Im Kino

Hongkong soll brennen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
19.01.2022. Benny Chans "Raging Fire" ist Hongkongkino der alten Schule: Männer mit Narben in knochenbrecherischen Stunts, getaucht in Glas und Blut und künstliches Licht, und ein großes Schauspielerduell zwischen Donnie Yen und Nicholas Tse. Robert Guédiguian beobachtet in "Gloria Mundi" den Zerfall eines ehemals linken Marseiller Milieus der kleinen Leute, das  heute zunehmend rechts wählt.


Im Zuge einer wilden Verfolgungsjagd rast der Wagen des Polizisten Cheung (Donnie Yen) auf einen Fußgängerüberweg zu, auf dem gerade eine Frau und ihr Kind die Straße überqueren. Hinter den beiden auf der Fahrbahn wartet ein LKW. Cheung tritt auf die Bremse und reißt das Lenkrad herum, woraufhin das Auto seitlich den beiden Fußgängern entgegen schlittert. Die Frau kann beiseite springen, aber das Kind steht wie gelähmt direkt in der Bewegungsrichtung des Fahrzeugs. Kurz vor dem Aufprall öffnet Cheung die Fahrertür, springt nach draußen, greift sich das Kind, springt mit ihm gemeinsam hoch in die Luft - und landet auf dem Dach seines eigenen Autos, das, nun fahrerlos, in den LKW donnert.

Ein paar Sekunden nur dauert diese die Gesetze der Physik und der Wahrscheinlichkeit recht kreativ auslegende Szene - die Rettung des jungen Zufallspassanten ist lediglich eines von vielen spektakulären Bewegungsereignissen, die Benny Chans "Raging Fire" aneinander montiert. Und doch sind es gerade solche Details, solche momenthaften Exzesse der forcierten und gerne auch sentimentalisierten Unwahrscheinlichkeit, die einen soliden Genrefilm, wie "Raging Fire" über weite Strecken einer ist, über sich hinaus treiben und in großes Kino verwandeln.

"Raging Fire" ist der letzte Film, den Benny Chan, einer der letzten noch aktiven Regisseure des Hongkongkinos alten Schlages, vor seinem Tod im Jahr 2020 fertig stellen konnte. Chan hatte seit den frühen Neunzigern praktisch alle zentralen Spielarten des Hongkongkinos bedient, sein Leib- und Magengenre war jedoch stets der urbane, bleihaltige Actionfilm. Oder vielleicht besser das Actionmelodrama: In einem Benny-Chan-Actionfilm sind die knochenbrecherischen Stunts, das exzessive Blutvergießen, die ausufernden, oft ganze Straßenzüge in Schutt und Asche legenden Feuergefechte immer in erster Linie Ausdruck zwischenmenschlicher Verwerfungen.



Beziehungsweise, in diesem Fall, Nachhall einer nicht mehr existierenden kameradschaftlichen Bindung. Im Kern ist "Raging Fire" ein Schauspielerduell: Auf der einen Seite Donnie Yen als sturer und einzelgängerischer, aber stets moralisch integrer Cop und angehender Familienvater Cheung, auf der anderen Seite Nicholas Tse als Cheungs ehemaliger Kollege und Schützling Yau, der nach einem aus dem Ruder gelaufenen Einsatz im Knast landete und seit seiner Entlassung einen ziemlichen Knacks weg hat. Yau hat eine Reihe anderer abtrünniger Polizisten um sich geschart, die er mit messianisch-psychopatischem Eifer und gelegentlichen eruptiv-brutalen Züchtigungen zu einem kriminellen Kampfverband formt.

Dass Cop und Gangster einander als ihresgleichen erkennen: Das war in vielen älteren Hongongthrillern, auch in einigen von Benny Chan, die Pointe. In "Raging Fire" hingegen geht es, wenn Yen und Tse wieder und wieder einander gegenüber treten, in immer neuen und zunehmend konfrontativen Konstellationen, eher darum, dass zwei, die einst unzertrennlich waren, einander nicht mehr erkennen. Male unbonding sozusagen. Der Film forciert die Differenz: Yen, seit jeher abonniert auf unkomplizierte, von moralischen Ambiguitäten unangetastete Heldenrollen, verhindert nicht nur zivile Kollateralschäden während der Actionszenen, sondern erweist sich gleich zu Beginn als phänomenal unbestechlich: nicht einmal ein paar Schlücke Tee lässt er sich von einem reichen Geschäftsmann andrehen, der das Department um eine kleine Gefälligkeit bittet. (In einer etwas fragwürdigen Szene erhält Cheung später nicht nur von einem einzelnen Chef, sondern von einem ganzen Komitee an Vorgesetzten die offizielle Absolution für seine ethisch sowieso immer schon gerechtfertigten Regelbrüche - ganz frei von autoritären Zurichtungen ist der Hongkong-Polizeifilm nicht mehr, seitdem er sich in erster Linie am festlandchinesischen Markt orientiert.)



