Im Kino

Messer und Heugabel

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Nikolaus Perneczky
19.05.2022. Ti West lässt in "X" eine Filmcrew auflaufen, die in den Siebzigern auf einer Farm in Texas einen Porno drehen möchte: Die jungen Leute erwecken in der alten Farmersfrau eine ungeheure Lust am kreativen Töten. Bette Davis und Joan Crawford winken aus der Ferne. Julian Radlmeiers Thesenkomödie "Blutsauger" personifiziert den Vampir in Marx' Kapital mit viel Slapstick.


Das Cambridge-Wörterbuch beschreibt den "X factor" als Eigenschaft, die einen Menschen "sehr besonders" mache, wobei das Besondere selbst nicht genau erläutert werden könne. Man hat es oder hat es nicht, das gewisse Etwas. Maxine Minx (Mia Goth), die Heldin von Ti Wests durchgeknalltem Genre-Mix "X", scheint es zu haben. Sie ist ein "verdammtes Sex-Symbol", das lediglich auf seinen großen Durchbruch wartet. Die zweite Bedeutungsebene des Filmtitels führt von der besonderen Qualität zur speziellen Quantität. Während der 1970er und 1980er Jahre markierte das "X-Rating" in den USA nicht-jugendfreie Filmprogramme mit zumeist pornografischen Inhalten. Dem aufkeimenden Geschäft der höchst einträglichen Hardcore-Produktionen diente das rechtlich ungeschützte Zertifikat dabei vor allem zur Selbstvermarktung: Im Aufmerksamkeitskampf zahlloser unabhängiger Filmproduktionen signalisierte es saftige Sensationen und Zügellosigkeiten - ein Kino nur für Erwachsene.

Auf den Zug der "X-Rated"-Streifen mit "X-Factor"-Stars möchte in "X" eine Gruppe junger Filmemacher aufspringen, die nach Texas reist, um an Originalschauplätzen selbst einen ambitionierten Hoppelwestern zu drehen. Es ist der Sommer 1979 und das Jahrzehnt des Porno Chic: Lange bevor unsimulierter Sex auf kargen Studio-Sets oder im eigenen Wohnzimmer mit Web- und Handycams aufgenommen wurde, reiften kostengünstig produzierte Hardcore-Filme wie "Deep Throat" zu beispiellos profitablen Leinwanderfolgen heran. Für den ewigen Kinonostalgiker Ti West, der ungestümen Zelluloidtagen bereits in Horrorfilmen wie "The Roost" oder "House of the Devil" stilecht nachspürte, empfiehlt sich der kulturhistorische Kontext als Startrampe für allerhand Sentimentalitäten. Lustvoll katapultiert er das Publikum in eine unwiederbringliche Zeit, deren wehmütiger Retro-Anstrich abermals Einfallstor sinistrer Schrecken ist.



So führt die am Beginn von "X" mit Sternenbannerfarben angemalte Zeiteinblendung in ein von amerikanischen Filmautoren geprägtes Kinojahrzehnt, unter dessen Genrebedingungen sich vergnügte Road-Trips zu grausamen Höllenfahrten wandeln konnten. Auf den Abzweigungen idyllischer Landstraßen begann für Horror-Virtuosen wie Tobe Hooper, der mit "The Texas Chainsaw Massacre" und besonders "Eaten Alive" zwei wesentliche Referenzvorbilder von Wests Film schuf, ein Reich der Americana-Albträume: Unvermittelt treffen ins sorgenfreie Leben eingetauchte Teenager auf hinterwäldlerische Familienbanden, verstrahlte Wüstenmenschen oder - wie jetzt in "X" - fleischeslustige Großeltern, die an der Peripherie des amerikanischen Kernlandes unbehelligter Drangsalierungswut frönen. Was für die Figuren von "X" entspannte Pornodreharbeiten auf dem texanischen Landsitz eines alten Ehepaars werden sollten, schlägt in bizarres Grauen um.

Pearl, die alte Dame des Anwesens (mit grandiosem Make-up ebenfalls gespielt von Mia Goth), greift zu Messer und Heugabel, nachdem sie in einem toll dissonant inszenierten Moment das muntere Treiben ihrer Mietgäste beobachtete. Von den Versprechen auf sexuelle Freiheit und körperliche Selbstbestimmung, die sich im gesellschaftlichen (und filmischen) Aufbruch abzeichnen, scheint Pearl sich ausgeschlossen zu fühlen: Im Anblick wunderbarer Hemmungslosigkeit entdeckt die betagte Frau den Schmerz des Vergänglichen und schließlich die Lust am Schmerz. Als Mordmotiv gehört Sex oder dessen Unmöglichkeit zwar zum Einmaleins von Horror- und Slasher-Filmen, die mit repressiven Killern und phallisch in Körper dringenden Tatwerkzeugen meist auf Höhepunkte anderer Art zusteuern. Das "kreative Töten" ist in "X" jedoch nicht nur sexuell aufgeladene Ersatzhandlung, sondern libidinöser Akt an sich. Aus der eingeübten Genreformel wird ein blutbesudeltes Begehren.

