Im Kino

Lächeln, Hallo, Tschüss, Danke

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg, Fabian Tietke
29.06.2022. Emmanuel Carrères Film "Ouistreham" basiert auf einem Buch der Journalistin Florence Aubenas, die sich für eine Putzkolonne beworben hatte, um von "ganz unten" zu berichten. Aber auch Sympathie, Einfühlung und Laiendarsteller können die Kluft zwischen Ouistreham und der Pariser Kunstwelt nicht überwinden. Thorsten Klein erzählt in "Abenteuer eines Mathematikers" konventionell, aber informativ aus dem Leben des  Mathematikers Stanislaw Ulam, der an der Entwicklung der Atombombe beteiligt war.


Florence Aubenas ist in Frankreich eine bekannte Journalistin. Sie arbeitete für Liberation, Le Monde und den Nouvel Observateur, 2005 wurde sie im Irak entführt und ein halbes Jahr als Geisel gehalten. 2010 ließ sie sich mit einer falschen Biografie in Caen arbeitslos melden, um über prekäre Lebensverhältnisse in Nordfrankreich zu recherchieren. Ihr Bericht "Le Quai de Ouistreham" wurde ein Bestseller. Aubenas reihte sich damit ein in die Tradition berühmter Recherchen aus der Arbeitswelt. In Deutschland denkt man sofort an Günter Wallraff und seine Undercover-Recherche "Ganz unten", die die Ausbeutung türkischer Arbeiter bei McDonalds und Co. aufdeckte. Dass Wallraff sich 1985 mit falschem Schnurrbart und dunklen Kontaktlinsen camoufliert als Türke ausgab, wurde ihm übel genommen. In Frankreich erinnert man sich an die französische Philosophin Simone Weil, die bereits 1934 von ihrer Arbeit in einer Fabrik berichtete, in der sie unter der stetig steigenden Taktzahl der Maschinen produzieren musste, vom ersten Moment an überfordert und entmutigt, um am Abend in körperlicher und seelischer Erschöpfung niederzusinken. Ethisch sind solche Selbsterfahrungen oft umstritten, aber wer sich stets an die Etikette hält, ändert selten den Lauf der Geschichte.

Jetzt hat der Schriftsteller Emmanuel Carrère Aubenas' Buch verfilmt. Carrere ist ein reflektierter Autor, er hat selbst eindringliche Reportagen über Frankreichs abgehängten Norden verfasst (ein Beispiel aus dem Guardian). Er setzte durch, dass sich die Putzfrauen aus Ouistreham selbst spielen. Treibende Kraft hinter diesem Film, der auf Deutsch den etwas einfallslosen Titel "Wie im richtigen Leben" trägt, war jedoch die Schauspielerin Juliette Binoche. Ihr Engagement ist vom ersten Moment zu spüren, es macht sie sympathisch. Aber wie könnte ein Film gelingen, in dem ein Schauspielstar wie Binoche auf Laiendarstellerinnen trifft? Wie müsste ein Film aussehen, in dem sich diese Frauen wiederfinden, wenn sie von ihrem Leben erzählen?



Zu Beginn bewahrt der Film die Camouflage und zeigt uns Binoche als abgekämpfte Marianne Winckler, die im Arbeitsamt von Caen um einen Job bettelt, ohne dem Publikum ihre Identität als Schriftstellerin zu enthüllen. Erst später wird eine Mitarbeiterin des Arbeitsamts ihre Maskerade durchschauen: "Stört es sie nicht, anderen Menschen den Job wegzunehmen?", fragt die Arbeitsvermittlerin die Schriftstellerin, doch sie hält dicht.

Bevor Marianne und ihre Kolleginnen anfangen dürfen zu arbeiten, müssen sie sich schulen lassen. Dabei lernen sie zwar auch, richtig und ordentlich zu putzen, vor allem aber erhalten sie Lektionen in Unterwürfigkeit: Sie müssen lernen, höflich zu grüßen und auch dann zu lächeln, wenn sie nicht zurückgegrüßt werden. Lächeln, Hallo, Tschüss, Danke. Auf Französisch wird daraus SBAM - Sourire, Bonjour, Au Revoir, Merci. Es klingt wie eine Ohrfeige.

