Im Kino

Beschwörung von Leid und Trauma

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel, Robert Wagner
17.11.2021. Kelly Reichardt zeigt in "First Cow", wie man mit Tieren lebt und sich mit Freundschaften gegen die Grausamkeit des kapitalistischen Wettbewerbs stemmt. Schade nur, dass sie im Korsett der ewig verfälschenden Dramaturgien hängen bleibt, weil sie sich zu sehr fürs Erzählen interessiert. Gil Kenan lässt einen "Jungen namens Weihnacht" zwischen dem faschistischen Reich der Vernunft und dem Reich des Glaubens, der Besserung und Wahrheit  pendeln.


"First Cow" ist der bis dato überfrachtetste Film der Amerikanerin Kelly Reichardt. Das bedeutet einiges bei der Regisseurin von "Night Moves". Die Filmemacherin hat ihrer Arbeit mit sämtlichen Zutaten angereichert, die es für eine große, epische Erzählung braucht: große Bilder, kluge Allegorien, eine politische Haltung, emotionale Wucht, Geschichtsunterricht und die universelle Botschaft der Bedeutung von Freundschaft. Einzig das Zusammenspiel holpert, was auch daran liegt, dass man beständig das Gefühl hat, Reichardt will einem mit jedem Bild etwas unterjubeln. Kaum etwas darf einfach nur sein, alles muss irgendwas bedeuten. Das ist schade, weil "First Cow" immer dann wirklich aufgeht, wenn der Film die Gegenwärtigkeit der gezeigten Welt greifbar macht.

"Überfrachtet" ist ein gutes Stichwort, denn gleich in der ersten Einstellung gleitet ein Frachtkahn über den Columbia River. Genau an dessen Ufern, nur 200 Jahre früher, ist dieser dämmrig gefilmte Anti-Western angesiedelt. Es war die große Zeit des Biberfellhandels, Briten und Amerikanern streiten über Territorien und das Verhandlungsrecht mit den First Nations in Oregon Country. Die Schute zu Beginn des Films verweist also gleich auf eine Auseinandersetzung mit kapitalistischen Arbeitsweisen. Damit sind sowohl die Ursprünge des in den USA so florierenden Systems als auch die damit verknüpften Ungleichheiten gemeint.

Im dichten Farnwald trifft der junge Bäcker Otis "Cookie" Figowitz auf King Lu. Der aus China stammende Glückssuchende sitzt nackt und völlig verfroren im Gestrüpp. Cookie bringt ihm Kleidung und Nahrung. Der Beginn einer Freundschaft. Zwei Figuren auf der Suche nach einem möglichen Leben. Sie stehen sinnbildlich für das Land, in dem sie sich bewegen. Fragil und trotzig wie die maultrommelnden Herren, die Kameramann Christopher Blauvelt, der schon "Meek's Cutoff", "Night Moves" und "Certain Women" mit Reichard realisierte, mit großer Zärtlichkeit einfängt. Vom ständigen Überleben gezeichnete Charaktere, die sich mit Blicken belauern und mit ihrem Rotz ein Territorium besetzen. Ein durchs Geäst hüpfender Spatz, der wie die Menschen nach Nahrung sucht. Die warmen, hungrigen Augen derer, die der Einsamkeit entfliehen. Die USA, zurückgeworfen auf ihre längst vergessenen oder nie gelebten Ideale. So, sagt der Film, hätte man leben können, aber euer amerikanischer Traum zerstört alles. Später treffen sich Cookie und Lu, die so ziemlich das Gegenteil von Revolverhelden darstellen, wieder und beginnen, eine gemeinsame Existenz aufzubauen. Sie verkaufen selbstgemachte Süßigkeiten. Das einzige Problem: dafür benötigen sie Milch. Dies bekommen sie, indem sie heimlich die Kuh eines englischen Grundbesitzers melken. Dass das nicht lange gut gehen kann, ist klar.