Motivgeschichtlich liebäugelt Ti West noch mit einer anderen Spielart des Horrorkinos, die selbst in den 1970er Jahren schon aus der Mode gekommen war. Um Altbackenes ging es in jenen "Hagsploitation" oder "Grande Dame Guignol" genannten Filmen indes ganz konkret, ihre Figuren scheiterten nämlich gerade am Zeitgenössischen: Das Verkaufsargument waren in die Jahre gekommene, ausrangierte Hollywood-Starlets, die in durchgeknallten B-Movie-Plots einen dritten Karrierefrühling erlebten. Natürlich ging es dabei um Sex und Gewalt, in "Strait-Jacket" beispielsweise enthauptet die betagte Oscar-Gewinnerin Joan Crawford ihren untreuen Mann und dessen jüngere Geliebte mit einem Hackebeil. Das bereits abdrehte Prequel zu "X" wird offenbaren, ob Pearl tatsächlich eine tattrige Reinkarnation solcher aus dem Rampenlicht gedrängter Grusel-Greisinnen ist. Es spricht manches dafür, dass sie dem Wahnsinn auf ähnliche Weise anheim fiel wie einst Bette Davis im Hagsploitation-Klassiker "Was geschah wirklich mit Baby Jane?".



Aus dem Spiel mit genrehistorischen Verbindungslinien und schwärmerischem Zeitkolorit gewinnt "X" eine überraschende Leichtigkeit. Eklektische Verkrampfung lag Ti West immer schon fern, er wildert und verfremdet, ohne zu prahlen. Seine Flucht in alte Filmbilder möchte entspannte Heimeligkeit herstellen, nicht zwanghaft Metatexte produzieren. An die Stelle von Bescheidwissen tritt ein versuchsweises Erleben, als könne man in der allgemeinen Kinorückbesinnlichkeit postmodernen Zuschnitts doch noch so etwas wie Unschuld erspüren. Dass West Wahrheiten in ausgesprochen Künstlichem findet, ist kein Widerspruch. Eine trostlose Rahmenhandlung (Polizisten, die den Tatort inspizieren) umkapselt hier das bunte Treiben jener Binnenerzählung, deren nachgebautes Retro-Texas im untexanisch aussehenden Neuseeland liegt, wo "X" pandemiebedingt gedreht wurde. Die scheinbar analogen 16mm-Bilder wiederum erweisen sich als Resultat überzeugend manipulierter Digitalfotografie.

Seine ästhetischen Freiräume nutzt der Film nicht zuletzt für taktische Unklarheiten. Er produziert atmosphärische Echos ausgewählter Horrorfilme und -traditionen, übergeht aber zugleich deren Gepflogenheiten. "X" ist unberechenbar und für einen Genre-Mechaniker wie Ti West auch überraschend chaotisch. Statt die eingangs angerissenen Motive zu vertiefen (allen voran die wie ein Gimmick wirkende Doppelbesetzung), geht er den Weg des Absonderlichen. "Bayou Burlesque" heißt der Strip-Club, von dem die Crew zum Pornodreh aufbricht, und dessen Name den Film angemessen beschreibt: Als Posse in den Sümpfen der Südstaaten, mit sexy Fönwellen, jeder Menge Koks und einem gefräßigen Alligator, der neben Pearl zusätzlich für Gekröse sorgt. Damit mag West vielleicht nicht die Dichte seines Meisterwerks "The Innkeepers" erreichen, aus den Richtungswechseln und unterschiedlichen Tonlagen von "X" ergibt sich jedoch ein Spaß ganz eigener Art. "Queer, straight, black, white - it's all disco!", verkündet eine der Figuren im Film. Egal, woran man ist: Hauptsache, es funkelt.

Rajko Burchardt

X - USA 2022 - Regie: Ti West - Darsteller: Mia Goth, Jenna Ortega, Brittany Snow, Kid Cudi, Martin Henderson, Owen Campbell - Laufzeit: 105 Minuten.

***



Schon letzte Woche kam Julian Radlmeiers "Blutsauger" in die Kinos. Im Mittelpunkt dieser, laut Untertitel, "marxistischen Vampirkomödie" steht Lilith Stangenberg als protestantische Fabrikantentochter mit dem sprechenden Namen Octavia Flambow-Jansen, die in einer namenlosen Kleinstadt irgendwo an der Nordseeküste ein finanziell zwar sorgenloses, romantisch aber unerfülltes Dasein fristet - lieber als die Aktienkurse im Wall Street Journal liest sie Proust und Rilke. Als ein russischer Filmschauspieler sich auf der Flucht vor Stalins Zensur auf Octavias Anwesen verirrt und als Graf Koberinsky ausgibt, durchschaut sie sein Täuschungsmanöver sofort, adoptiert den falschen Grafen aber trotzdem, als ideale Projektionsfläche für ihre rege Fantasie. Ljowuschka, gespielt vom georgischen Filmemacher Alexandre Koberidze, war schon auf halbem Weg vom Lumpenproletarier zum allsowjetischen Filmstar - Eisenstein selbst hatte ihn für seinen großen Revolutionsfilm in der Rolle des Leo Trotzki gecastet - als Stalins Säuberungen ihm einen Strich durch die Rechnung machten. Das Material blieb am Schnittpult liegen, allein der Spitzname, nunmehr politisch verhängnisvoll, blieb haften. Jetzt hofft Ljowuschka, dem das Filmemachen vor allem aufgrund der langen Drehpausen zusagt, auf eine Zweitkarriere in Hollywood. Als dritte Figur bringt der Film Octavias unbeholfenen Assistenten Jakob (Alexander Herbst) ins Spiel. Er kommentiert das Geschehen aus der Perspektive eines eifersüchtigen Untergebenen, der sich mit eher unrealistischen Aufstiegs- und Heiratsfantasien trägt. Was weder Ljowuschka noch Jakob wissen und lange nicht wahrhaben wollen: Das liebe Fräulein Octavia ist ein Vampir, der die arbeitende Bevölkerung des Landstrichs buchstäblich aussaugt.

