Im Kino

Bitte etwas weiblicher

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg, Michael Kienzl
03.11.2021. Mia Hansen-Løve sucht in "Bergman Island" die schmeichelnden Perspektiven und Glücksmomente, die ihr bei Ingmar Bergman fehlen. Laurentia Genske und Robin Humboldt begleiten in ihrer Doku "Zuhurs Töchter" eine syrische Flüchtlingsfamilie mit zwei Transtöchtern.


Auf der Insel Fårö, hoch oben vor der schwedischen Ostseeküste, hat Ingmar Bergman seine Meisterwerke gedreht: "Szenen einer Ehe", "Persona", "Wie in einem Spiegel". Die Insel war dem Regisseur Inspirationsquell und Refugium in Lebenskrisen. Fünfzig Jahre später kommen Tony und Chris nach Fårö, nicht um hier eine Krise zu bewältigen, sondern um ihren Sommer zu verbringen. Beide sind Regisseure, der deutlich ältere und erfolgreichere Tony (Tim Roth) hat ein Stipendium der Bergman-Stiftung erhalten, Chris (Vicky Krieps) begleitet ihn, jünger und unsicherer, aber mit mehr Fragen an das Leben und die Kunst. Hinter diesen beiden Personen sind unschwer die Regisseurin Mia Hansen-Løve und ihr Lebenspartner Olivier Assayas zu erkennen, was nicht bedeutet, dass es sich eins zu eins um eine autobiografische Geschichte handelt; sondern, dass Hansen-Løve wie in ihren anderen Filmen auch von einem Leben mit dem Film erzählt, weil dieses Leben nun mal das ihre ist.

Die beiden dürfen den Sommer über in Bergmans Haus leben und arbeiten, um sich inspirieren zu lassen von Bergmans Werk, dem Ort, seinen Menschen, dem Licht. Wenn Chris stöhnt, sie fühle sich vor dem Übervater wie eine Versagerin, bescheidet Tony ihr kühl, dass niemand von ihr "Persona" erwarte. Die beiden streifen über die sonnendurchflutete Insel und durch ihre malerischen Dünen, Tony muss hin und wieder im Bergman-Museum zu einer Podiumsdiskussion, Chris schwänzt zwar die Bergman-Safari, kauft sich dafür aber eine Sonnenbrille, wie sie Bibi Andersson trug, und natürlich schlafen die beiden genau in dem Bett, in dem "Szenen einer Ehe" gedreht wurde. Nicht anders als bei den Touristentouren, ist dies für Chris und Tony der Film, "nach dem sich Millionen Menschen haben scheiden lassen" - und nicht ein Werk, von dessen tiefgründiger Traurigkeit man nachhaltig erschüttert wird. Von Bergmans Verzweiflung möchte sich Chris nicht herunterziehen lassen: "Seine Filme sind hart, aber sie tun mir gut", sagt Tony. "Seine Filme verletzen mich", sagt Chris.

Warum musste er seine neun Kinder - von sechs verschiedenen Frauen - so schlecht behandeln? Kann man nicht ein großer Künstler und trotzdem ein guter Vater sein? Chris fordert Kohärenz von Leben und Werk, der schwedische Museumsdirektor kontert trocken, dass Bergman in beidem, in Film und Leben, grausam war. Aber warum mussten seine Charaktere immer so düster sein? Hätte er nicht auch mal die helleren Seiten des Lebens erkunden können - zum Beispiel das Glück?

Mia Hansen-Løve hat bereits in früheren Filmen ihre Entschlossenheit bewiesen, nicht in Abgründe zu blicken. So als wäre es eine Frage der Willensanstrengung, hinter den Klippen die aufgehende Sonne zu erblicken. Sie liebt das Filmemachen, die Pariser Filmkreise, den intellektuellen Glamour, den ästhetischen Feinsinn. Warum also nicht zeigen, wie glücklich das macht? Ist das unbedarft? Wenn Bergman die Insel in Bildern von gleißender Schönheit zeigt, taucht Hansen-Løve sie in ein Licht von milder Wärme. Bei ihr gibt es keine harten Schnitten, keine unerbittliche Kamera, sondern sanfte Bewegungen und schmeichelnde Perspektiven. Der Stockholmer Student, mit dem Chris zu flirten beginnt, erscheint so sanft und ephemer, dass man nicht weiß, ob er real ist.



In "Der Vater meiner Kinder" zeichnete die Regisseurin ein liebevolles Porträt des Produzenten Humbert Balsan, der sich mit fünfzig Jahren das Leben genommen hat. Anstatt zu erkunden, was diesen Mann in die Verzweiflung gestürzt hat, erzählte sie von ihm als einem wunderbaren Menschen, Freund und Familienvater. In "Eden" feierte sie den French Touch der Neunziger Jahre. In "Was kommt" trotzte Isabelle Huppert als Philosophieprofessorin allen Anwürfen des Lebens - ihre Mutter stirbt, ihr Mann verlässt sie, ihr Verlag beendet ihre Buchreihe - mit dem eisernen Willen, solche Ereignisse nicht als Verluste zu verstehen, sondern als Zugewinn an Freiheit.

