Im Kino

Zur Lüge verklärte Wahrheit

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Karsten Munt
14.07.2022. Was die chinesische Behörde zensiert hat, bleibt ein Geheimnis. Dennoch: In Zhang Yimous "Eine Sekunde", der ein ungleiches Paar durch die Wüste schickt, sind die Schatten der Kulturrevolution unverkennbar. Kurtis David Harders Diskurshorrorfilm "Spiral" über ein schwules Paar im zahnpastaweißen Horrorville scheitert an der Überaffirmation identitätspolitischer Ansichten. Immerhin: Ein kleiner Zombie-James-Dean tritt auf.

Der "Film-Onkel" bastelt eine Schleife. Der in der Kleinstadtgemeinde verehrte und bewunderte Vorführer schneidet den Film, raut seine Oberfläche auf, klebt ihn neu zusammen, legt ihn, den Projektionsraum zum Spinnennetz machend, um diverse Spulen und startet schließlich die Maschine, die aussieht wie ein alter Ofen. Die Bild- und Tonspur , die durch den Projektor rattert, ist vom Wüstensand fast zur Unkenntlichkeit zerkratzt worden und doch wendet der einzige Zuschauer, Zhang Jiusheng (Yi Zhang), seinen Blick nicht vom großen Laken ab. Bis tief in die Nacht sieht er wieder und wieder eine Szene aus der Wochenschau, die ein junges Mädchen zeigt, wie es lächelnd einen Sack Reis schultert. Etwa eine Sekunde ist das Mädchen, seine Tochter, zu sehen. Eine mit handwerklicher, fast künstlerischer Finesse durch Spulen und Projekt gespannte Sekunde, die sich mit mit jedem Lauf der Endlosschleife verlängert; die Sekunde, um die Zhang Yimous Film konstruiert ist.

Der Weg bis zur Projektion der Wochenschau 22 und des ihr vorangehenden Hauptfilms ist weit. Zu Fuß folgt der kürzlich aus einem Straflager geflohene Zhang Jiusheng dem Filmkurier durch die Wüste. Bis zu der Einheit, die diese Woche die Wochenschau und die darin enthaltene Sekunde seiner Tochter zeigen wird. Der Sand hat die Primärfarben längst aus Land und Leuten gewaschen und doch sind die Bilder, mit denen Zhang die desolaten Landschaft abtastet, eine Augenweide. Der Versuch des Geflohenen, seine Tochter zu sehen, ist, dieser Schönheit entsprechend, eher von optimistischem Vorwärtsdrang, denn existentialistischer Verzweiflung getrieben. Alles verkompliziert sich, als die junge Liu (Haocun Liu) die Filmrolle der 22. Wochenschau entwendet. Wie ein Stummfilmpärchen beharken und überlisten sich die beiden, bis sie schließlich, um der lebensfeindlichen Umgebung zu entkommen, auf den gleichen Laster aufspringen.

Um die Gunst des Fahrers zu gewinnen, der mitten in der Wüste derjenige ist, den es zu überzeugen gilt, tischen beide Lügengeschichten auf. Er behauptet, sie sei seine Tochter, habe ihn bestohlen und sei weggelaufen. Sie schlägt zurück: er sei ihr Vater, der sie, ihre kranke Mutter und ihren kleinen Bruder hungern lasse, um die gemeinsame Ernte seiner Geliebten zu schenken. Zwei Lügen, hinter denen sich zwei, auf tragische Weise passgenaue Schicksale verbergen. Zhang Jiusheng hat nach seinem Straflager-Aufenthalt alles soziale Ansehen und damit auch seine Tochter verloren, Liu mit der Untreue des Vaters und dem Tod der Mutter ihre Eltern. Die zur Lüge verklärte Wahrheit verschiebt nicht nur die Loyalität des Fahrers, der, nachdem er ihr eben noch die Ohren langziehen wollte, nun Liu gegen den falschen Vater beisteht. Sie gibt auch der bis dato auf eigenwillige Komik gebauten Geschichte ihren melodramatischen Kern. Dass der Fahrer wiederum das Schicksal der jungen Waisin teilt, ist eine der vielen historischen Fußnote, die Zhang seiner Geschichte anhängt.