Reichardt baut die Erzählung, die auf einem Roman ihres langjährigen Co-Autors Jonathan Raymond basiert, zaghaft auf. Bilder stehen, während im Halblicht geflüstert wird. Die Kargheit des Lebens in dieser neuen-alten Welt bekommt eine Form. Nur wenn sie jene filmt, die Geld haben, erlaubt sich Reichardt schweifende Bewegungen. Die Kamera identifiziert sich mit dem Geschehen, bleibt aber dennoch tastend und distanziert. Das liegt auch daran, dass alle Handlungen von ihrem historischen Gewicht gerahmt werden. Die wortwörtliche Rahmenhandlung des Films zeigt eine junge Frau und ihren Hund. Sie findet das Skelett zweier Menschen, die nebeneinander unter der Erde liegen. Die Geschichte, so behauptet Kelly Reichardt, liegt nur wenige Zentimeter unter der Erde. Sie ist von etwas Laub bedeckt, das ist alles. Ein Hund könne sie jederzeit ausgraben. So untersucht der Film unentwegt, wie sich die Vergangenheit in eine Landschaft, aber auch in eine nationale Psychologie einschreibt.

Dazu gehört die starke Antwort auf Hass und Rassismus, die in "First Cow" verhandelt wird: Freundschaft. Ganz plakativ am Beispiel der beiden Protagonisten, ein Amerikaner und ein Chinese, aber auch in deren Beziehung zur milchspendenden Kuh. So ist das in dieser Welt, die einen melken, die anderen werden gemolken und wieder andere trinken die Milch. Wiederholt werden Menschen gezeigt, die mit Tieren leben. Diese Freundschaften stemmt sich gegen die Grausamkeit des Wettbewerbs, der zwischen den Migranten und den Arbeitern entsteht. Gleichzeitig vollzieht sich innerhalb dieser Freundschaften alles, was das System bedingt. Es sind Inseln, um die herum kein Wasser ist. Trotzdem sind diese Formen der Liebe romantische, aber wahrhaftige Erinnerung an das, was eigentlich zählen sollte. Nicht umsonst ist dem Film ein Sprichwort von William Blake vorangestellt: The bird a nest, the spider a web, man friendship.

Wie schon "Meek's Cutoff" deutet "First Cow" den Wilden Westen um. Zusammen mit Barbara Lodens "The Frontier Experience" zeigen diese Filme die Kehrseite des von Hollywood erfundenen Macho-Existentialismus. Sie finden andere Bilder, andere Helden und vor allem andere Werte. Es gibt Angst in "First Cow" und man lernt etwas über die Schwierigkeit, sich zu vertrauen. Statt moralischer Integrität gibt es menschliche Schwäche. Es wird nicht geschossen, es wird gebacken. Was ist also das Problem?

Es ist selten, dass ein Film versucht, Zusammenhänge umfassend zu verdeutlichen. "First Cow" zeigt, dass unsere Verhältnisse zur Natur, zum Geld, zu Geschlechterfragen, zu sozialen Zusammenhängen, zu Identitätsfragen und zur Ernährung nie unabhängig voneinander zu denken sind. In Zeiten, in denen unzählige, sich voneinander abspaltende Gruppierungen für ihre kleinen Terrains kämpfen, ist dieser Ansatz begrüßenswert. Er löst sein Versprechen aber nicht ganz ein. Dazu ist Reichardt zu sehr am Erzählen interessiert. Was sie in ein mit Plotpoints und narrativen Spannungsbögen bestücktes Drama verpackt, kann man nur zeigen. Das amerikanische Kino, das bereits in seinen Anfangsjahren, in Filmen wie "A Corner in Wheat" von D.W. Griffith oder "The Half-Breed" von Allan Dwan, genau dieses Zeigen von Zusammenhängen beherrschte wie kein anderes Kino, ist dazu heute völlig unfähig. Man kann Reichardt schon eine unabhängige Filmemacherin nennen, aber auch sie lebt letztlich im Korsett der ewig verfälschenden Dramaturgien. So wie "First Cow" es anlegt, wirkt letztlich alles so, als würde es nur für den Film existieren. Jedes noch so kleine Zwischenbild erhält seinen Platz in der Kausalitätskette. Wird etwa die Kuh gemolken, dient das einer Spannung, die gar nicht nötig wäre, um die Ungerechtigkeit sichtbar zu machen. So bleibt der fade Geschmack einer gut erzählten Geschichte, die mehr sein wollte. Ein bisschen ästhetisches Zärtlichkeitsgefühl, ein bisschen intellektuelles Konstrukt, ein bisschen Tränendrüse und fertig ist dieser gut schmeckende, aber nährstoffarme Cookie.

