Im Kino

Technikfetische

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann, Robert Wagner
27.10.2021. Yann Gozlan erzählt in "Black Box" am Beispiel eines Flugzeugabsturzes, wie Versuche zur technischen Entschlüsselung der Welt direkt in die Paranoia führen. Monika Treut besucht in ihrer Doku "Genderation" Mitglieder der Transgender-Community, der sie 1999 ihren Film "Gendernauts" gewidmet hatte.


Gegen Ende taucht Mathieu Vasseur (Pierre Niney) in einen See. Es ist Nacht. Er muss unter Wasser etwas finden, von dem er noch nicht weiß, was es ist. Allein und ohne Sicht bleibt ihm nur ein ausgesandter Piepton, um das Etwas zu orten. "Black Box" fasst sich hier in einem Bild zusammen. Ein Flugzeug ist in den Alpen abgestürzt. Es gab 300 Tote. Die Black Box ist beschädigt und der pedantische, detailverliebte Mathieu muss im Rauschen der Aufnahme der Box Erklärungen dafür finden, was passiert ist.

Er findet ein ziemlich deutliches "Allahu akbar", weshalb der Terrorhintergrund schnell Gewissheit ist. Nur verschwindet ebenso schnell Mathieus direkter Vorgesetzter von der Bildfläche und zum Zeitpunkt der Tat stellt sich der Weg des Täters zum Cockpit als unpassierbar heraus. Je weiter sich unsere Hauptfigur in den abstrakten Wust aus Fiepen, Knistern, Wortfetzen und Statik begibt, desto weniger Sinn ergibt die Terrortheorie, desto mehr sieht er sich von einer Verschwörung umgeben.

Der Film beginnt mit einer (digital zusammengefügten) Plansequenz, die uns vom Armaturenbrett des Cockpits durch Business und Economy Class bis in die dunkle Kammer führt, in der die Black Box liegt und stoisch aufzeichnet. Es sind die Minuten vor dem Absturz, die wir sehen und hören und die wir wieder und wieder zu sehen und hören bekommen. Aus immer neuen Blickwinkeln, die sich durch Fotomaterial der Passagiere aus den sozialen Medien ergeben und aus Tönen, die durch Ver- und Entzerrungen, durch neues Wissen immer neue Implikationen bereithalten.

Regisseur und Mitdrehbuchautor Yann Gozlan lehnt sich an Francis Ford Coppolas "Der Dialog" (1974) an. Auch da geht es um eine kurze Tonspur, deren Bedeutung sich im Laufe des Films mehrmals verändert. Die beiden Filme gleichen sich aber auch darin, dass sie von professioneller Sicherheit handeln und wie sich diese zersetzt, je mehr man sich in die abstrakte Unendlichkeit der jeweiligen knappen Abschnitte eingräbt. Während Harry Caul von Coppola jedoch als Meister seines Fachs dargestellt wird, trägt Mathieu schon von Beginn an den Makel des Überpeniblen. Kein Detail scheint ihm nicht erforschenswert. Seine Vorgesetzten, Freunde und seine Frau Noémie (Lou de Laâge) bitten ihn, etwas lockerer an die Sache heranzugehen. Wenn seine Nachforschungen wiederholt in eine Sackgasse führen, ist der Zweifel an ihm längst gesät.



Unsicherheit lässt "Black Box" beim Zuschauer nur im Sinne der Suspense aufkommen. Während Mathieu im Dunkeln fischt, bekommen wir ein Puzzle, dass sich vor unseren Augen zusammensetzt und ein klares Gesamtbild ergeben wird. Seine stärksten Momente erreicht der Film gerade dann, wenn nicht klar ist, wohin sich dieses Puzzle entwickelt, welche Paranoia recht behalten wird: Haben wir es wirklich mit einer Verschwörung zu tun, oder mit jemanden, der sich in seinem Verstand verloren hat. Die Physiognomie und das Spiel Pierre Nineys sind dafür wie geschaffen. Mit den harten Außenkanten seines Gesichts und dem wenig expressiven Spiel transportiert er genug Selbstsicherheit. In den Gesichtszügen selbst wie in den Augen steckt jedoch eine grazile Weichheit, die den Anschein erweckt, dass genau diese Sicherheit kurz vorm Zerfließen steht.

