Im Kino

Von einem Raben beobachtet

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel, Robert Wagner
16.03.2022. Familiäre Bindungen sind bei Nanni Moretti ein Hort von Schuld: Am schönsten ist "Drei Etagen", wenn das klamme Gefühl von der Unzulänglichkeit des Menschen aus seinen Ritzen drängt. Keiner seiner Filme hat bisher so ungeschönt ausgedrückt, dass Nadav Lapid keine Angst hat, wie sein vor Wut schäumender vierter Spielfilm "Aheds Knie": ein widersprüchlicher Generalangriff auf die israelische Kultur.
Drei Geschichten, drei Familien, "Drei Etagen" eines Hauses. Über zwei Zeitsprünge von jeweils fünf Jahren werden die Geschichten zudem noch einmal in drei Etappen unterteilt, die wiederum drei Phasen von Eltern-Kind-Beziehungen präsentieren. Heißt: Eine der parallel erzählten Geschichten beginnt mit einer Geburt und endet mit einem 10-jährigen Kind, während eine andere mit einem Grundschulkind anfängt und zum Ende der Jugend abschließt. Die dritte parallele Erzählung wiederum setzt mit den Eltern eines jungen Erwachsenen ein, um final bei der Beziehung zwischen Erwachsenen anzukommen. Der Aufbau des neuen Films von Nanni Moretti ist klar, symmetrisch, fast schon hermetisch.

Erzählt wird von Monica (Alba Rohrwacher), die ein Kind allein aufziehen muss, weil ihr Mann durch seinen Job ständig abwesend ist. Sie fühlt sich vereinsamt und der neuen Situation nicht gewachsen. Wohl auch, da ihre eigene Mutter nach ihrer Geburt Wahnvorstellungen entwickelte und Monica sich von einem Raben beobachtet fühlt. Erzählt wird vom Richterehepaar Vittorio (Nanni Moretti) und Dora (Margherita Buy), deren Sohn Andrea (Alessandro Sperduti) betrunken eine Passantin überfährt. Dabei geht es um zwei Männer, die sich auf ihre jeweils eigene Weise vor Verantwortung drücken, und um eine Frau, die zwischen zwei Männern steht, die nichts mehr miteinander zu tun haben möchten.

Erzählt wird von Lucio (Riccardo Scamarcio), der einem langsam dement werdenden Nachbarn die eigene Tochter anvertraute, um ins Fitnessstudio gehen zu können. Bei seiner Wiederkehr sind beide verschwunden. Beide werden zwar wiedergefunden, aber statt sich seiner eigenen Schuld zu stellen, verfolgt er die fixe Idee der Schuld des Anderen. Wahnhaft und brutal versucht er dem Nachbarn einen sexuellen Übergriff nachzuweisen und merkt dabei gar nicht, wie er sein eigenes Leben zerstört.


Andrea wurde als 8-Jähriger wegen eines Vergehens vor Gericht gestellt. Im Wohnzimmer, mit dem Vater als Richter. Es handelt sich um eine Erinnerung, die während eines Streits ins Feld geführt wird. "Drei Etagen" bietet damit ein Bild für das Verhalten der meisten seiner männlichen Figuren. Sie urteilen ab, statt sich mit Situationen auseinander zu setzen. Kalt und distanziert wehren sie ab und explodieren, sobald ihnen etwas zu nah kommt. Die Frauen sind dagegen zuvorderst passiv - bis es zu spät ist. Familiäre Bindungen sind ein Hort von Schuld, ein Ort seelischer Klaustrophobie. Die Familienmitglieder sind aneinander gekettet und können sich höchstens unter größter Anstrengung voneinander lösen - ohne jemals von diesen Schicksalsgemeinschaften wirklich frei zu kommen.

