Im Kino

Zutrittsverweigerung

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Lukas Foerster
09.03.2022. Auch das Leben eines Menschen kann eine Diskontinuitätsmontage sein: Philip Scheffner erzählt in "Europe" von einer jungen Frau, der Frankreich das Aufenthaltsrecht entzieht, indem er sie aus seinem Film verschwinden lässt. Pedro Almodóvars "Parallele Mütter" führt uns mit der Eleganz und Virtuosität des alten Meisters durch die privaten und politischen Wirrungen der Madrider Kultur-Bourgeoisie.
Eine grobe, allzu grobe, vom Kino immer wieder auf diverse Arten und Weisen unterlaufene Unterscheidung zwischen dokumentarischen und fiktionalen Filmen könnte so lauten: Der Dokumentarfilm nimmt seinen Anfang bei unserem Wissen um die Kontinuität der Welt jenseits der Grenzen der Leinwand. Der fiktionale Film hingegen nimmt seinen Anfang einerseits bei unserem Wissen über die Diskontinuität der dargestellten Welt jenseits der Grenzen der Leinwand; und andererseits bei unserer Bereitschaft, dieses Wissen beim Anschauen des Films kontinuierlich, wenn auch sicher nie vollständig, zu verdrängen.

Was dem fiktionalen Film den Eindruck einer "welthaltigen" Geschlossenheit verleiht: Darüber hat sich die Filmwissenschaft viele Gedanken gemacht. Filmsprachliche Konventionen wie Schuss/Gegenschuss dürften eine Rolle spielen, vielleicht auch psychologische und ideologische Verfasstheiten auf Seiten der Zuschauer_innen. Philip Scheffners erster Spielfilm macht noch einmal einen anderen Vorschlag. "Europe" stellt die Frage, ob der Realitätseindruck im fiktionalen Film, seine Konstitution, vor allem aber die Verdrängungsleistung, die notwendig ist, um ihn aufrechtzuerhalten, nicht auch etwas zu tun haben könnte mit der politischen Verfasstheit der Welt, in der wir leben.

Die Welt von "Europe" erscheint zunächst stabil. Europe ist nicht Europa, aber irgendwie doch: Die Gegend um die so benannte Bushaltestelle in der französischen Kleinstadt Châtellerault könnte man, mit ihren sauberen, funktionalen Straßen und den normiert ausschauenden Kastenbauten, so ähnlich in vielen Ecken des Kontinents vorfinden. Hier lebt Zohra Hamadi (Rhim Ibrir), eine junge Frau, der wir im ersten Bild des Films in Form einer Röntgenaufnahme begegnen. Allerlei Drähte und Streben befinden sich in ihrem Oberkörper. Sie leidet, erfahren wir später, unter Skoliose, konnte sich lange nur sehr eingeschränkt bewegen.



Ein operativer Eingriff ermöglicht ihr inzwischen ein einigermaßen beschwerdefreies Leben. Wir sehen sie bei der Arbeit, beim Einkaufen, bei der Unterhaltung mit Nachbarn, bei langen, stundenlangen Telefonaten, zu Hause auf der Coach im verschatteten Wohnzimmer (ein großer Teil des Films spielt in solchen dunklen Innenräumen, in Zimmern, die mit dem Licht auch die Zeit herunterzudimmen scheinen), mit ihrem Ehemann, den sie kürzlich in Algerien geheiratet hat und der nun bald zu ihr nach Frankreich kommen soll. Kurz und gut, wir sehen Alltag, filmisch produziert. Das Innen passt zum Außen, die Handlungen zu den Dialogen, die sozialen Situationen zu den Bildern. Bis Zohra sich zu einem Behördentermin aufmacht, ihren Aufenthaltsstatus betreffend.

Nicht zufällig muss sie sich auf dem Weg dorthin durch eine Parade mit jeder Menge französischen Fahnen schlängeln. Auf dem Amt selbst sitzt ihr ein junger Monsieur Leroux gegenüber, der ihr mitteilt, dass ihr Bleiberecht nicht verlängert wird. Für ihre entsetzte Nachfrage erklärt er sich nicht zuständig und geht erst einmal in die Raucherpause. Der Film folgt ihm dorthin und Zohra verschwindet fürs Erste aus unserem Blickfeld.