Was im anfangs beschriebenen Bild eines von Tönen umgebenen Einzelkämpfers nicht enthalten ist, ist die technische Komponente von dessen Arbeit. Abseits vom Moment im See arbeitet Mathieu unentwegt mit Hilfsmitteln. Das Aufsetzen der Kopfhörer wird geradezu zelebriert. Erst mit ihnen wird er zu dem übersensiblen Audiophilen, der jedes Rauschen entziffern kann. Ohne sie ist er zuweilen ein Wrack, das unter den unzähligen Details einer gewöhnlichen Klangkulisse zusammenzubrechen droht. Die Kopfhörer sind auch Mauer gegen die Außenwelt und nötiger Filter. Hinzu kommen die optischen Darstellungen der Tonspur auf den digitalen Mischpulten, die per Mausklick und Tastendruck so lange manipuliert werden, bis einzelne Schichten freigelegt und verständlich werden.

Das greift den Diskurs von Clint Eastwoods "Sully" (2016) auf, wo im Nachgang der Notlandung eines Flugzeugs ausgehandelt wird, ob menschliche Intuition bei aller Technisierung überhaupt noch notwendig, nicht sogar bereits ein Problem ist. Wo Eastwood ein klares Plädoyer für die menschliche Komponente darlegt, da liegt die Katastrophe hier sowohl in individueller menschlicher Fehlerhaftigkeit und blindem Technikglauben als auch in institutionellen und kapitalistischen Strukturen begründet.

Dieser Rundumschlag, in dem das Verhältnis zur Technik und Gesellschaft hochproblematisch bleibt, ist durchdrungen von Bildern eines Technikfetisches. Eines Fetisches, in dem Technologie das Leben nicht vereinfacht, sondern zum Hilfsmittel der Paranoia wird. Die scheinbare Entschlüsselung der Welt führt zu noch mehr Problemen, zu noch mehr Unsicherheit, zu einem Wimmelbild, in dem sich Abgründe verstecken. Der geradlinige Thriller "Black Box" findet hier, in seinem Verständnis von Technik, seine spannendste Facette: Wenn er die Lust an Verschwörungstheorien zu seiner Grundlage macht - eine verführerische Kraft, die Sinn im Chaos findet.

Robert Wagner

Black Box - Frankreich 2021 - OT: Boîte noire - Regie: Yann Gozlan - Darsteller: Pierre Niney, Lou de Laâge, André Dussollier, Sébastien Pouderoux, Olivier Rabourdin - Laufzeit: 129 Minuten.

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Vor gut zwanzig Jahren war Monika Treuts "Gendernauts - Eine Reise durch die Geschlechter" (DE 1999) der Film, der Jennie Livingstons "Paris Is Burning" (USA 1990) in den Seminaren der Gender und Performance Studies ablöste oder jedenfalls flankierte. Als ein Film, der zu den Texten von Autorinnen wie Judth Butler oder Donna Haraway in mehr oder weniger bestimmter Beziehung stand, ohne sie einfach zu illustrieren. Aber auch als Welt, die unabhängig von Texten und Theorien ihre Existenz geltend machte und für die Zuschauer wie für die Filmemacherin eine Entdeckung bedeutete.

Der Blick in "Gendernauts" ist neugierig, affirmativ, fasziniert. Er richtet sich auf eine Transgender-Community, die für sehr kurze Zeit im San Francisco der späten 1990er Jahre zu einer Sichtbarkeit fand, die sie davor und danach nie wieder haben würde, und für die Doing Gender zugleich eine alltägliche und eine festive Praxis war. Entsprechend ist das Ensemble-Porträt, das Treut in dem Film von 1999 entfaltet, ein Defilee der Orte, zu denen Wohn- und Schlafzimmer ebenso gehören wie die Straße, der Strand, die Klinik, die Ballräume und Clubs, in denen Gender performiert und in Szene gesetzt wurde: immer enthusiastisch, manchmal spektakulär und durchweg getragen von einem Glauben an die Möglichkeiten, unbegrenzte vielleicht, die sich durch Biochemie, Medizin und neue Technologien eröffnet hatten.

"Gendernauts" ist auch ein Film zur Tech-Geschichte. Nicht nur, weil in den Statements und Handlungen einiger Protagonist:innen die betonte Affinität zur IT und deren Anwendungen deutlich wird, sondern weil sich darin bereits jene Entwicklungen abzeichnen, die aus der Stadt San Francisco zwanzig Jahre später eine gründlich verwandelte Welt gemacht haben, die ökonomisch von High Tech-Firmen dominiert, finanziell exklusiv organisiert, sozial homogenisiert und auch sonst mit allen Markern der Gentrifizierung versehen ist. Es ist diese Welt, in die Treut 2019 für die Dreharbeiten zu "Genderation" (DE 2021) zurückkehrt, und in der sie die Protagonist:innen von damals teils nicht mehr antrifft, weil die Immobilen unbezahlbar geworden und die ehemaligen Subkulturen so gut wie verschwunden sind.

