Im Kino

Reinigung des Fleisches

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Thekla Dannenberg
23.02.2022. Kenneth Branagh blickt in "Belfast" mit viel Sentiment auf seine Kindheit in der umkämpften Stadt zurück, als könnten Herzenswärme und Kinonostalgie Mauer und Stacheldraht erweichen. Martín Farina begleitet in "El Fulgor" die Gauchos der argentinische Pampa bei ihren Vorbereitungen zum großen Karneval.
Seit seinem monumentalen Historiendrama "Heinrich V." von 1989, also seit mehr als dreißig Jahren, zehrt Kenneth Branagh von seinem Ruf als vielleicht größter Shakespeare-Schauspieler seit Laurence Olivier. Branagh überwältigte in dem Film, in dem er auch Regie führte, als junger, edelmütiger König, der gegen Frankreich in den Krieg zieht, um die Krone an sich zu reißen, oder um zumindest mit einer Königstochter als Beute Anspruch auf den Thron zu erheben. Heinrich siegte in der Schlacht von Azincourt gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Franzosen und verhalf den Engländern zu dem heroischen Selbstbild der Löwen, die ungeachtet ihres Standes wie ein Mann kämpfen.

Branagh verstand sich auf die Popularisierung von Shakespeare, doch mit seinem "Heinrich V." konnten später weder "Viel Lärm um nichts" noch "Othello" oder "Hamlet" mithalten. Branagh geriet nach Hollywood und in immer seichtere Gewässer und kehrte schließlich als Kommissar Wallander zur BBC zurück. Zuletzt verlegte er sich auf Neuverfilmungen von Agatha Christies betulichen Hercule-Poirot-Komödien. Mit "Belfast" möchte Branagh wieder erkennbar mehr, gern auch Oscars. Branagh ist in Belfast geboren und aufgewachsen, bis seine Eltern Nordirland verließen, um in England zu arbeiten. "Belfast" ist ein autobiografischer Film, aber eher Hommage an das Kino und die Kindheit, mal elegisch, mal sentimental, immer nostalgisch.


Der Film beginnt zur tatsächlich fantastischen Musik von Van Morrison und mit einer Luftaufnahme aus dem geleckten Belfast von heute, einer modernen Hafen- und Industriestadt, die keine Ähnlichkeit mehr hat mit dem Ort, der für bürgerkriegsähnliche Unruhen stand, für Terror und Polizeigewalt, soziale Ungerechtigkeit und konfessionellen Fundamentalismus. Doch dann eröffnet der Film einen Blick hinter die Mauer der Geschichte, wechselt von der Farbe zum Schwarzweiß und führt in eine ganz normale Belfaster Straße im Jahr 1969, deren Kulissenhaftigkeit nicht verborgen bleibt: In einem dieser typischen Reihenhäuser wohnt der neunjährige Buddy (Jude Hill) und spielt draußen mit den anderen Kinder - natürlich - Drachentöter, während drinnen die Mütter Gurkensandwichs für den Tee vorbereiten. Der Vater arbeitet in England, er kommt alle zwei Wochen für das Wochenende nach Hause. Katholiken und Protestanten leben noch mehr oder weniger friedlich nebeneinander, beide sprechen komischen Dialekt und beide fühlen sich verglichen mit den Engländern ein bisschen zweitklassig. Die jeweils anderen bemitleiden sie dafür, von einer Religion der Angst geknechtet zu werden.

Natürlich bricht die Gewalt auch in diese bescheidene Idylle ein. Ein protestantischer Mob fällt über die Straße her, um die Katholiken aus ihren Häusern zu vertreiben, dann werden Mauern und Stacheldraht hochgezogen, Panzer fahren vor, Wachposten kontrollieren Ein- und Ausgänge. Aus der wohlbehüteten Nachbarschaft wird eine Sperrzone, Milizen übernehmen das Kommando. Der Vater möchte wegziehen aus Belfast, England bietet ihm Möglichkeiten, die Mutter hält dagegen: Wenn alle bei Verstand weggingen, blieben doch nur die Irren übrig. "Aber wer würde die Pubs in der Welt betreiben, wenn die Nordiren nicht auswanderten", entgegnet ihre Freundin. Hauptsache, man hat die Noten für Danny Boy dabei.