Patrick Holzapfel

First Cow - USA 2021 - Regie: Kelly Reichardt - Darsteller: Alia Shawkat, John Magaro, Dylan Smith, Ryan Findley, Clayton Nemrow - Laufzeit: 122 Minuten.

Lesen Sie hier auch Thekla Dannenbergs Besprechung des Films zur Berlinale-Premiere 2020.

---



Es ist sicherlich kein Spoiler, darauf hinzuweisen, dass "Eine Junge namens Weihnacht" mit einem Weihnachtswunder endet und sich am Schluss also ein wohliger Fluss aus Sentimentalität ergießt. Es handelt sich schließlich um einen Weihnachtsfilm. Aber auch um einen, dem das Bewusstsein dafür stets anzumerken ist. An den Stellen, wenn die Kinder unter den Zuschauern ihre Eltern fragen könnten, ob es auch gut ausgehen, ob beispielsweise der Hauptdarsteller seinen Vater wiedersehen wird, hält die Erzählung kurz an und springt zur Rahmenhandlung, wo Kinder exakt dieselben naheliegenden Fragen stellen und Antworten erhalten. Womit der Film seinen Zuschauern den Ausbruch aus der filmischen Wirklichkeit abnimmt und ihn gleichzeitig verhindert.

So ist den Filmemachern auch spürbar bewusst, dass ein einfacher, nur niedlicher Weihnachtsfilm ein Klischee darstellen würde. Weshalb eine ziemliche Portion Bitterkeit eingewoben wird, die der Film als Tribut für seine Süße entrichtet. Sprich: Neben einer neuen abenteuerlichen Origin Story des Weihnachtsmanns geht es um Tod, Trauer und Verlust einer Mutter. Die Kinder lernen: Der Schmerz wird nicht weggehen, es ist aber möglich zu lernen, mit ihm umzugehen - ein bisschen Spaß und Herzensgüte können dabei helfen.

Die Rahmenhandlung beginnt mit einer Reihe roter, englischer Backsteinhäuser, die kaum voneinander zu unterscheiden sind. Nur eines in der Mitte ist nicht rot und backsteinig, es ist nicht einmal festlich für Weihnachten geschmückt. Für dieses Ausscheren aus der allgemeinen Besinnlichkeit gibt es einen Grund: Dort lebt ein Vater mit seinen drei Kindern. Ihre Mutter ist gestorben, Lust auf Weihnachten hat keiner. Auftritt Tante Ruth (Maggie Smith). Deren krude, ruppige Art weckt wenig Vorfreude bei den Kindern auf ihren Babysitter. Doch sie wird eine heilende Gute-Nacht-Geschichte erzählen, die den Verlustschmerz offen anspricht.

