Im Kino

Tschechows Zeilen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
22.12.2021. Ryūsuke Hamaguchis "Drive my Car" erzählt mit einer erwachsenen Reife von einem Schauspieler, Ehebruch, Trauer und der Aufführung von Tschechows "Onkel Wanja" in Hiroshima. In Cho Kyung-huns Anime "Beauty Water" soll eine Frau in einen Schwan verwandelt werden, ist sie doch eine Körper gewordene Abweichung von der Ligne claire.


Deutsche, die japanische Wörter aufsagen, heben dabei gerne die Vokale hervor, gerade so, als wäre Japanisch mit den vokalverliebten Sprachen Europas verwandt. Dabei verschwinden die Vokale im Japanischen oft, werden zu bloßen Markierungen, stimmlosen Andeutungen und Strukturelementen. Wer daher den Namen des Theatermachers Yūsuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) lediglich in den Untertiteln liest und der Tonspur des Films nicht völlig aufmerksam folgt, verpasst unter Umständen gleich eine ganze Pointe - dass der Name Kafuku, unter japanischen Bedingungen ausgesprochen, fast wie "Kafka" klingt.

In gewissem Sinne "kafkaesk" ist auch das durch viele Schlingen erzählte und konstruierte Beziehungsdrama, durch das sich dieser Kafuku in drei nur formal, aber keineswegs gefühlt langen Stunden bewegt. Wobei, um Missverständnisse gleich aus dem Weg zu räumen: Markiert das Wort "kafaesk" im kulturellen Zusammenhang meist ein düster-dräuendes Gothic-Pathos, stellt brütend-kryptische Kunst in Aussicht oder zumindest eine tiefendurchwirkte künstlerische Gestalt, entfaltet sich Ryūsuke Hamaguchis Adaption einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami seinem Publikum so klar und offen wie eine Schneelandschaft auf Hokkaido an einem Wintertag bei Sonnenschein. Hamaguchis filmisches Vokabular besteht nicht aus großen Gesten. Es ist pragmatisch, ohne hemdsärmelig oder gar konventionell zu sein. Vielleicht ist demütig das richtige Wort in diesem Zusammenhang - demütig gegenüber dem Sujet und den Figuren, von denen es erzählt. Demütig gegenüber der Kunst des unaufgeregten Erzählens, demütig auch vor dem Publikum, vor dem Hamaguchi selbst dann nicht auftrumpft, wenn er erschütternde Details aus dem Leben seiner Figuren erst weit sehr spät preisgibt.

Kafuku jedenfalls ist Theatermacher auf und hinter der Bühne, gefeiert für seine Darstellung des "Onkel Wanja" und seit langem verheiratet mit Oto (Reika Kirishima), einer Drehbuchautorin fürs Fernsehen. Ihre Geschichten entspinnt sie im Dialog beim Sex oder jedenfalls in Momenten erotischer Zärtlichkeit. Ein Zufall will es, dass Kafuku sie beim Ehebruch mit dem jungen Schauspieler Kōji Takatsuki (Masaki Okada) erwischt, jedoch ohne dass sie davon Notiz nimmt. Kafuku reagiert mit einem ausdruckslosen Gleichmut, der kaum entschlüsselbar ist: tatsächliche Gelassenheit oder doch Fassade, hinter der sich ein stechender Schmerz verbirgt? Wenig später findet Kafuku Oto tot in der gemeinsamen Wohnung wieder - eine Gehirnblutung. Ein klärendes Gespräch zwischen den beiden fand nicht mehr statt.

Zwei Jahre später ist das Leben in Kafukus Gesicht zurückgekehrt (Hidetoshi Nishijima Schauspiel ist große Kunst in kleinen Nuancen). In Hiroshima soll er Tschechows "Onkel Wanja" auf die Bühne bringen. Eine internationale Großproduktion mit Schauspielern aller möglichen asiatischen Länder. Das Theater stellt ihm als Fahrerin die so schweigsame wie undurchdringliche Misaki Watari (Tōko Miura) zur Seite. Doch dann kommt Takatsuki zum Casting, der einst mit Oto geschlafen hat. Kafuku besetzt ihn als Onkel Wanja, in der Rolle, die ihm selbst einst Ruhm eingebracht hatte - und die er während der langen Autofahrten immer noch spricht, wenn er die einst zur Probe aufgenommene Kassette einlegt, auf der Oto in der Rolle als sein Gegenüber zu hören ist. Ein Ritual, das die Fahrerin Watari fürs Erste mit dem Gleichmut eines Profis zur Kenntnis nimmt…