In "Bergman Island" nun ist Chris eine Regisseurin, die es gut mit dem Leben meint, mit der es aber auch das Leben gut meint. Die Luxemburgerin Vicky Krieps ist dafür eine hervorragende Besetzung, nicht nur weil ihr leichter Akzent Hansen-Løves dänischen Hintergrund anklingen lässt. Lang, zart und anmutig zugleich verkörpert sie wunderbar jenen Typ Frau, der sich keinen Raum erobern muss: Andere werden sich überschlagen, um ihr die Steine aus dem Weg räumen. So hat sie schon Daniel Day-Lewis in "Der Seidene Faden" an die Wand gespielt. Und so kann auch Tim Roth als Tony nichts anderes tun, als ein wenig väterlich sein Vertrauen in ihr Talent zu bekunden.

Doch gerade wenn man sich zu wünschen beginnt, er würde ihr etwas entgegensetzen, um die Lieblichkeit auf die Probe zu stellen, nimmt der Film eine Wendung. Chris erzählt von ihrer Filmidee, die sie auf Fårö entwickelt hat und die sich vor unseren Augen zu entfalten beginnt: Die Regisseurin Amy (mit Mia Wasikowski ebenfalls treffend besetzt) kommt für die Hochzeit ihrer Freunde auf eine schwedische Insel, wo sie ihrer großen Jugendliebe wiederbegegnet.

Auf den ersten Blick erscheint dieser Film im Film - "Das weiße Kleid" - als eine sinnlich unbeschwerte Romanze unter erfolgsverwöhnten Millennials, ein Gegen-Bergman sozusagen, in dem die Melancholie dem Verflossenen nur noch mehr Appeal verleiht. Hier lästern Bergmans Verächter darüber, dass er sich während des Zweiten Weltkriegs mit einem Furunkel als Ausrede vor der Armee drückte. Und wer bitte hatte keinen patriarchalen Vater? Auf den zweiten Blick ist dieser Film im Film aber auch ein selbstironischer Kommentar der Regisseurin auf sich selbst, ein Anti-Hansen-Løve, der "Bergman Island" zu einer selbstkritischen Reflexion über das Filmemachen, die Kreativität, und am Ende auch den Narzissmus macht: Die Regisseurin Amy, die sich so bereitwillig ins aufregende Gefühlschaos stürzt, bleibt von tieferen Gewissenskonflikten unberührt. Sie ist nicht untreu, sie liebt einfach zwei Menschen - und tanzt fröhlich zu Abbas "The Winner Takes it All". Ingmar Bergman würde sich im Grabe umdrehen.

Thekla Dannenberg

Bergman Island - Frankreich 2021 - Regie: Mia Hansen-Løve - Darsteller: Vicky Krieps, Tim Roth, Grace Delrue, Mia Wasikowska, Anders Lanielsen Lie - Laufzeit: 112 Minuten.

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"Man sollte mir einen Oscar dafür geben" prahlt Lohan mit ihren Schminkkünsten. Sie und ihre Schwester Samar sitzen auf einer Parkbank in Stuttgart und verleihen ihrem Äußeren den letzten Schliff. Das Make-up ist schamlos over the top, die glitzernden, mit Slogans wie "It's f#cking Monday once again" verzierten Klamotten sind flashy und die Mädels divenhaft und frech. Nachdem die beiden jungen Transfrauen aus dem Dokumentarfilm "Zuhurs Töchter" in ihrer syrischen Heimat um ihr Leben fürchten mussten, scheint Deutschland für sie trotz der immer noch alltäglichen Anfeindungen eine Art Schlaraffenland der Selbstverwirklichung zu sein. In der Öffentlichkeit machen sie sich zurecht, weil sie es in ihrem konservativen Zuhause nicht dürfen.

Die Entfremdung zwischen den freiheitsliebenden Töchtern und ihrer Familie ist zu Beginn des Films schon weit fortgeschritten. Während Lohan und Samar durch queere Clubs ziehen, bleibt ihre Verwandtschaft - Vater, Mutter, Zweitfrau sowie zwei jüngere Geschwister - fast ausschließlich im Flüchtlingsheim. Vor den containerartigen Behausungen spielen die Menschen Ball, tanzen oder rauchen Schischa. In der Wohnung allerdings, die unter anderem eine neonfarbene Plüschschlange und ein Poster von PKK-Führer Öcalan schmückt, bleibt es, abgesehen vom Gedudel eines Computerspiels, meist ruhig und angespannt.