Buddy bekommt die Geschehnisse nur am Rande mit. Wie könnte auch ein Kind in seinem Alter die Troubles verstehen? Er lebt das Leben eines Neunjährigen, lässt sich von den bösen Mädchen anstiften, im indischen Krämerladen Süßigkeiten zu klauen, sein Herz jedoch gehört der braven hübschen Klassenbesten. Szenen, die man allesamt eher aus dem Kino denn aus dem eigenen Leben kennt. Wenn die Nachrichten kommen, macht die Mutter den Fernseher aus. Das formidable Schauspieler-Ensemble von Caitriona Balfe über Jamie Dornan und Ciarán Hinds bis Judi Dench bleibt ein bisschen unterfordert.

Wie die Troubles in die Kindheit, brechen hin und wieder starke Momente in diese recht stereotype Filmwelt: Etwa wenn Buddy seine ausgekochte Freundin fragt, woran man Katholiken erkennt (an den Namen, sie heißen Sean oder Patrick) oder was er antworten soll, wenn die Milizen ihn fragen, ob er Protestant oder Katholik sei (die Wahrheit sagen oder bluffen?). Wenn die "Milchmänner" ihm Botschaften für den großen Bruder mitgeben. Wenn die Mutter beim Finanzamt nachfragt, ob jetzt wirklich alle Steuerschulden beglichen seien, und dieses prompt anfängt, nach neuen Außenstände zu graben. Oder wenn der Großvater Buddy beibringt, bei Matheaufgaben Zahlen extra undeutlich zu schreiben, um seine Chance auf einen richtigen Treffer zu erhöhen: "Aber es gibt doch eine richtige Antwort", wendet Buddy ein und bekommt als Antwort. "Wenn es immer nur eine richtige Antwort gäbe, würden sie sich nicht gegenseitig in die Luft jagen."

Umgekehrt bricht auch immer das Kino in die Welt des Neunjährigen. Die Plünderung eines Supermarkts geht über in die Duell-Szene aus "Zwölf Uhr mittags", Familienglück gibt's am Sonntagnachmittag zu "Chitty Chitty Bang Bang" und schließlich gönnt Branagh Buddys Eltern - bei der Beerdigung des Großvaters - einen Bombast-Auftritt zu "Everlasting Love". Nichts gegen Spaß auf der Beerdigung, aber die gute Laune, die Kenneth Branagh hier seinem Film aufdrückt, widerlegt seine eigene Geschichte. Am Ende dürfen sich alle bedient fühlen: Der Film ist denen gewidmet, die geblieben sind, die gegangen sind, und allen anderen auch.

Thekla Dannenberg

Belfast - GB 2021 - Regie: Kenneth Branagh - Darsteller: Jude Hill, Lewis McAskie, Caitriona Balfe, Jamie Dornan, Judi Dench - Laufzeit: 98 Minuten.

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Ein Tag bricht an in einem kleinen, einfachen Haus irgendwo in der argentinischen Pampa. Durch einen mit Teilen von Tierkadavern behangenen, morschen alten Holzzaun sehen und hören wir quiekende Ferkel im Matsch spielen. Der Wind spielt in den Gräsern und schaukelt ein paar eifrige Spinnen in ihren Netzen vor dem Hintergrund des wolkenverhangenen Himmels. Die Bewohner des Hauses stehen auf, Handys werden angeschaltet, Gewehre geladen, ein Konvoi setzt sich in Bewegung: hinten zwei Anhänger, einer mit Pferden, einer mit Kindern, ein älterer und ein junger Mann, wohl Vater und Sohn, vorne im Fahrerhaus.

Die Bilder des achten langen Dokumentarfilms von Martín Farina, der Regie, Drehbuch, Schnitt und Kamera übernahm, co-produzierte und die Musik mitkomponierte, sind meist in Farbe, manchmal in Schwarz-weiß, immer exakt komponiert und mit einem genauen Gespür für Atmosphäre und ihre jeweiligen Gegenstände. "El fulgor" ist die Arbeit eines sehr ambitionierten Routiniers, für den es offenbar notwendig ist, möglichst viele kreativen Posten zu besetzen, um genau den Film zu machen, der ihm vorschwebt.