Es sind existenzielle Schmerzen, tief im Innern liegende Traumatisierungen und Selbstvorwürfe, von denen Hamaguchi ohne viel Aufhebens, aber mit einer erwachsenen Reife erzählt, die auf die Gockeleien, mit der von Festivalökonomien längst zerfressene Künstlersubjekte solche Themen handhaben würden, sehr selbstverständlich verzichtet. Behutsam, ohne verzärtelt (oder gar verzärtelnd) zu wirken, interessiert am Menschen, ohne übergriffig zu werden. Humanistisch.

Und es geht ums Sprechen. Um Dialog. Und um Schweigen als Strukturelement dem gegenüber. Wer erzählt wem etwas? Und wie? Es geht darum, sich im Sprechen selbst zu erkunden und zu erkennen. Um verpasste Gelegenheiten zum Gespräch. Und um nie artikulierte Selbstvorwürfe. Um ein Sprechen aneinander vorbei, um ein Sprechen in fremden Dialogen, in denen man doch selbst ganz und gar geborgen ist. Um Weisen des Sprechens, ein Sprechen, das nie zu einem Punkt kommt. Bis es die Wunde, die in diesem Punkt liegt, am Ende doch noch trifft - und man einander im Sprechen erkennt.

Zentral in Hamaguchis Film sind die Proben für die "Wanja"-Inszenierung. Der Cast ist multlingual, jeder spricht nach dem eigenen Schnabel - auch eine stumme koreanische Schauspielerin ist dabei, die sich der Gebärdensprache bedient. Kafuku legt - anders als auf der Bühne - auf ausdrucksloses Lesen wert, zum Missfallen seiner Schauspieler. So ausdruckslos wie das monotone Runterrattern, mit dem er im Auto in einen Dialog mit dem alten Wanja-Tape von Oto tritt. Tschechows Zeilen, sagt er einmal, sind keine fremden Zeilen, die man spielt - sie befragen einen selbst als Menschen.

Lebendige Kunst als Erfahrungsspeicher also, aber auch: als Reflexionsfläche eigener Erfahrung. Kann Kunst trösten? Hamaguchis Film bleibt die Antwort schuldig. Die Kunst spricht nicht mit einem, doch manchmal spricht ein Mensch aus ihr - und dann ist das so leise wie ein tobender Orkan. Oder so lärmend und aufrüttelnd wie der Hauch eines stimmlosen Lauts. Trost spenden, das können Menschen immer noch am besten. Wenn sie im Sprechen zueinander finden.

Thomas Groh

Drive my Car - Japan 2021 - OT: Doraibu mai kā - Regie: Ryūsuke Hamaguchi - Darsteller: Hidetoshi Nishijima, Tōko Miura, Masaki Okada, Keika Kirishima, Park Yoo-rim - Laufzeit: 179 Minuten.

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Kosmetische Eingriffe betreffen qua Definition nur die Oberfläche. Weil die Substanz hingegen unangetastet bleibt, schwingt schon im Begriff selbst Nutzlosigkeit mit. Das "Beauty Water", um das sich der koreanische Animationsfilm gleichen Namens dreht, ist, so gesehen, gar kein kosmetisches Mittel - weil die Veränderung, die es bewirkt, nicht nur die Oberfläche betrifft, sondern auch alles was darunter liegt. In Fetzen reißen sich die Benutzer_innen nach dem Auftragen der Lotion das überschüssige Fleisch vom Gesicht, auf dass darunter eine glatte, ebenmäßig eingefärbte Hautpartie zum Vorschein kommt.

Nach einem Bad in "Beauty Water" bleibt in der Wanne gar eine regelrechte Fleischsuppe zurück. Wobei der Film aus diesem Transformationsprozess enttäuschend wenig macht. Enttäuschend auch deshalb, weil Körpertransformationen seit jeher das Leib- und Magenmotiv von Filmtricks aller Art sind - und eben auch von Trickfilmen, die, zumindest in ihrer analogen Form, auf der Transformation des basalsten grafischen Elements, der Linie, basieren. In "Beauty Water" hingegen taucht lediglich ein kurzes Werbevideo auf, in dem sich eine Frau ein, zwei Sekunden lang Wange vom Wangenknochen rupft - die umfassende Verwandlung der Hauptfigur des Films vom hässlichen Entlein zur glamourösen Schwänin verschwindet hingegen fast komplett in einer Ellipse.

