Im Kino

Variationen des amerikanischen Traums

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl, Jochen Werner
08.12.2021. Steven Spielbergs Remake des Musicals "West Side Story" ist eine modernisierte, weniger artifizielle Version des Klassikers, doch auch klassische Hollywoodtugenden erblühen in voller Pracht. Und Sean Baker schickt in "Red Rocket" einen gescheiterten Pornodarsteller zurück in sein Heimatkaff, wo er sich als ganz der alte, toxische Manipulateur entpuppt.


Tony (Ansel Elgort) will seinem ungestümen Kumpel Riff (Mike Faist) ins Gewissen reden: "Turn off the juice, boy!". Sein Versuch, eine anstehende Massenschlägerei zu verhindern, ist nicht nur vernunftgeleitet, sondern auch seiner Liebe zu Maria (Rachel Zegler) geschuldet. Die ist nämlich die kleine Schwester des aufbrausenden Machos Bernardo (David Alvarez), der wiederum Riffs Gegenspieler ist. Der vom kürzlich verstorbenen Stephen Sondheim geschriebene und von Leonard Bernstein komponierte Song "Cool" untermalt diesen Widerstreit als Wechsel zwischen einem lässigen Jazz-Beat und aufgeregten Bläsereskalationen.

So wie das Broadway-Musical und Robert Wises Verfilmung aus dem Jahr 1961 ist auch Steven Spielbergs Version der "West Side Story" im New York der 50er Jahre angesiedelt. Der Territorialkampf zwischen den aus puertoricanischen Einwanderern bestehenden Sharks und den weißen Jets bildet den Rahmen für die auf Shakespeares "Romeo und Julia" basierende Geschichte. Die Jugendlichen sind arm und perspektivlos, da schenken sich die von rassistischer Diskriminierung betroffenen Latinos und die "last of the can't-make-it Caucasians" nicht viel. In der Liebe zwischen Tony und Maria liegt eine Hoffnung, die schließlich von den äußeren Umständen erdrückt wird.

"Cool" ist ein letztes Aufbäumen gegen die sich anbahnende Tragödie. Auffällig ist jedoch, dass das Stück bei Spielberg nicht nur von anderen Figuren gesungen wird, sondern auch vor statt nach der schicksalshaften Schlägerei zum Einsatz kommt. Es gibt mehrere solcher Verschiebungen in der ansonsten recht klassischen und werktreuen Adaption, die sich insgesamt näher an der Broadway-Vorlage als an Wises Film orientiert. In erster Linie scheinen diese Änderungen darauf abzuzielen, die Handlung flüssiger zu machen und die dramatische Intensität zu erhöhen; eine Tendenz, die sich auch bei Spielbergs Regie bemerkbar macht.

In seiner Version wird "Cool" auf einem abgewrackten Pier am Hudson River dargeboten. Riff trägt ein Messer bei sich, das Tony ihm abnehmen will. Zwischen Angriffen und Ausweichmanövern gehen realistische Kampfbewegungen in tänzerische Drehungen über. Justin Peck vom New York City Ballet hat die neu entworfene Choreographie weniger artifiziell angelegt als einst Jerome Robbins. Er setzt stärker auf natürliche Bewegungen, was jedoch nicht dazu führt, dass die wirbelnden Gruppenformationen weniger imposant wirken. Für die Konfrontation zwischen Tony und Riff ergänzt Spielberg neben dem Messer ein weiteres Spannungselement. Während ihres Streitgesprächs müssen sich die beiden um große Löcher im Holzboden herumwinden. Der nicht nur buchstäbliche Abgrund ist in dieser Schlüsselszene nah.



Die mitreißende Wirkung von Spielbergs Adaption hat viel damit zu tun, dass die Mischung aus actionreichem Gangkrieg und erschütterndem Melodram in der ohnehin starken Vorlage noch weiter zugespitzt wird. Die Szenenauflösungen sind häufig nicht nur anders, sondern oft dichter und fantasievoller. Tonys im Liebestaumel vorgetragenes Solo "Maria" wird in Wises Film etwa als atmosphärisch minimalistischer Spaziergang durch die Nachbarschaft umgesetzt. Bei Spielberg führt der Weg unter anderem an einer taubenfütternden älteren Frau vorbei, einem jungen Mädchen, das Tony von ihrem Fenster aus anhimmelt, sowie an ihrer grimmigen Nachbarin. Kaum ein Moment bleibt ungenutzt, um den Repertoireklassiker für die Leinwand mit neuem Leben zu füllen.