"Drei Etagen" ist äußerst dicht, wirkt aber beiläufig. Vor Melodramatik scheut sich die Erzählung und belässt Situationen lieber unklar, ambivalent und unaufgelöst. Statt Katharsis bleibt den Figuren nur ein Dahinsiechen in moralischen und emotionalen Grauzonen. Die Bilder sind passend dazu wenig expressiv und der Schnitt völlig elliptisch. Statt in den Figuren zu bohren, wird ihnen die Freiheit gegeben, nicht durchdefiniert zu werden. Der distanzierte Blick des Films gleicht der Passivität der weiblichen Figuren. Er beobachtet mehr oder weniger urteillos und verschließt immer wieder die Augen, wenn es zu viel zu werden droht. Manchmal eben für fünf Jahre.

Eingeführt werden die drei Familien nicht über ihre örtliche Verbundenheit, sondern über den Autounfall Andreas. Monica verlässt das Haus. Ihre Wehen haben eingesetzt, aber statt auf das gerufene Taxi zu warten, läuft sie durch die nächtliche Straße. Einem heranrasenden Wagen stellt sie sich winkend in den Weg. Dieser weicht ihr aus, jagt weiter, überfährt eine Frau und crasht in das ebenerdige Büro Lucios. Am Steuer sitzt der betrunkene Andrea.


Schon in dieser Sequenz findet sich die erzählerische Asymmetrie, die der Symmetrie des Aufbaus entgegenstellt wird. Die Verlassenheit Monicas bekommen wir deutlich vorgeführt, in das gespannte Verhältnis zwischen Andrea und Vittorio erhalten wir nur einen kleinen Einblick, da der Sohn den Vater vor seinem Abtransport im Krankenwagen nicht sehen möchte. Von Lucio erfahren wir lediglich, wo er wohnt. Diese informative Asymmetrie erschöpft sich nicht darin, dass manches ausgesprochen, manches angedeutet und manches verschwiegen wird. Vielmehr legt "Drei Etagen" sein Augenmerk auf die Schuldhaftigkeit der Personen. Andrea, der in seinem Zustand die Bremse nicht zu finden scheint, ist klar an dem Tod eines Menschen schuldig. Viel weniger klar ist die Verantwortung, die Monica zugesprochen wird.

Auf der Tonspur hören wir die Ansage aus ihrem Handy, dass sie auf das Taxi an Ort und Stelle warten soll. Penetrant und immer wieder. Und doch läuft sie los und schmeißt sich einem beliebigen Auto in den Weg, das daraufhin zu schlingern und eine Schneise der Zerstörung zu ziehen beginnt. Nichts davon bleibt im Film greifbar. Höchstens hallt ihr Gesicht nach, das dem Geschehen nachblickt. So stellt Moretti seinen Film voller Marker von Schuld. Aktiv macht er mit ihnen nichts, sondern vertraut, dass sie wie Echos den Film und die Figuren durchziehen.

Diese allgegenwärtige, jedoch meist verdrängte Schuld liegt eben nicht in der Regelmäßigkeit der Dinge begründet. Nicht die Familie und die abgegrenzten drei Phasen der Eltern-Kind-Beziehungen bilden die Ursache des glimmenden Leids des Films, sondern die Unwägbarkeit des Selbst. Am schönsten ist "Drei Etagen", wenn dieses klamme Gefühl aus seinen Ritzen drängt. Wenn auf eigenwillig trostvolle Weise von der Unzulänglichkeit der Menschen erzählt wird, ohne sie vor ein Gericht zerren zu wollen. Nur manchmal gibt Nanni Moretti dem Drang nach klaren, versöhnlichen Verhältnisse nach. Und egal wie sehr er solchen Szenen den Nimbus der Illusion beimischt: Sie wirken doch wie eine minimale Verwässerung seines ansonsten so lockeren Films über die grauenvollen Potenziale familiären Zusammenlebens.

Robert Wagner

Drei Etagen - Italien 2021 - OT: Tre piani - Regie: Nanni Moretti - Darsteller: Riccardo Scamarcio, Margherita Buy, Alba Rohrwacher, Adriano Giannini, Elena Lietti, Nanni Moretti - Laufzeit: 119 Minuten.