Tse wiederum ist von Anfang an komplett auf Krawall gebürstet. Bei den Coups, die er mit seiner Crew - die optisch eher wie eine derangierte Boyband ausschaut als wie eine Gruppe von abgehalfterten Cops - abzieht, geht es weniger um die Beute als darum, das größtmögliche Chaos anzurichten. Raging Fire - Hongkong soll brennen, so lange das überhaupt noch möglich ist, allzu viele Filme dieser Art wird es womöglich nicht mehr geben, wenn die alte Garde endgültig abtritt und das noch in seinen generischsten, kommerziellsten Produktionen eigensinnige, euphorisch vulgäre Hongkongkino völlig im großchinesischen, nationalistisch gestreamlineten Blockbusterspektakel aufgeht. Benny Chans Schwanengesang ist vielleicht immer noch nicht der allerletzte, aber doch ein sehr, sehr später Hongkong-Actionfilm.

Noch einmal ein Film über die ewig uneingelösten Versprechen des Kapitalismus (etwa, wenn ein größenwahnsinniger Plan letztlich nur daran scheitert, dass ein besonders tumber Gangster sich von seiner schlagfertigen Geliebten auf die Palme bringen lässt), noch einmal ein Film über Männer und Narben und was sie bedeuten. Ganz zu sich selbst kommt der Hongkong-Actionfilm erst, wenn der ganze Bildraum nur noch Glas und Blut und künstliches Licht ist - wie im phänomenale Finale, das in einer Kirche spielt und in dem Yen den Kopf von Tse über die Tasten eines weißen Klaviers schleift, dem Instrument mitten im wüstesten Gefecht eine schwungvolle, enthusiastische Tonleiter entlockend.

Lukas Foerster

Raging Fire - Hongkong 2021 - OT: Nou fo - Regie: Benny Chan - Darsteller: Donnie Yen, Nicholas Tse, Lan Qin, Angus Yeung, Patrick Tam, Deep Ng - Laufzeit: 126 Minuten. "Raging Fire" ist ab dem 20.01. auf diversen Streamingplattformen verfügbar.

***



Ein Mensch kommt zur Welt: ein glorreicher Moment, getragen von Verdis Requiem. Ihr Name ist Gloria, nach einem Film, der kürzlich im Fernsehen lief, vielleicht das gleichnamige Meisterwerk von John Cassavetes. Ihre Eltern - er versucht sich als selbstständiger Chauffeur, sie als Verkäuferin in einer Fripperie, einem Secondhandladen - gehören zu den Abgehängten und Ausrangierten des Neoliberalismus, wie er 2019, als dieser neue Film von Robert Guédiguian in die französischen Kinos kam, noch im Schwange war; mehrfach angezählt zwar, dem Anschein nach aber alternativlos. Mit 2G-Nachweis kann man "Gloria Mundi", diese Zeitkapsel von vor lediglich drei Jahren, nun auch in Deutschland erleben, und so den Abstand ermessen, der uns von dem trennt, was davor war. Oder vielleicht rührt der Eindruck des Unzeitgemäßen auch daher, dass der letzte Film von Guédiguian, den ich gesehen habe, "Les Neiges du Kilimandjaro" (2011), auch schon wieder über zehn Jahre her ist. Bereits damals ging es um neoliberale Verwerfungen, aber aus der Perspektive eines Boomer-Ehepaars der arrivierten Arbeiterklasse - er Dockarbeiter und CGT-Betriebsrat, sie Hausfrau mit diversen Nebenbeschäftigungen - die es an ihrem Lebensabend zu bescheidenem Wohlstand gebracht haben: Den eisigen Wind der Gegenwart gewärtigen sie vom lauschigen Balkon ihrer Eigentumswohnung. Anhand dieses Paars, gespielt von seiner Frau Ariane Ascaride und Jean-Pierre Darroussin, reflektierte Guédiguian, der seit bald vierzig Jahren mit denselben zehn Darstellerinnen Filme über die kleinen Leute von Marseille macht, seine eigene Position; die Kluft, die zwischen seiner linken politischen Biografie und der allgemeinen Entsolidarisierung nach dem "Ende der Geschichte" klafft. Das kitschige Ende des Films, das die verlorene Gemeinschaft wiederherstellt, war eine berückende, aber transparente Fantasie.
 
In "Gloria Mundi" dagegen kann nicht einmal Guédiguians Fantasie mehr etwas ausrichten gegen die Zeichen der Zeit, die sein Marseille in Bild und Tat verheeren und so die Möglichkeit von Gemeinschaft - sein eigentliches Thema - unterminieren. Marseille im Jahr 2019, das sind gesichtslose Bürotürme, militarisierte Polizeipatrouillen, eine migrantische Zeltstadt und deutsche Touristen, denen der Chauffeur heile Welt vorgaukelt: "It's always sunny, the most beautiful city in the world." Während die "pauvre gens" in Guédiguians früheren Filmen noch dort, wo sie zur Kleinkriminalität neigten, politisch meist auf der richtigen Seite standen - in "Marius et Jeannette" (1997) zürnte eine Nachbarin als running gag ihrem Ehemann, weil er in einem Moment der Schwäche einmalig für die rechtsextreme Front National gestimmt hatte -, ist das einst linke Milieu hier vollends aus den Fugen. Die Eltern der kleinen Gloria, wie auch ihr Umfeld, sind der neoliberalen Subjektivierung mehr oder weniger restlos verfallen.