Dass Protagonist:innen wie Sandy Stone oder Texas Tomboy auf ihre Weise zu dieser Verwandlung beigetragen haben könnten, ist eine Möglichkeit, um die "Genderation" weiß, ohne sich allzu lange damit aufzuhalten. Stattdessen wird der Film damit befasst sein, am Motiv der Reise, im Film von 1999 noch titelgebend, festzuhalten, die Navigation zur eigenen Sache zu machen, was, egal wie man es betrachtet, ein sehr melancholisches Projekt ist. Die einstigen Gendernauts sind nur noch vereinzelt unterwegs (das heißt: sichtbar, in Bewegung, mit Erkundungen befasst); das Filmteam hingegen ist es umso mehr, von San Francisco nach Oakland, von Oakland nach Denver, von Denver nach Santa Cruz, beharrlich auf einer Suche, die verschiedenen Personen gilt, aber auch dem, was diese Personen vor zwei Jahrzehnten verkörpert haben. Die Aufbruchsstimmung. Der Optimismus. Der Glam und das Selbstbewusstsein einer Community, von der 2019 nicht mehr viel übrig ist, und die hier für die Dauer von knapp 90 Minuten rekonfiguriert wird.



Autofahren ist ein prominentes Motiv in "Genderation" (und manchmal sitzt dabei sogar jemand von damals am Steuer oder auf dem Rücksitz). Ein anderes Motiv, wichtiger und bezeichnender für den Status quo im dritten Jahr des Amtszeit des Präsidenten Trump, sind die Häuser, die in allen Begegnungen des Films eine Rolle spielen. Häuser, die noch zur rechten Zeit gekauft worden sind. Häuser, die heute nicht mehr bezahlt werden könnten, weshalb die einen (Susan Stryker, Annie Sprinkle, Beth Stephens) auch 2019 einen Wohnsitz in San Francisco haben, und die anderen (Sandy Stone, Stafford) andernorts nach Häusern Ausschau halten, die auf einmal im Wald oder in der Wüste stehen; manchmal auch in der Nähe von Denver, wo sich das Haus der Eltern von Max Valerio befindet, in das er irgendwann wieder eingezogen ist.

Es wird viel gesprochen in diesem Film, viel Selbstauskunft vorgebracht und immer wieder eine Positionierung vorgenommen, aber in bestimmtem Sinne sind es die Häuser, die am deutlichsten davon künden, was für die Gendernauts, die nicht mehr allzu viel reisen, zugleich ein Versprechen und ein Verhängnis bedeutet: Ankunft, Sesshaftigkeit, Schutz; die so genannte Privatsphäre; der Rückzug, das Ende der Navigationen; die vier Wände, hinter denen noch eine Terrasse liegt.

Es gibt Ausnahmen. Und Momente des Comic Relief, von denen viele der großen Performerin Annie Sprinkle und ihrer Partnerin Beth Stephens gehören, die ihr Haus ebenfalls rechtzeitig erworben, es dann aber zu einem Hub für Künstler:innen und künstlerische Aktivitäten aller Art gemacht haben, die von dort in alle Richtungen wuchern und Seminarräume sowie Stephens' Büro an der Universität von Santa Cruz ebenso einbeziehen wie die vielen Orte des öffentlichen Auftritts, an denen Sprinkle & Stephens in ziemlich wahnsinnigen Kostümen und bester Laune für ihr Projekt des ökosexuellen Wandels werben. Andere Momente sind leiser; die schönsten unter ihnen vielleicht jene, in denen Sandy Stone, die gerade dabei ist, ein relativ luxuriöses Walden weitab der urbanen Settings zu beziehen, von einer außer-gewöhnlichen Liebesgeschichte berichtet und ihre Patchwork-Familie ("we are a very normal family") anhand eines Gruppenfotos vorstellt.

Nicht alle sind noch da, nicht alle haben sich wieder finden lassen. Manche von ihnen erscheinen resigniert, andere etwas einsam, einige weitere unbeirrt, und wenn es für einen langen Moment danach aussehen haben mag, dass die Zeit der Entdeckungen für die Gendernauts vorbei ist, wird der Film am Ende doch eine andere Geschichte erzählen. "Some people settle in their identity", sagt Sandy Stone in einer der letzten Einstellungen. "I certainly have not." Was, gelassen, beiläufig und wie selbstverständlich formuliert, eine erstaunlich beglückende Aussage ist.

(Hinweis: Monika Treut war im akademischen Jahr 2018/19 und im Wintersemester 2019/20 Gastprofessorin für Film und Bewegtbild an der Universität Hildesheim, an der ich ebenfalls als Professorin tätig bin.)

Stefanie Diekmann

Genderation - Deutschland 2021 - Regie: Monika Treut - Laufzeit: 88 Minuten.