-

Nadav Lapid sagt gerne, dass man die Kamera überwinden müsse. Es sei die Aufgabe von Filmschaffenden, die "Regeln" der Kunst zu brechen. Er meint das ganz konkret und auf die freie Form seiner Filme bezogen. Aber mehr noch als das strebt er danach, das ganze System, von Förderung bis zu Distribution zu hinterfragen. Lapid ist, in den Worten von Kritiker James Lattimer, jemand, der keine Angst davor hat, in die Hand zu beißen, die ihn füttert. Keiner seiner Filme hat das bisher so stark und ungeschönt ausgedrückt, wie sein vor Wut schäumender vierter Spielfilm "Aheds Knie". Der geradezu cholerisch in sich gebrochene, widersprüchliche Generalangriff auf die israelische Kultur fasziniert in seiner ungesunden Vitalität ungemein, neigt aber zur nur dürftig in Autofiktion verkleideten Nabelschau.

In "Aheds Knie" folgt der inzwischen in Frankreich lebende israelische Filmemacher einem anderen Filmemacher namens Y. Dieser Y reist in die Wüste von Arava, um einen älteren Film zu präsentieren. Vor Ort konfrontiert ihn die stellvertretende Bibliotheksleiterin Yahalom in erotisch aufgeladen und von abrupten Schnitten begleiteten Dialogen mit den zensorischen Maßnahmen des Kulturministeriums. Y soll ein Dokument unterschreiben, auf dem festgehalten wird, über was er beim Q&A nach seinem Film sprechen darf.


Bei Lapid erzählt sich das weniger über die sich um diesen Konflikt zwischen künstlerischer Freiheit und politischen Interessen kreisende Narration als durch den Stil, den er dafür findet. Nicht ganz ohne Zaunpfahl winkt es, wenn Y sagt, dass man auf den Stil achten müsse. Denn nicht nur hüpfen die Perspektiven in aufdringlicher Manier von hier nach dort, sondern manchmal fliegt man gar durch Raum und Zeit, sodass man sich fragen muss, wessen Sicht man eigentlich sieht. Jene von Y, dem man körperlich nahe kommt oder jene des Filmemachers, dessen Leben ohnehin auffällige Parallelen zu dem seines Protagonisten aufweist? Die Schnitte verbinden weniger Elemente aus dem Leben des Protagonisten, als dass sie diese mit anderen, außerfilmischen Ereignissen in Verbindung setzen. Diese außerfilmischen Ereignisse, zum Beispiel ein plötzlicher Schnitt nach Tel Aviv, scheinen mehr mit Lapid als mit Y zu tun zu haben.

Außerdem verarbeitet Lapid den Tod seiner eigenen Mutter, die als Editorin an seinen vorherigen Filmen arbeitete, indem er Y kleine, mit seinem Handy aufgezeichnete Videoclips an seine sterbenskranke Mutter schicken lässt. Es handelt sich dabei um eine Art Dokumentation des für ihn inspirierenden Niedergangs Israels.

Y arbeitet zudem an einem Projekt über Ahed Tamini, eine junge Palästinenserin, die 2017 einige Soldaten schlug, die ihren Bruder erschossen. Als das Video viral ging, forderte der rechte Politiker Bezalel Smotrich, dass man Ahed ins Knie schießen sollte. Lapid lehnt sich in agitatorische Gefilde, weil er Wahrheiten ausspricht, über die andere seit Jahren schweigen. Seine Wut erinnert an Pier Paolo Pasolini, nur sein Ausdruck ist weniger intellektuell. Lapid ist wahrlich kein harmoniesuchender Künstler, er gefällt sich als Wüstensand im Getriebe, er gefällt sich sehr. Es ist sicher nicht falsch, "Aheds Knee" als angewandte Filmpolitik seines Regisseurs zu betrachten. Man möchte über ihn fast das sagen, was Elsa Morante einmal an Pasolini schrieb: Du bist ein Mensch, der kein bisschen einverstanden ist mit der Welt, aber der sehr einverstanden ist mit sich selbst.