Auch Glorias Großeltern Sylvie und Richard, wieder gespielt von Ascaride und Darroussin, haben der neuen Welt nichts mehr entgegenzusetzen. Sylvie tut das Undenkbare: Sie wird zur Streikbrecherin. Wo der ökonomische Druck nicht länger zu ertragen ist, entlädt er sich in Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Guédiguians frühere Filme blieben stets unberechenbar, waren voller unerwarteter Abzweigungen und Ausbrüche; hier setzt sich der Erzählmechanismus, einmal ins Werk gesetzt, eisern durch. Dick aufgetragen ist das sowieso: Glorias Onkel und Tante, die als Betreiber des Ramschladens "Tout Cash" den Geist eines halsabschneiderischen Unternehmertums verkörpern, kämpfen sich mit beiden Ellenbogen nach oben, schnupfen Kokain und zitieren bei der Eröffnung eines neuen Ladenlokals auf der Canebière, der gehobenen Hauptstraße im historischen Zentrum von Marseille, Emanuel Macrons berüchtigte Apologie der "premiers de cordée", also derjenigen, die es "in die erste Reihe" geschafft haben.
 


Von der politischen Reflexivität von "Les Neiges du Kilimandjaro" bleibt nur ein Rudiment. Glorias leiblicher Großvater Daniel (Gérard Meylan, ein weiterer Guédiguian-Fixstern, dessen pockennarbiges Charisma ganze Filme trägt) kehrt nach langjähriger Haft nach Marseille zurück, bleibt seiner verwandelten Heimatstadt jedoch fremd. An seiner Figur wird das Verstreichen von Zeit, das schon im Titel anklingt, schmerzlich spürbar: So vergeht der Ruhm der Welt. Doch ist es gerade seine Fremdheit, die es Daniel/Gérard ermöglicht, ein anderes, beobachtendes Verhältnis zur Welt im Moment ihres Verlustes zu finden, das für Guédiguians Werk im Ganzen programmatisch scheint. In einem Hotelzimmer, das seiner alten Zelle gleicht, verfasst er Haikus, um, wie er sagt, "schöne Momente zu suchen und sie für die Ewigkeit festzuhalten."
 
Guédiguian wird gerne als der französische Ken Loach tituliert; kein abwegiger Vergleich angesichts des düsteren Sozialrealismus von "Gloria Mundi". Aber Guédiguians Repertoire reicht weiter, seine Ensembledramas umfassen noch ganz andere Tonalitäten, von komisch bis erhaben, die oft übergangslos nebeneinander stehen, wie in der Szene in "La ville est tranquille" (2000), in der Darroussin (als Taxifahrer) Ascaride (als verzweifelte Mutter einer heroinabhängigen Tochter) mit einer spontanen Darbietung der Internationale - auf Französisch, Englisch, Italienisch und Deutsch - zum Lachen bringt. Gérard Meylan, der straffällige Großvater in "Gloria Mundi", spielte in "La ville est tranquille" einen Berufskiller mit Zielfernrohrgewehr; dieselbe Waffe, die er in der romantischen Komödie "Marius et Jeannette" als Nachtwächter in einer abrissreifen Zementfabrik ungeladen mit sich herumschleppte. Solche Motivverkettungen und Querbezüge zwischen den Figuren und ihren Darstellern sind zentral für die Bauart und den Genuss von Guédiguians Marseiller Mikrokosmos. Es ist eine familiäre, fast intime Gemeinschaft, die in jeden Film eingeht und zugleich über den einzelnen Film hinausweist. In "Gloria Mundi" ist dieses Band oft zum Zerreißen gespannt, aber es reißt nicht, Meylan sei Dank: Der aus der Zeit gefallene Außenseiter mit seinen Haikus hält die Verbindung aufrecht zu vergangenen Kämpfen und Utopien. Der politische Horizont ist am Ende dennoch maximal verengt, ein Gucklochblick in eine Gefängniszelle. In Guédiguians nächstem Film, der vor zwei Wochen in Frankreich in die Kinos kam, geht es um Sozialistinnen in Mali unmittelbar nach der Unabhängigkeit. Auf zu neuen Ufern!

Nikolaus Perneczky

Gloria Mundi - Frankreich 2019 - Regie: Robert Guédiguian - Darsteller: Ariane Ascaride, Jean-Pierre Darroussin, Gérard Meylan, Anaïs Demoustier, Robinson Stévenin - Laufzeit: 106 Minuten.