Die Geschichte selbst handelt von Nikolas (Henry Lawfull), der abgelegen in einer Holzfällerhüte mit seinem Vater wohnt. Laut Tante Ruth befinden wir uns in Finnland vor wenigen hundert Jahren, aber offensichtlich sehen wir ein Märchenreich. Der König eines deprimierten Reiches (Jim Broadbent) schickt Holzfäller und Jäger nach Norden, auf das sie dort Hoffnung finden mögen - oder den Tod. Nikolas, unglücklich, weil er mit seiner Tante (Kirsten Wiig) zurückgelassen wurde, folgt seinem Vater gen Norden, weil eine Gute-Nacht-Geschichte seiner Mutter sich als Karte zu einem mythischen Wichtelort offenbart. Und wo findet sich Hoffnung, wenn nicht in Wichteln und Magie? Unterwegs wird sich Nikolas mit einem Rentier anfreunden und das Wunder der Hoffnung darin finden, dass den verarmten Kindern des Reichs Geschenke gemacht werden müssen. Er wird zum Weihnachtsmann in seiner ersten Weihnachtsnacht werden.



"Ein Junge namens Weihnacht" ringt offensiv mit Resignation. Die Kampfbegriffe, die dafür genutzt werden, sind "Glaube" und "Vernunft". Immer wieder geht es darum, dass nur Glauben Besserung und Wahrheit bringt. Nur dieser macht aus einer trüben, kargen Landschaft eine bunte, erstaunliche. Und nur der Glaube hilft einem, mit Tieren zu sprechen. In Wichtelgrund hingegen herrscht "Vernunft". Nach der Entführung eines Wichtelkindes durch die Schergen des Königs hat ein faschistisches Regime Einzug gehalten, das Feiern und Freude verbietet. Denn das lasse nur die Wachsamkeit gegen Schicksalsschläge, Fremde und die Zersetzung der eigenen Kultur sinken. Dass die frohe Botschaft des Films sich das Glück nur in esoterischer Gegnerschaft zu Wirklichkeit, Wissenschaft und Verstand vorstellen kann, führt zu zweifelhaften Momenten, verdeutlicht aber, wie sehr es um Verzweiflung geht.

Wenn Nikolas zum ersten Mal mit dem Rentier Blitzen zum Fliegen ansetzt, befinden sie sich auf der Flucht. Vor ihnen liegt ein Abgrund und hinter ihnen her jagen nicht nur die Verfolger mit ihren Pfeilen, sondern auch der Schlitten von Nikolas' Vater. Letzterer wird sich opfern und die Verbindung kappen, weil er Angst hat, dass sein Gewicht alle in den Abgrund reißen könnte. Wie Hans Gruber ("Stirb langsam") sehen wir ihn in die Tiefe stürzen. Weder für die Logik der Szene, noch für die Dramaturgie ist dieser Tod notwendig. Vielmehr wirkt diese Beschwörung von Leid und Trauma zwanghaft, da sie lediglich eine neue Wunde schlägt, die dann wieder verarbeitet werden muss; und "Ein Junge namens Weihnacht" wieder die Möglichkeit gibt, jemanden sagen zu lassen, dass der Schmerz zwar gerade unerträglich wirkt, aber dass es einen Ausweg gibt.

Dass sich der Film aber nie finster und niederschmetternd anfühlt, liegt daran, dass dieses Gravitationszentrum wohldosiert in die Abenteuergeschichte eingewoben ist. Dass sprechende Mäuse mit riesigen Kulleraugen und ziemlich bekannte Gesichter (Toby Jones, Sally Hawkins, Kirsten Wiig) in Nebenrollen auftauchen und sich in grelle Kostüme werfen. Dass dies in Ansätzen eben doch ein kindgerechter "Herr der Ringe" ohne Schlachten bleibt, ein "Der Zauberer von Oz" ohne allzu markante Figuren. Dass die Quest keinen epischen Bogen schließt, sondern sich ohne große Umwege auf ein Wunder zubewegt. Dass der Film seine gewichtige Botschaft dann doch mit einer ziemlichen Portion erzählerischer Seichtigkeit bezahlt.

Robert Wagner

A Boy Called Christmas - USA 2021 - Regie: Gil Kenan - Darsteller: Maggie Smith, Isabella O'Sullican, Joel Fry, Eden Lawrence, Ayomide Garrick - Laufzeit: 106 Minuten.