Es ist mühsam, wenn die Prämisse eines Films nur auf dem Verhältnis des Regisseurs zu seiner Kultur aufgebaut scheint. Was "Aheds Knie" dennoch mitreißend macht, ist die inhärente, ehrliche Widersprüchlichkeit, in der Y und Lapid nach freiem Ausdruck suchen. Y ist eine komplexe Figur zwischen Prinzipien, Haltung, Trauer, Schmerz und Sexualität. Er ist eben keineswegs einverstanden mit sich selbst. Hinzu kommt, wie meist bei Lapid, ein zurückliegendes Militärtrauma, das in Rückblenden aufheult und nie ganz abebbt in den Gesichtszügen des großartigen Avshalom Pollak, dessen Herkunft aus dem Tanz mehrfach genutzt wird, um tanzend all das zu sagen, wofür es keine Worte gibt.


Lapid dreht keine Ideen- oder Konzeptfilme, er übt sich in viszeralem Existenzialismus. Das zeigt sich auf sämtlichen Stufen der Tonleiter. Einmal tanzt der sich unter riesigen Kopfhörern abschottende Y in der Wüste, ein andermal rastet er von Ekel überfallen aus. Mal passt er sich an, dann wieder scheint er sich aus Sympathie für Yahalom fast aufzugeben mitsamt seiner Prinzipien. Lapid versteht den Künstler als Teil einer Gesellschaft, die ihm nicht Recht gibt. Er versteht den Künstler nicht. Er durchdringt ihn völlig. Alles und nichts zugleich. Die einfachen Wahrheiten werden in "Aheds Knie" nicht bedient, Lapid versteht, dass das Kino zeigen kann, dass die Dinge nicht so einfach sind, wie sie scheinen. Folgerichtig bekommt der gesamte Flickenteppich der israelischen Gesellschaft eine Stimme, die sich vor allem in einer Sequenz gegen Ende in unversöhnlichen Furor auflöst.

Die öffentlichen Tribunale, wie sie eine wutentbrannte Masse gegenüber Y abhält, nehmen zu im Kino, man denke nur an das Ende von Radu Judes Berlinale-Gewinner "Bad Luck Banging or Loony Porn". Es ist kein Zufall, dass Lapid in der Jury saß, die diesen Film auszeichnete. Was die beiden Filmemacher eint, ist der unbedingte Wille, die flüchtigen Bewegungen des Hier und Jetzt zu registrieren und zu kommentieren. Ihre Filme sind aus der Hüfte gedreht, schnell und rastlos. Ihre zweifelnde Verlorenheit ist ihre Stärke. Dass Lapids Film sich wiederholt an den Grenzen dessen, was als "politisch korrekt" durchgeht, bewegt, ist essentiell für die Aufrichtigkeit seines Unterfangens. Es ist gerade diese korrupte Korrektheit, die er anfechtet. Das beginnt schon bei den Szenen mit Y und Yahalom, die in ihrem Changieren zwischen plötzlicher Intimität und kühler Professionalität an Lapids hochbrisanten, ziemlich großartigen "Aus dem Tagebuch eines Hochzeitsfotografen" erinnern. Alles ist in Bewegung und brodelt und verharrt im Moment des Explodierens.

Dazu passt die stille, ewige Wüste so gar nicht, aber sie ist ein Sinnbild für die Ödnis der Kultur und im Falle Israels eine besonders aufgeladene Identitätsmarkierung. An den in der Unschärfe ersaufenden Horizonten lässt sich nur umso stärker erkennen, dass Freiheit eine Fata Morgana bleibt. Man muss trotzdem an den Gittern des Gefängnis rütteln, so fest man kann. Vielleicht hören manche sogar hierzulande das Echo dieses Zorns, denn selbst wenn Lapid über eine spezifisch israelische Doppelmoral berichtet, heißt das nicht, dass es hierzulande keine Formen der kulturellen Zensur gäbe.

Patrick Holzapfel

Aheds Knie - Israel 2021 - OT: Ha'berech - Regie: Nadav Lapid - Darsteller: Avshalom Pollak, Nur Fibak, Oded Azulay, Michal Benkovitz Sasu, Roni Boksbaum, Pnina Bradt Tzedaka, Lidor Edri - Laufzeit: 109 Minuten.