Wie viele dieser Fußnoten aus der jetzigen Fassung von "Eine Sekunde" entfernt wurden, wird wohl ungeklärt bleiben. Die Premiere des Films, die eigentlich für die Berlinale 2019 gedacht war, aber aus "technischen Gründen" von den chinesischen Behörden zurückgezogen wurde, fand knapp eineinhalb Jahr später (nach diversen Versuchen, den Film noch für andere Festivals zurechtzuschneiden) in China selbst statt. Das westliche Publikum bekam den Film ein weiteres Jahr später auf dem Toronto International Filmfestival zu sehen, erneut von Gerüchten und Spekulation rund um die von der Zensurbehörde beantragten Änderungen begleitet.

In politischer Hinsicht ist Zhang Yimous gesamtes Schaffen ebenso schwer zu fassen wie das Drachensiegel der Zensurbehörden. "One Second" ist, in seiner jetzigen Fassung, keine Ausnahme. Die Schatten der Kulturrevolution sind gut erkennbar: brutale Armut, dümmliche niedere Staatsdiener, verschiedene Generationen, die buchstäblich aufeinander losgehen. Und doch ist der Film so wenig daran interessiert eine politische Perspektive zu entwickeln, dass ich mir keine ernsthaft subversive Fassung des Films vorstellen kann.

Zhang hat nicht die Kulturrevolution im Blick, sondern sein in Dosen durch die Wüste geschlepptes Filmerbe. "One Second" ist dabei keine Hommage an das Kino, sondern an das Filmmaterial selbst. Liebevoll wird die durch die Wüste getragene Rolle in kollektiver Arbeit gereinigt, aufgehängt und schließlich, im hemmungslos überfüllten Rathaus auf die Leinwand projiziert. Menschen drängen sich vor und hinter der Leinwand, quetschen sich auf dem Fenstersims zusammen, um "Heroische Söhne und Töchter" zu sehen. Der Film bekommt, gerade hier inmitten der Kargheit, Knappheit und Tristesse von Wüste und Kulturrevolution seine besondere Bedeutung wieder. Er ist ein Unikat, um das man sich schart wie um die Mona Lisa. Die dazugehörigen historischen Momente, machen nicht ihrer politischen, sondern materiellen Umstände wegen nostalgisch. Die Projektion eines heute so kaum noch wahrgenommenen Originals hält Zhang entsprechend nicht auf der Leinwand, sondern im Vorführraum fest, wo ein Film-Onkel die Sehnsucht zur - und das ist vielleicht der einzige Widerhaken des Film - digital gedrehten Endlosschleife bastelt.

Karsten Munt

Eine Sekunde - China 2020 - OT: Yi miao zhong - Regie: Zhang Yimou - Darsteller: Zhang Yi, Liu Haocun, Fan Wei, Li Yan, Li Xiaochuan - Laufzeit: 104 Minuten.

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Umzüge verheißen nichts Gutes, das weiß man als Horrorfilmfan schon lange und das Kind der umziehenden Familie - in diesem Fall das Teeniemädchen Kayla (June Laporte) - auf dem Rücksitz weiß es natürlich auch, weshalb es während der Fahrt zum neuen Wohnort am laufenden Band mosert. Die Eltern am Steuer beziehungsweise daneben - in diesem Fall ein schwules Paar, bestehend aus Malik (Jeffrey Bowyer-Chapman) und Aaron (Ari Cohen) - wissen es selbstverständlich nicht, die freuen sich darüber, endlich dem Großstadtleben entkommen zu sein. Aber aufs Land zu ziehen ist ganz besonders schlimm, das weiß Layla und wir wissen es schon lange, da mögen die schneebedeckten Berge im Hintergrund noch so fotogen locken.

Aufs Land also geht es, beziehungsweise nach Horrorville, USA. Nicht in die geläufigere Südstaatenvariante allerdings, sondern in den kalten, dünn besiedelten, agrarischen Mittleren Westen, anstatt Hillbillies mit Crystal-Meth-verschuldeten Zahnlücken wohnen hier vorderhand schnieke, zahnpastaweiß lächelnde, WASPige Bilderbuchamerikaner:innen; nur einer schaut etwas windschief aus und wankt unheilverkündend auf die Neuankömmlinge zu. Gerade der will freilich nur Gutes und bevor er das Zeitliche segnet, drückt er Malik einen Zettel in die Hand, auf dem allerdings nichts draufsteht. Oder etwa doch?