Anders als befürchtet haben wir es hier mit keiner revisionistischen Erneuerung zu tun. Abgesehen davon, dass die meisten Latinos früher von Weißen gespielt wurden, gäbe es aber auch nicht viel zu beanstanden. Im Originalstück von Arthur Laurents mit seiner versöhnlich pazifistischen Message geht es bereits um Rassismus, Machismo und die uneingelösten Versprechen des amerikanischen Traums. Tony Kushner - der mit seinem zweiteiligen Aids-Sück "Angels in America" in den 90ern selbst zum Broadway-Star wurde - weiß um die ungebrochene Kraft der Geschichte und Bernsteins Musik. Statt sich von zeitgeistigen Buzzwords leiten zu lassen, unterzieht er die bewährten Motive lediglich einem Feintuning. Das burschikose Mädchen Anybodys etwa, das ebenso beharrlich wie erfolglos versucht, ein Mitglied der Jets zu werden, ist hier ein Transjunge (Iris Menas), die versuchte Vergewaltigung von Marias Schwägerin Anita (Ariana DeBose) nicht nur ein Racheakt der Jets, sondern auch das Resultat verrohter Männlichkeit.



Vielleicht ist das Erfolgsgeheimnis des Films gerade, dass er auf die Frage, warum man ein derart bekanntes Musical gerade jetzt oder auch überhaupt neu inszenieren sollte, eine überzeugende Antwort schuldig bleibt. Seine Daseinsberechtigung entfaltet "West Side Story" vor allem durch seine handwerklich in fast allen Belangen anspruchsvolle Umsetzung. Ob es die elegant dynamische Kamera von Spielberg-Regular Janusz Kaminski ist, das von stimmungsvollen Lagerhallen und Ruinen bestimmte Szenenbild von Adam Stockhausen oder die authentischen Fifties-Kostüme von Paul Tazewell: Klassische Hollywoodtugenden erblühen in voller Pracht. Selbst die Tatsache, dass Hauptdarsteller Ansel Elgort, der in den Tanzszenen steif wirkt, für die Empfindsamkeit seiner Figur zu bemüht cool ist und für die von Kushner erfundene Knasterfahrung zu unbefleckt, kann "West Side Story" als nicht nur schauspielerisches Ensemblestück wenig anhaben.

Obwohl Spielberg scheinbar ein vergangenes Studiokino heraufbeschört, ist sein Film doch von einer heutigen Perspektive geprägt. Die Entscheidung, die Rolle des fürsorglichen älteren Drugstorebesitzers Docs durch die Puertoricanerin Valentina zu ersetzen, verleiht dem Film fast eine Metaebene. Rita Moreno, die in Wises Film Anita spielte, verkörpert diese mahnende, aber letztlich hilflose Mutterfigur in einer Welt ohne Eltern. Trotz unterschiedlicher Namen wird mehrmals angedeutet, dass Valentina eine ähnlich verlustreiche Vorgeschichte hat. Es wirkt, als wäre die ältere Frau in einer Zeitschleife gefangen und dazu verdammt, dieselbe Katastrophe wieder und wieder zu erleben. Es ist eine weise Wahl, dass Spielberg sie den schönsten Song des Musicals in einer sanften und herzzerreißenden Version singen lässt, die halb wehmütige Erinnerung, halb hoffnungsvoller Blick in die Zukunft ist: "We'll find a new way of living. We'll find a way of forgiving".

Michael Kienzl

West Side Story - USA 2021 - Regie: Steven Spielberg - Darsteller: Ansel Elgort, Rachel Zegler, Ariana DeBose, David Alvarez, Rita Moreno, Brian d'Arcy James - Laufzeit: 156 Minuten.

***



Mikey Saber (Simon Rex) war einmal Pornostar, er hat fünf AVN Awards gewonnen - die Oscars der Erwachsenenunterhaltung. Den für den besten Oralsex muss er sich allerdings mit einer Darstellerin und einer ganzen Reihe weiterer Männer teilen, was seiner Eitelkeit jedoch keinerlei Abbruch tut: Seine Performance sei es natürlich gewesen, die als preiswürdig erachtet wurde. Schließlich habe er sich in der besagten Szene keineswegs bloß bedienen lassen, sondern habe seine Partnerin höchst aktiv in den Mund gefickt. Bis ihr die Tränen kamen und der Speichel aus den Mundwinkeln lief.

Wenn es Mikey an irgendetwas nicht gebricht, dann an Selbstbewusstsein, und das trotz widrigster Umstände. Denn zu Beginn des Films ist er schon am Ende, wenn er mit zerschlagenem Gesicht - wir erfahren nicht warum, können uns aber rasch ausreichend Gründe vorstellen - im Greyhoundbus in seine texanische Heimat zurückkehrt, die er zwanzig Jahre zuvor, großspurig und mit der Ankündigung, niemals zurückzukommen, verlassen hatte. Niemand ist dort so richtig begeistert, ihn zu sehen. Obdachlos und pleite bettelt er seine Exfrau Lexi und deren Mutter Lil so lange an, bis die ihm erlauben, in ihrem ärmlichen Haus auf dem Sofa zu schlafen. Aus Mangel an Alternativen - die Follower seiner Pornhub-Seite machen sich, jedenfalls im konservativen ländlichen Texas, nicht sonderlich gut im Lebenslauf - beginnt Mikey, wie bereits zu seiner Highschoolzeit, mit Gras zu dealen, und kaum hat er etwas Geld in der Tasche, fällt jeder Anschein erzwungener Zurücknahme seines herrischen Egos gegenüber Lexi und Lil sofort ab.