Im Unsichtbarwerden von Zohra wird die Gewalt sichtbar, die der französische Staat ihr antut. Das ist nur eine von mehreren bildpolitischen Interventionen in Scheffners Film, aber zweifellos eine besonders prägnante. Tatsächlich handelt es sich um eine Verschiebung, beziehungsweise Rekadrierung. Im Folgenden sehen wir verschiedene Menschen mit Zohra interagieren, aber wir sehen sie selbst nicht. Sie bleibt im Off des Bilder, und auch die Tonspur registriert ihre Worte nicht mehr. Offengelegt werden in dieser anti-illusionistischen Geste freilich nicht nur die Mechanismen staatlicher Herrschaft, sondern auch die Kontinuitätserwartungen, die uns in unserem täglichen Leben begleiten. Zum Beispiel, dass die meisten von uns davon ausgehen können, auch noch morgen, nächste Woche, in zwei Monaten an dem Ort leben zu dürfen, an dem wir heute leben. Oder auch, dass wir den Menschen, die wir lieben, nah sein können, soweit wir das wünschen.

Unter sogenannten normalen Bedingungen, unter den Bedingungen der Mehrheitsgesellschaft, oder vielleicht eher eines idealisierten Selbstbildes der Mehrheitsgesellschaft, ist das Leben selbst eine Kontinuitätsmontage. Aber folgt daraus, dass das fiktionale Kino ein Komplize der sogenannten Normalität ist, und dass periphere Perspektiven wie die von Zohra sich zum flüssigen Voranschreiten seiner Bilder lediglich wie Stolpersteine verhalten? Scheffners Film jedenfalls bleibt bei einer solchen Diagnose nicht stehen.


Denn plötzlich ist Zohra wieder da. Oder jedenfalls eine Frau, die aussieht wie Zohra und die sich durch dieselben Räume bewegt, durch die sich Zohra bewegt hatte. Aber die Räume fügen sich nicht mehr zu einer Welt und die Handlungen der Figur nicht mehr zu einer kohärenten Biografie. Wir sehen Zohra wieder in ihrer eigenen Wohnung, aber auch in der von Monsieux Leroux, dem jungen Mann vom Amt. Wir sehen sie im Hallenbad Bahnen schwimmen, wo es ihr vorher bei der Physiotherapie nicht gelungen war, sich im Wasser auch nur zurückzulehnen. Ein junger Mann, den wir eben noch für einen Nachbarn gehalten haben, scheint plötzlich der erwartete Gatte aus Algerien zu sein. Zohra ist nicht mehr mit sich selbst identisch. Vielleicht war sie es nie. Man denke an das Röntgenbild, an die Fremdkörper in ihrem Leib. Auch das Bild eines einzelnen Menschen kann unter Umständen eine Diskontinuitätsmontage sein.

Es öffnet sich in "Europe", mit anderen Worten, ein filmischer Möglichkeitsraum. Das Moment des Diskontinuierlichen, das im fiktionalen Film ansonsten meist im Verborgenen bleibt, vor uns versteckt wird, tritt an die textuelle Oberfläche, und zwar mithilfe der simpelsten filmischen Techniken. Jemand schlägt eine Tür zu und öffnet sie wieder und schon sind wir in einer anderen Welt. Zohra trägt die Haare in einer Szene als Pferdeschwanz und in der nächsten offen und schon ist sie eine andere Frau. Die "Armut" der Mittel hat Methode: Dass die Kräfte der Fiktion (mit Deleuze gesprochen: die Mächte des Falschen) nicht in einer Situation des Überflusses und der Saturiertheit, sozusagen als bloßes Wohlstandsornament, entfesselt werden, sondern sich ganz im Gegenteil an eine Erfahrung des Ausgeschlossenwerdens, der Zutrittsverweigerung knüpfen: Darin artikuliert sich der politische Kern von Scheffners Film.

Lukas Foerster

Europe - Deutschland 2022 - Regie: Philip Scheffner - Darsteller: Rhim Ibrir, Sadya Bekkouche, Thomas Blanchard, Thierry Cantin, Didier Cuillierier, Zoulikha Ibrir - Laufzeit: 105 Minuten.

