadenlange Filmen stummer Architekturen kann eine solche transgressive künstlerische Sensibilität durchaus in Vergessenheit geraten lassen. Emigholz selbst scheint freilich nicht gewillt, so rasch wieder von ihr abzulassen, was im Falle des zwar konsequent verbalen, aber darin nicht weniger radikalen "The Lobby" gar zum Bruch mit seinen langjährigen Produzent*innen führte, die dem Projekt einen "Mangel an kommerziellem Potenzial" attestierten. Wenn man die als kommerzieller bewerteten früheren gemeinsamen Produktionen zum Vergleich heranzieht, bedeutet das einiges.

Auch in der Zukunft scheint die unermüdliche Produktivität des immer schon in ausufernden Zyklen denkenden und arbeitenden Emigholz nicht zum Stillstand kommen zu wollen. Eine weitere filmische Arbeit mit seinem Alter Ego John Erdman ist ebenso bereits in Arbeit wie eine Adaption von "The Lobby" für die Theaterbühne. Man darf das vermutlich für eine sehr gute Nachricht halten, denn was "Streetscapes [Dialogue]" bereits angedeutet hat, wird mit "The Last City" zur Gewissheit: Hier ist ein radikal intellektueller und mit Massen an Vorstellungskraft und, ja, doch: Humor ausgestatteter Filmkünstler in eine hochspannende neue Schaffensphase eingetreten.

Jochen Werner

The Last City - Deutschland 2020 - Regie: Heinz Emigholz - Darsteller: John Erdman, Dorothy Ko, Jonathan Perel, Susanne Sachsse - Laufzeit: 100 Minuten.