Nach und nach erfahren wir das eine oder andere aus der gemeinsamen Vergangenheit von Lexi und Mikey. Einst, zu gemeinsamen Schulzeiten, ein populäres Paar und für einige Kleinstadtlegenden mit sexueller Schlagseite verantwortlich, die sich die Daheimgebliebenen heute noch erzählen, trennten sich ihre Wege, als es Mikey nach L.A. zog - wohl nicht unbedingt im Guten. Lexi hat zwischenzeitlich ein Kind mit einem anderen Mann bekommen, das ihr aber weggenommen wurde. Auf die von Mikey geschickt getriggerte Aussicht, die auf dem Papier noch immer bestehende Ehe wiederzubeleben, lässt sie sich wohl nicht zuletzt in der Hoffnung ein, durch eine funktionierende Beziehung das entzogene Sorgerecht zurückzuerlangen. Aber Mikey verfolgt völlig andere Pläne. In einem Donut-Shop lernt er die 17-jährige Strawberry kennen, die er mit seinen Aufschneidereien und Lügen rasch beeindrucken kann. Auch diese Affäre ist für Mikey vor allem Mittel zum Zweck, um seine brachliegende Karriere wieder in die Gänge zu bringen, denn er will aus Strawberry den nächsten großen Pornostar machen …



Wie im hochgelobten Vorgänger "The Florida Project", der eine kindliche Perspektive auf Armut, Elend und Prostitution an der Peripherie des "happiest place on earth", Disneyworld, zeigte, geht es auch in Sean Bakers neuem Film darum, einen Blick auf die triste und ärmliche Rückseite des amerikanischen Traums zu werfen. Als Mikey Saber hatte der mit dem einstmals in zahlreichen stählernen Filmparodien besetzten, aber nie wirklich zum Star gewordenen Simon Rex großartig besetzte Protagonist einen Traum von Sex und Glamour gelebt und vorübergehend den Sprung aus der Armut und dem Kleinstadtleben geschafft, und doch bleibt ihm am Ende nichts übrig. Kein Geld, kein Obdach, keine Krankenversicherung. Und, im Gegensatz zu den Menschen, die er einst voller Verachtung verließ und die er nun aufs Neue für seine Zwecke ausnutzt, auch nicht die gegen Ende nachdrücklich in Szene gesetzte Solidarität der Abgehängten der amerikanischen Gesellschaft.

Für die Entlarvung seines Protagonisten als eines durch und durch egomanischen, narzisstischen Manipulateurs nimmt sich Sean Baker 130 Minuten Zeit und überspannt damit den Bogen mitunter ein wenig. Mikey ist von Anfang an als der dampfplaudernde, rücksichtslose und immer etwas lächerliche Aufschneider erkennbar, als den Baker ihn zu enttarnen sucht. Was wir sehen, ist eher die Chronik des absehbaren Scheiterns eines durch und durch toxischen Protagonisten als eine echte Figurenentwicklung. Ein gelungener Film ist "Red Rocket", als eine böse Komödie betrachtet, aber dennoch.

Das liegt vor allem an zweierlei. Zunächst einmal lässt Baker in der Zeichnung seiner Nebenfiguren immer wieder echte Zärtlichkeit durchblitzen. Die wohl wider besseres Wissens erneut auf Mikey hereinfallende Lexi, die verschrobene Lil, der vom vermeintlichen Glanz des Pornostars geblendete und ziemlich einsame Nachbar Lonnie, der am Ende das größte Opfer für Mikeys rücksichtslosen Egotrip bringen wird, die toughe Drogendealerin June - aus dieser Riege memorabler Nebenrollen ergibt sich ein Einblick in eine Parallelwelt, in die das Kino nur selten schaut, und Baker profiliert sich einmal mehr als der Chronist eines Amerikas, in dem harte Drogen billiger sind als Schmerzmedikamente, in dem den ganzen Tag der Fernseher läuft und die Hoffnung, dass sich irgendetwas ändert, gleich null ist. Dass er dann im Hintergrund die ganze Zeit Trump-Reden laufen lässt, mag etwas arg dick aufgetragen wirken, falsch ist es nicht.

Jochen Werner

Red Rocket - USA 2021 - Regie: Sean Baker - Darsteller: Simon Rex, Bree Elrod, Brenda Deiss, Ethan Darbone, Judy Hill, Brittney Rodriguez - Laufzeit: 128 Minuten. "Red Rocket" ist auf dem Berliner Festival "In 14 Filmen um die Welt" zu sehen. Der deutsche Kinostart ist für Frühjahr 2022 angesetzt.