-

Gehen wir zurück ins Spanien der späten Siebziger: Das Land konnte sich erst 1975 durch den Tod des Diktators Francisco Franco vom Faschismus befreien. Der Aufbruch der transición, durch den zum ersten Mal offen verschiedene alternative Lebensentwürfe nebeneinander stehen und die Kunst ungehemmt unterschiedliche marginalisierte Lebenswelten in den Blick nehmen konnte, fand auch in der spanischen Filmgeschichte ihren Ausdruck. Etwa im grimmigen Sozialrealismus des Cine quinqui, das Geschichten aus den Armutsvierteln an den Rändern der großen Städte erzählte, oder aber durch Filmemacher, die zur movida madrileña - der Madrider Bewegung - gehörten, einer dem Punk nahe stehenden, queeren künstlerischen Subkultur. Einer von ihnen, dessen Filme sich mit fröhlichem Dilettantismus beim Camp, Tempo und Witz alter Hollywood-Musicals und -Screwball Comedies bedienten, aber zugleich - bisweilen fast dokumentarisch - vom Lebensgefühl einer jungen urbanen Generation erzählten, die offensichtlich sehr viele endlose Nächte voller Sex, Drogen und allerlei künstlerischen Experimenten nachzuholen hatte, hieß Pedro Almodóvar.

Der Rest ist Filmgeschichte: Almodóvar, der - nicht unbedingt selbstverständlich - die wilden Zeiten der movida unbeschadet überstand, wurde zum Star, zur Ikone. Ab den Neunzigern war jeder neue Film von ihm in seinem Heimatland ein kulturelles Großereignis. Nun kommt sein zweiundzwanzigster langer Spielfilm in die Kinos: "Parallele Mütter". Auch der Film kehrt am Anfang weit zurück in die spanische Geschichte: die erfolgreiche Modefotografin Janis (Penelope Cruz) lernt in der gut situierten Madrider Kunstszene den Archäologen Arturo (Israel Elejealde) kennen. Sie wendet sich an ihn, weil sie in dem Dorf, aus dem sie stammt, die Leichen einiger Männer, die als Soldaten im spanischen Bürgerkrieg das Leben ließen, ausgraben möchte, um ihnen endlich ein anständiges Begräbnis zu ermöglichen, die Erinnerung an sie aufrechtzuerhalten.

Einerseits kann man in diesem Anfang ein Stück weit eine falsche narrative Fährte sehen, weil es im folgenden zunächst nur am Rande um das archäologische Projekt, die Aufarbeitung der spanischen Geschichte gehen wird; viel wichtiger ist, dass Janis und Arturo sich privat näher kommen. Unmittelbar nach ihrem ersten Treffen zu zweit gibt es einen Schnitt auf einen weißen Vorhang, den der Wind durch das Fenster einer Altbauwohnung in den blauen Himmel wehen lässt, während im Inneren zwei Menschen vernehmbar Sex haben. Ein Jahr später, der Film erzählt das in kunstvoll ineinander verschachtelten Zeitebenen, verkündet Janis ihrem verheirateten Liebhaber, dass sie schwanger ist.

Andererseits ist bei der zentralen narrativen Bewegung von der Landesgeschichte zu den Beziehungs- und Familiendynamiken, um die es in "Parallele Mutter" hauptsächlich geht, dem Rückzug vom Politischen ins Private, das Private immer schon politisch. Janis steht in einer langen Familienlinie alleinerziehender Mütter. In den liberalen Patchworkfamilien-Konstellationen des 21. Jahrhunderts sind die Väter genauso abwesend wie in den kriegerischen Jahrzehnten des 20.


Der charismatische Arturo wird keineswegs negativ dargestellt - selbst in einem der raren komödiantischen Momente, wenn er überraschend mit einem Blumenstrauß vor Janis' Tür steht, um den Jahrestag des ersten gemeinsamen Sex zu zelebrieren, gibt der Film ihn nicht der Lächerlichkeit Preis. Er ist in seiner Schönheit und seiner andauernden Überforderung als Partner und Vater aber ziemlich egal - beziehungsweise einfach: meist abwesend. Ganz im Gegensatz zur noch minderjährigen Ana (Milena Smit), mit der Janis nach der Geburt ein Krankenhauszimmer teilt. Am selben Tag gebären die beiden Frauen zwei Mädchen: In einer Parallelmontage sehen wir zwei werdende Mütter durch den schmerzhaften Vorgang gehen, neues Menschenleben in die Welt zu setzen.