Die Regisseure Laurentia Genske und Robin Humboldt erzählen eher beobachtend als dramatisierend von zwei sich kaum berührenden Welten. Lohan und Samar planen ihre Zukunft in Deutschland unverdrossen optimistisch. Ständig sieht man wie sie vor dem Spiegel oder Smartphone sinnlich und anmutig posieren, ihre Traumrolle perfekt einstudieren. Ihre Familie ist dagegen noch nicht richtig angekommen. Mutter Zuhur beklagt sich, dass ihr die neu gelernten Sätze aus dem Deutschunterricht gleich wieder entfallen. An ihr früheres Leben klammert sie sich wie an das alte Foto, auf dem Lohan und Samar noch als Jungen zu sehen sind. Die jüngste Tochter, die sich zu Beginn des Films entscheidet, (wie ihre Mutter) ein Kopftuch zu tragen, befindet sich irgendwo zwischen heimatlicher religiöser Verwurzelung und westlich grundiertem Freiheitsdrang. Die "Brüder", findet sie, sind in den letzten Jahren komisch geworden. Deren glamouröses Aussehen bringt das Mädchen aber ins Schwärmen.



Genske/Humboldt widmen sich weniger den zwischenmenschlichen Reibungen, als den mit sich allein gelassenen (überwiegend weiblichen) Familienmitgliedern. Etwa sehen wir immer wieder Zuhur, wie sie beim einsamen Rauchen scheinbar ihren Sorgen nachhängt. Einmal kommt es zum Streit mit Samar. Ihre Tochter warnt Zuhur davor, dass sie sich eines Tages im Jenseits für ihre Taten verantworten müsse. Die will aber nichts von einem verzichtvollen Dasein hören, für das sie vielleicht irgendwann belohnt wird. Glücklich sein will sie jetzt, und zwar sofort. Gegen soviel Willensstärke können auch die Ärzte nichts ausrichten, die ihr vor einer übereilten geschlechtsangleichenden OP abraten.

Der naive Wunsch nach der üppigen Oberweite von It-Girl Kylie Jenner oder die Sehnsucht, Mutter zu werden, müssen jedoch bald mit der Wirklichkeit abgeglichen werden. In den drei Jahren, in denen Genske und Humbolt ihre Protagonistinnen begleitet haben, werden die Körper der Mädchen zwar weiblicher und die Outfits geschmackssicherer, ihre Blicke aber auch resignierter. Es gibt endlose Besuche bei Medizinern und Selbsthilfegruppen, die häufig wegen dem gebrochenen Deutsch der Schwestern voller Missverständnisse sind. Später ist auch von Selbstmordgedanken die Rede und wir sehen, wie Samar sich nach ihrer OP von ungeheuren Schmerzen geplagt im Krankenbett windet.

So vehement die beiden Protagonistinnen aus "Zuhurs Töchter" betonen, einzig nach ihrem eigenen Willen zu handeln, zeichnet sich doch immer wieder ab, wie sehr dabei pragmatische Überlegungen bezüglich eines potentiellen Liebesglücks eine Rolle spielen. Samars Boyfriend, der "süß wie Honig" ist, aber auch ziemliche Macho-Allüren hat, will sich etwa nur mit ihr einlassen, wenn sie sich vollständig operieren lässt. Lohan, deren Freundinnen sich aufgrund fehlender Alternativen teilweise prostituieren, bekommt gegenteiligen Rat: sobald du eine richtige Frau bist, lassen dich die Männer links liegen.



Flüchtlingsstatus und Transsein sind in "Zuhurs Töchter" gleichermaßen Übergangsphasen mit ungewissem Ausgang. Wirklich ankommen ist nicht notgedrungen ein erstrebenswertes Ziel, etwa wenn das überlebenswichtige offensive Selbstbewusstsein plötzlich nicht mehr zur Weiblichkeitsperformance passen soll. Wenn Samar sich auf dem Stuttgarter Schloßplatz von ein paar Pöblern nichts gefallen lassen will, wird sie von ihrem Freund ermahnt: "Verhalt dich bitte etwas weiblicher. Wenn ein Mann uns anspricht, antworte ich.".

Was aus dieser nicht allzu optimistisch stimmenden Beziehung wird, bleibt in "Zuhurs Töchter" wie einiges anderes offen. Statt sich auf einen kontinuierlichen Erzählfluss zu konzentrieren oder einzelne Motive zu vertiefen, setzt das Regie-Duo besonders in der zweiten Hälfte des Films auf Zeitsprünge. Was bleibt sind mal komische, dann wieder erschütternde Momentaufnahmen von Einsamkeit, geplatzten Träumen, hartnäckigem Kampfgeist und einer familiären Verbundenheit, die vorwiegend in der Theorie zu existieren scheint. Am Schluss werden versöhnlichere Töne angeschlagen, mit der jüngsten Schwester gebondet (natürlich übers Schminken) sowie Lohan und Samar im Freibad als jene unnahbaren, Kardashian-geschulten Diven inszeniert, die sie immer sein wollten. Zu diesem Zeitpunkt haben wir aber schon genug gesehen, um diesen Augenblick richtig einzuordnen: als fragil flüchtigen Triumph.

Michael Kienzl

Zuhurs Töchter - Deutschland 2021 - Regie: Laurentia Genske, Robin Humboldt - Laufzeit: 89 Minuten.