Marianne darf also arbeiten, und zusammen mit der liebenswürdigen Marilou säubert sie Wohnmobile auf Campingplätze und Büros, sie werden Video-überwacht, von rohen Chefs beschimpft und von gehässigen Arbeitgeberinnen vorgeführt. Allein oder zu zweit sind sie deren Launen wehrlos ausgeliefert. Besser wird es, als Marianne die charakterfeste Christèle kennenlernt, eine Mutter von drei Kindern, die ihr Geld niemals für eine Tätowierung verplempern würde. Christèle bringt Marianne in ihrer Kolonne unter, die an den Quais von Ouistreham die Passagierfähren ins britische Portsmouth reinigt. Die Arbeit ist hart und sie muss schnell gehen, warnt die Chefin: Im Akkord müssen sie Müll abräumen, die Betten neu beziehen, Toiletten schrubben. Eineinhalb Stunden ankert die Fähre im Hafen, in der Zeit müssen 230 Kabinen gesäubert werden, für eine haben die Trupps vier Minuten Zeit. Mit Pausen zieht sich die Arbeit von sechs Uhr morgens bis 23 Uhr. Wer kein eigenes Auto hat, muss zu Fuß laufen, zu diesen Uhrzeiten fahren keine Busse. Aber die Arbeiterinnen gehen zusammen zum Bowling, sie feiern Geburtstage und träumen von besseren Jobs, vielleicht als Verkäuferin bei Brioche dorée. Solidarität hilft gegen die Demütigung.


Es gibt berührende Momente in diesem Film. Wenn etwa Marilou vorführt, was die amerikanische Art des Fensterputzens von der französischen unterscheidet, entfaltet diese schüchterne Frau eine faszinierende Würde, die dem Wissen entspringt, dass sie ihr Metier beherrscht.

Carrère und Binoche erzählen einfühlsam, stets bemüht, mit den Laiendarstellerinnen gleichberechtigt zu agieren und das eigene Tun kritisch zu reflektieren. Mehr als das Buch macht der Film Mariannes Agieren, ihren Verrat an den Freundinnen zum Thema. Carrére versucht eine Gratwanderung aus Wohlwollen gegenüber den Beteiligten und Argwohn gegenüber seinem eigenen Tun. Das macht den Film klug, aber es löst nicht seine Probleme: Die Kluft zwischen Ouistreham und der Pariser Kunstwelt kann er nicht überwinden.

Im Interview mit der Welt am Sonntag sagte Carrère: "Eines der Privilegien von Schriftstellern ist ja, dass man sich in einer schwierigen oder erniedrigenden Situation befinden und dann sagen kann: nicht schlimm! Ich schreib' darüber! Ich bin mir aber nicht sicher, ob es sich um Ästhetisierung handelt. Es ist wohl eher eine Rückeroberung oder Aneignung. Man gibt dem Scheitern eine Form, damit es Teil der Lebenserfahrung wird."

Eine derart intellektuell abgestützte Geschmeidigkeit beherrschen Marilou und Christèle nicht: Eine traurige Szene zeigt, kurz bevor Marianne auffliegt, wie sich die drei auf der Fähre in eine unglückliche Situation manövriert haben. Marilou und Christèle haben keine Ahnung, wie sie den Schaden begrenzen können. Schwankend zwischen Revolte und Panik um die eigene Existenz, genehmigen sie sich in fatalem Übermut in einer Kabine der ersten Klasse eine Flasche Champagner. Wenn schon Ärger, dann richtig, sagen sie sich und feiern ihren drohenden Untergang.

Thekla Dannenberg

Ouistreham - Wie im richtigen Leben - Frankreich 2021 - Regie: Emmanuel Carrère - Darsteller: Hélène Lambert, Louise Pociecka, Steve Papagiannis, Aude Ruyter, Juliette Binoche - Laufzeit: 106 Minuten.