Gezeigt wird die Vorbereitung einer Familie von Gauchos - der argentinischen Cowboys, die in der (historischen) Folklore des Landes eine ähnlich große Rolle spielen wie ihre nördlichen Gegenparts in der der USA - auf eine Karnevalsparade. Eines ihrer Rituale, das in der ersten Hälfte des Films zu sehen ist, nennen sie die "Reinigung des Fleisches". Close-Up vom Auge einer Kuh. Einer der Jungen zielt mit dem Gewehr auf sie, den Schuss hören wir nur, sehen dazu Wäsche, die auf einer Leine baumelt. Schnitt auf das Fleisch, die Innereien, die, zum Labsal einiger Vögel, an Bäumen zum Trocknen aufgehängt wurden. Die Männer schneiden das Fleisch, wühlen in den Innereien, die Kamera ist dicht bei ihnen, wühlt mit, registriert betont nüchtern ihre geübten Handbewegungen, zeigt eine aus den sterblichen Tierüberresten arrangierte Szenerie, die für Teile des Zielpublikums in den Kinos der großen Städte morbide wie Francis-Bacon-Gemälde wirken mag, aber für die Gauchos schlicht Alltag ist, von klein auf.

Farina enthält sich dabei nicht nur jeglichen Kommentars, etwa durch ein Voice-Over; auch seine Figuren sprechen den ganzen Film über kein einziges vernehmbares Wort. Offensichtlich verfolgt er eine Doppelstrategie: Auf der formalen Ebene geht es darum, die Bilder mit aller Konsequenz für sich sprechen zu lassen. Auf der des Inhalts stellt er die Frage, was uns, für die der gezeigte Alltag, dem wir in kompakten 65 Filmminuten beiwohnen, wohl mehrheitlich sehr fremd, teilweise befremdend wirkt, uns über die Welt, in der wir leben, unsere Vorurteile und damit letztlich auch uns selbst zu sagen hat.

So souverän, wie Farina über seine filmischen Mittel verfügt, gelingt es ihm auch, die reine Bild- mit einer Diskursebene anzureichern. Wir erhalten Einblick in ein Leben, das Stereotype und tradierte Narrative über Geschlecht, soziale Klasse oder race spielerisch unterwandert. Ein Leben in und mit der Natur, das sich offenkundig verträgt mit einem Outfit aus T-Shirt, Shorts und Marken-Sneakers. Für die finale Karnevalsparade tragen die Männer denkbar dick Make-up auf, die Kostüme, in die sie sich zwängen, sind knapp, körperbetont, freizügig, mit glitzernden faux-Edelsteinen und bunten Federn verzierte Fummel, die jede Dragqueen stolz machen würden. Wie ihre Pendants im Norden sind auch die Gauchos offensichtlich mehrheitlich Nachfahren der Europäer*innen, die einst den Kontinent eroberten und besiedelten.


Der Ton des Films ist häufig Geschmackssache, etwa in den Bildern des Protagonisten Vilmar Paina, die beseelt sind von einer etwas schlichten Form von Pathos - braungebrannte Haut, mittellanges lockiges Haar und Bart, eindringlicher Blick, einmal fließt eine Träne im Close-up über sein Gesicht. Auch die Naturaufnahmen wirken in ihrer Schönheit bisweilen etwas zu selbstverliebt, kommen der Ästhetik gegenwärtiger Bildschirmschoner gefährlich nahe. Letztlich überwiegt jedoch Farinas Gespür für Rhythmus, unterschiedliche Stimmungen und Tempi - etwa bei einer Parallelmontage gegen Ende, die hin und her springt zwischen Stadt und Land, Trubel und Stille, dem rauschhaften Treiben der schwitzenden, im Tanz eng aneinander geschmiegten, ekstatisch zuckenden Männerkörpern auf der Parade und Paina, alleine im Wald -, durch dass der Film einen hypnotischen Sog entwickelt, dem man sich kaum entziehen kann.

Nicolai Bühnemann

El fulgor - Argentinien 2021 - Regie: Martin Farina - Laufzeit: 65 Minuten.