In Marx' Kapital wimmelt es bekanntlich vor solchen schauerlichen Allegorien: von der gespenstigen Gegenständlichkeit der Warenform über die mechanischen Monster im Maschinenpark bis hin zu Marx' Charakterisierung des Kapitals als tote Arbeit, die sich "vampirmäßig" durch Einsaugung lebendiger Arbeit belebt. Die gestrenge Leiterin des Marx-kritischen Marx-Lesekreises, der sich zu Beginn des Films am Strand zur Diskussion von Band 1 versammelt, tut die diesbezügliche Frage eines lesenden Arbeiters jedoch als Kategorienfehler ab: Es ist das automatische Subjekt des Kapitals, schulmeistert sie ihn, das hinter dem vampirischen Treiben steckt, nicht die individuelle Kapitalistin, die, übrigens, ganz wie die Arbeiterin, lediglich dem stillen Zwang des Marktes Folge leistet. "Es ist nur ein Vergleich!" stöhnt ein anderer Arbeiter aus dem Lesekreis, der nicht zufällig Schnösel heißt.



"Blutsauger" beginnt mit diesem zweifellos wichtigen Caveat und warnt am Ende nochmal parabelhaft vor den Gefahren und Abgleitflächen eines auf derartigen Vorstellungen begründeten Politikverständnisses. Darüber hinaus aber ist das pädagogische Modell des Films ein anderes, lustigeres: Regisseur Julian Radlmeier nähert sich der Marxschen Vampirmetapher - zusammen mit anderen Schauerallegorien aus dem Inventar der klassischen politischen Ökonomie, wie Adam Smiths unsichtbarer Hand - in heiligem Unernst, das heißt, er folgt ihrer Logik, um sie erst auf- und dann vorzuführen. Komik entsteht unter anderem dort, wo das zugrundeliegende Prinzip der Personifizierung an seine Grenzen stößt, widersinnig wird oder ganz aus dem Ruder läuft, etwa wenn der Bürgermeister Dr. Humburg nach dem Erwerb seines ersten Aktienpakets prompt zum Vampir wird. Vom Ende her wird "Blutsauger" jedoch zugleich als eine qualifizierte Verteidigung von Marx' übersinnlicher Allegorik lesbar. Was sich da in notwendig ambivalenter, aber durchaus reflexiver Weise konkretisiert, sind eben gerade abstrakte Kräfte, die das bewusste Handeln einzelner Personen übersteigen. In diesem Sinn ist die Figur des Vampirs, der sich seines Blutdurstes nicht erwehren kann, vielleicht doch keine so unglückliche Wahl: quod est demonstrandum.

In der romantischen Tradition war der Vampir eine tragische Figur; "Blutsauger" dagegen beweist, dass er sich auch komisch deklinieren lässt. Humor entwickelt der Film auf vielen Ebenen, die nicht unbedingt ineinandergreifen. Da ist Lilith Stangenbergs outrierte Bühnenperformance (die mich, der ich schon lange nicht mehr im deutschen Theater war, entfernt an den satirischen Ton der alten Volksbühne erinnert hat) und daneben, sonderbar unverbunden, Alexandre Koberidzes brummiges Laiendarstellertum. Dazu dicht verfügter Wort- und Bildwitz, der wie ein Präzisionsuhrwerk abläuft und oft in den Detail nistet. (Auch in den vielen langen Einstellungen der Küstenlandschaft - Bilder, in denen andere Filme zu Atem kommen - tut sich stets mehr, als es zunächst den Anschein hat.) Daneben, dazwischen: Slapstick-Körperlichkeit als komische Variation auf das Thema der dunklen Mächte, die sich der bewussten Kontrolle entziehen. Eine Thesenkomödie also, die sich ihrer Thesenhaftigkeit nicht schämt, sondern sie konsequent ausbuchstabiert. Das ist immer interessant und manchmal sehr lustig.

Nikolaus Perneczky

Blutsauger - Deutschland 2021 - Regie: Julian Radlmaier - Darsteller: Aleksandre Koberidze, Lilith Stangenberg, Alexander Herbst, Kirill Adibekov, Juan Felipe Amaya González, Margarita Amineva, Michael Baute - Laufzeit: 125 Minuten.