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"Das Flugzeug landete in Albuquerque. Ich nahm meine Taschen, ging etwa hundert Meter über den Parkplatz und stieg in das kleine Flugzeug, das mehrere Male am Tag zwischen Albuquerque und der Landebahn in 2200 Meter Höhe in den Tafelbergen von Los Alamos hin und her pendelte." Im Prolog seiner Memoiren "Abenteuer eines Mathematikers" erinnert sich der Mathematiker Stanislaw Ulam wie er das erste Mal an jenen Ort kam, der bis heute untrennbar mit der Entwicklung der Atombombe in den USA verbunden ist. Regisseur Thorsten Klein hat Ulams Memoiren von 1976 als Ausgangspunkt für ein Biopic Ulams genommen, das den Titel der Memoiren übernimmt.

Im Juni 1941 lehrt Ulam Mathematik in Harvard. Die Wohnung auf dem Campus teilt er sich mit seinem 13 Jahre jüngeren Bruder Adam. Der Kontakt zur Familie in Lwów ist zunehmend schwierig, die Telefonverbindungen gleichen einem Glücksspiel. Als Ulam vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion erfährt, verstärkt er seine Anstrengungen, die Familie in Sicherheit zu bringen. Wie sein Bruder fühlt Ulam sich hilflos gegenüber dem Krieg und der Bedrohung, der seine Familie ausgesetzt ist. John von Neumann, der zentral darin beteiligt war, Ulam aus Polen in die USA zu holen, erzählt ihm in vagen Worten von der Möglichkeit, sich als Mathematiker in einem großen Projekt weit im Südwesten der USA nützlich zu machen. Ulam lässt seinen Bruder in Harvard zurück und zieht frisch verheiratet nach Los Alamos. Im Team von Edward Teller arbeitet er an der Konstruktion der Wasserstoffbombe. Wie nicht wenige Wissenschaftler setzt Ulam auf die Hoffnung, dass die Atombombe zwar gebaut, aber nie zum Einsatz kommen werde.



Klein, der auch das Drehbuch zum Film schrieb, rafft geschickt die erzählte Zeit. Der Film springt innerhalb der chronologischen Erzählung wiederholt vorwärts und fasst die relevanten Ereignisse der Zwischenzeit in Berichten oder Gesprächen zusammen. Diese Konzentration auf die Dialoge ist gleichzeitig die größte Schwäche von "Abenteuer eines Mathematikers". Der Film vertraut an keiner Stelle darauf, dass seine Bilder etwas erzählen, was die Dialoge nicht gleichzeitig verbalisieren würden. Während Klein im Drehbuch die langen Zeiträume zwischen Ulams Zeit in Harvard Anfang der 1940er bis in die Nachkriegszeit geschickt verdichtet, bekommt er als Regisseur den Stoff nie in den Griff und treibt in die Konventionalität.

Getragen wird der Film von den "Abenteuern", die Ulams Leben füllten - vor allem in der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis in die frühe Nachkriegszeit - und den Menschen, deren Wege sich mit Ulam kreuzen. Ulams Memoiren sind eine einzige große Abschweifung. Kaum eine Seite vergeht, ohne dass eine scheinbar unverbundene Anekdote oder ein Witz eingeflochten wird. Klein verwandelt all das in eine stringente, lineare Erzählung und schafft es dabei doch, Ulam in seinen verschiedenen Facetten sichtbar werden zu lassen. Ulams Begeisterung für Spiele als Anwendungsform von Wahrscheinlichkeiten und als Abstraktionsform wird ebenso erkennbar wie sein Humor, den er vor allem mit John von Neumann teilt.

Klein hat Glück gehabt mit "Abenteuer eines Mathematikers": obwohl der Film schon im Januar 2020 auf dem Palm Springs Film Festival Premiere feierte, verzögerte sich der Kinostart bis heute. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der Auswanderung von Wissenschaftler_innen aus der Ukraine und Russland, erhalten jene Passagen mehr Bedeutung, in denen es um Ulams Leben im Exil geht. "Abenteuer eines Mathematikers" plätschert freundlich durch Stanislaw Ulams Leben und erfreut mit Bildern aus New Mexiko und einigen Gedanken zu Wissenschaft im Exil in Kriegszeiten. Solides Sommerkino.

Fabian Tietke

Abenteuer eines Mathematikers - Deutschland, Polen 2020 - Regie: Thorsten Klein - Darsteller: Philippe Tlokinski, Esther Garrel, Sam Keeley, Joel Basman, Fabian Kociecki - Laufzeit: 102 Minuten.