Yaeji heißt die Hauptfigur, als Kind war sie Ballerina, jetzt arbeitet sie als Make-up-Künstlerin und sitzt in ihrer Freizeit mit Chipstüten vor dem Laptop, um im Internet als Online-Troll ihren Frust los zu werden - insbesondere über Miri, eine ihrer Auftraggeberinnen, eine hochnäsige Influencerin, die keine Gelegenheit auslässt, Yaeji zu demütigen. Der Anfang ist das Schönste am Film, und zwar, weil die "vorher"-Version von Yaeji eine Art von Figur ist, die selten in Filmen auftaucht, und in Trickfilmen schon gleich gar nicht. Yaeji ist keineswegs grotesk hässlich, sondern einfach nur ein bisschen aus den Fugen geraten, mit einem leicht aufgeschwemmten Gesicht und auch sonst ein paar Fettpolstern zu viel. Übersetzt in die Sprache des Trickfilms heißt das: In Yaejis Gestaltsind ein paar überschüssige Linien und auch ein paar Kurven zuviel eingezeichnet - eine Körper gewordene Abweichung von der Ligne claire.



Der Film gibt sich durchaus Mühe, nicht nur die von Trickfilmnormen abweichende Körperlichkeit seiner Hauptfigur ins Bild zu setzen, sondern auch den zugehörigen Habitus, die Sprache eines Körpers, der sich selbst vor der Welt zu verbergen versucht. Aus einem ähnlichen Grund sind auch die ersten Szenen nach dem Streamlining gelungen: Wir sehen, wie die alten Erfahrungen im neuen Körper noch ein wenig nachwirken, wie Yaeji sich in ihren nun zu groß gewordenen Kleidern zu verbergen sucht und zunächst eher irritiert als erfreut darüber erscheint, dass von nun an um sie herum alle ob ihrer herbeigezauberten Schönheit in Ehrfurcht erstarren.

Es sind, anders ausgedrückt, eher die psychologischen als die körperlichen Aspekte der Transformation, die Regisseur Cho Kyung-hung zu fassen bekommt. Und sobald die Transformation abgehakt ist, hat sich auch die Psychologie weitgehend erledigt. Innerlichkeit ist ein Privileg der Nichtschönen - wer hingegen im bioökonmischen Hauen und Stechen einmal einen Platz an der Sonne ergattert hat, dessen Lebensinhalt besteht fortan einzig darin, diesen zu verteidigen. Dafür gehen sie, die Reichen und Schönen und eben auch die verwandelte Yaeji, in "Body Water" wieder einmal über Leichen, oder zumindest über jede Menge überschüssiges Bindehautgewebe.

Südkorea ist spätestens seit "Parasite" und "Squid Game" Weltmarktführer in popkulturell aufgebretzeltem Antikapitalismus, und "Beauty Water" kann vielleicht als so etwas wie die Wühlkisten-Billoversion solcherart arthaus- und feuilletonkompatibler Systemkritik beschrieben werden. Soll heißen, die Metaphern sind um einiges plumper geraten - Yaejis Schönheitswahn frisst ihren Eltern nicht nur die Haare, sondern auch gleich noch die Wangen und Schläfen vom Kopf - und vor allem gelingt es Cho nicht so recht, sie in angemessen wuchtige Genreaffekte zu übersetzen.

Wie in vielen anderen asiatischen Animationsfilmen der letzten Jahre mischen sich in "Beauty Water" traditionelle 2D- und computeranimierte 3D-Animation, was schon in einer frühen Filmszene irritiert, wenn eine weitgehend traditionell gezeichnete Yaeji einen computeranimierten Hühnchenschlegel verspeist - das Ergebnis ist eine ästhetische Sauerei, aber leider nicht im vom Film intendierten Sinn. Später sind es insbesondere die fast durchweg misslungenen, weil in ihrer unspezifischen Textur weit hinter die Prägnanz der von Hand gezeichneten klaren Linie zurückfallenden 3D-Horroreffekte, die uns daran erinnern, dass der Animationsfilm in den letzten Jahrzehnten selbst Opfer eines leider zu weiten Teilen katastrophal missglückten technologischen Facelifts geworden ist.

Lukas Foerster

Beauty Water - Südkroea 2020 - OT: Gigigoegoe seonghyeongsu - Regie: Cho Kyung-hun - Laufzeit: 85 Minuten.