Die wichtigsten plot points im eng geflochtenen Netz der Beziehungen, das sich im Folgenden entspinnt, sind das alte Motiv zweier Babys, die nach der Geburt vertauscht wurden, ein plötzlicher Kindstod und ein lesbischer Beziehungstwist in der zweiten Filmhälfte, durch den die parallelen Mütter zu Partnerinnen werden. Es geht darum, dass in einem konstanten Akt der Verschiebung unterschiedlich Beziehungsmodelle immer wieder neu austariert und -gehandelt werden müssen. Am Ende steht eine Reisebewegung vom Privaten zurück ins (offen) Politische. Janis und Arturo tun schließlich doch noch, was sie überhaupt erst zusammengeführt hat. Sie rekonstruieren die Vergangenheit der (Familien)Geschichte, (auch) um in der Gegenwart einen Abschluss zu finden, der es ihnen ermöglicht, sie aktiver und bewusster fortschreiben zu können.

Die Bezüge zu früheren Filmen Almodóvars sind in "Parallele Mütter" Legion. Zusammengehalten wird der Film durch das zentrale Thema der Mutterschaft, das sich seit den wilden Anfängen durch sein Werk zieht. Immer wieder geht es um das, was Frauen in einer Welt, in der Männer nur am Rande vorkommen, von ihren Müttern gelernt und übernommen haben, um es nun an ihre Töchter weiterzugeben. Diesen elegant, aber doch unaufdringlich konstruierten Plot bebildert Almodóvar so, wie wir es aus der jüngeren Vergangenheit von ihm gewohnt sind: in genau arrangierten Einstellungen, in Bildern, mit mitunter grellen, aber doch geschmackvollen Farben. Bilder, die genauso durchgestylt sind wie die in Beige- und Pastelltönen gehaltenen, geräumigen Altbauresidenzen der Madrider Künstler-Bohéme oder die Outfits der Figuren, insbesondere die feuerroten der alten Almodóvar-Diva Rossy de Palma, die in einer Nebenrolle auftritt.


Dabei setzen sich die ästhetischen Probleme, die ich mit seinem Spätwerk habe, nahtlos fort: die Filme verlassen sich immer ein bisschen zu sehr auf die Virtuosität eines alten Meisters mit über vierzig Jahren Erfahrung als Filmemacher. Ihr Problem ist nicht, dass sie nicht schön anzusehen wären, sondern dass sie etwas zu schön sind, um wirklich interessant zu sein. Das gilt für den vermutlich schwächsten Film seiner Karriere, "Julieta", der sich, trotz aller Autorenhandschrift, kaum abhebt vom gediegen langweiligen Durchschnitt des Qualitätskinos fürs bürgerliche Arthaus-Publikum. Aber auch dort, wo er sich inhaltlich traut, neue Wege auszuprobieren, etwa in der irrwitzigen queeren Pulp-Phantasie "Die Haut, in der ich wohne".

"Parallele Mütter" ist einerseits ein fantastischer Film, mit dem der späte Almodóvar ganz zu sich kommt. Von den 120 Minuten ist nicht eine langweilig, nicht eine Szene ist zu viel oder zu wenig. Bisweilen baut der Film in der Betrachtung seiner Beziehungsdynamiken fast Thriller-Spannung auf, die daran erinnert, dass Hitchcock eine wichtige Referenz in seinen Filmen um 2000 war. Die formale und narrative Eleganz verstellen nie den empathischen Blick auf die Protagonistinnen und ihr Gefühlswelt. Andererseits beißt sich die Tatsache, dass diese Familiengeschichte offener politisch daherkommt als andere seiner jüngeren Arbeiten, umso mehr damit, dass das alles ein wenig zu gelackt, zu sehr auf Hochglanz poliert aussieht. Die selbstreflexive Geste, den Film teilweise in der Modewelt spielen zu lassen, und in manchen Szenen mit deren Ästhetik zu kokettieren, führt nicht dazu, dass die Form stimmig zum Inhalt findet.

Ich kann mir nicht helfen: Wenn ich sehe, wie geschmackssicher sich Almodóvar heute an der Mutterschaft weißer wohlhabender Frauen abarbeitet, vermisse ich die rohe Unmittelbarkeit, die etwa sein Debüt "Pepi, Lucy, Bom und die anderen Mädchen vom Haufen" (1980) auszeichnete, in dem - oh, ewige Dialektik! - am Ende die bürgerliche Heteroehe als sado-masochistische Zweckgemeinschaft brachial-satirisch zur Alternative zum alternativen Party-Lifestyle der movida madrileña wurde.

Nicolai Bühnemann

Parallele Mütter - Spanien 2021 - Regie: Pedro Almodóvar - Darsteller: Penélope Cruz, Milena Smit, Israel Elejalde, Aitana Sánchez-Gijón, Rossy de Palma - Laufzeit: 123 Minuten.