Die recht patschig und willkürlich anmutenden Versuche des Neuankömmlings, den leeren Zettel irgendwie lesbar zu machen könnte man in Verbindung setzen mit den ebenfalls eher verzweifelten Bemühungen des Regisseurs Kurtis David Harder, seiner Todgeburt von einem Diskurshorrorfilm irgendeine Form von Leben einzuhauchen. So soll sich beispielsweise wohl eine Art David-Lynch-Vibe einstellen, wenn die Kamera während Erkundungsfahrten durch den Handlungsort in Zeitlupe an frontal ins Objektiv starrenden alten weißen Männern und Amerikaflaggen vor nebulös dräuenden Häuserfassaden vorbeigleitet. Oder es taucht die Spirale des Titels mal "direkt", aufgepinselt auf ein Garagendach auf und mal filmisch vermittelt, als spiralförmiger, oder jedenfalls irgendwie kreiselnder Kamerakreisel. Darauf, billige Nostalgie-Patina abzugreifen versteht sich Harder ebenfalls: Der Film spielt in den Neunzigern, also muss vom klobigen 15-Zoll-Bildschirm bis zum Discman auch wirklich jedes ikonische Technikartefakt der damaligen Zeit ins Bild gerückt oder eher gewuchtet werden.


Das von vornherein kaum warm zu nennende Lächeln der neuen Nachbarin jedenfalls, die mit einem pflanzenen Wilkommensgruß vorbei schaut, gefriert gleich noch einmal gründlich durch, wenn sie feststellt, dass der schwarze Malik nicht nur kein Gärtner ist, sondern auch noch seine Sexualität unverstellt performt. Aron, selbst weiß, ist lieber nicht so offensiv, ihm gefällt es ganz gut im ruhigen, saturierten Landhaus, und um des lieben Beziehungsfriedens willen (oder vielleicht doch eher, weil das besser in die Drehbuchdramaturgie passt? Allzu viel Sinn ergibt es jedenfalls nicht) erzählt Malik ihm vorläufig lieber nichts vom mysteriösen leeren Zettel und auch nichts von den sonderbaren Ritualen, die er nach dem Tod des Windschiefen im Nachbarhaus beobachtet. Wenn dann Blut aus dem Dachboden auf Kaylas Gesicht tropft, wird die Sache langsam ernst, aber immer noch ist Malik der Einzige, der es checkt.

Und warum checkt Malik es? Weil er schwul ist und dann auch noch schwarz, würden Zyniker sagen und leider hätten sie damit recht, denn genau so funktioniert "social commentary" im Genrekino der Gegenwart: als eine den eindimensionalen Repräsentationsmodellen der Identitätspolitik angepasste Überaffirmation von Ansichten über die Welt, die das Zielpublikum eh von Anfang an hat; und die in ihrer filmischen Realisierung meist Hand in Hand gehen mit gestalterischer Nivellierung und weitgehender Humorlosigkeit. In diesem Fall drückt sich das etwa darin aus, dass die "Enttarnung" der freundlichen "All American"-Fassade sich aus gleich zwei Traumaquellen speist: einer individuellen, begründet in einer homophoben Attacke, deren Opfer Malik in seiner Teeniezeit geworden war; sowie einer kollektiven, die - vermittels des auf fast schon amüsant bescheuerte Art allegorischen leeren Zettels - in der an queerfeindlichen Attacken reichen Stadtgeschichte des neuen Wohnorts der Neuankömmlinge verortet wird.

Und siehe da: nichts hat sich geändert, wer anders ist, hat's immer noch schwer in Horrorville. Dass sowohl die mythologische Struktur des Horrorkinos als auch die insbesondere auf Social Media dominierenden idpol-Empörungsdiskurse letztlich auf die Persistenz eines allen historischen Dynamiken enthobenen Urbösen rekurrieren, ist erst einmal interessant; das "seht ihr, es hat sich überhaupt nichts geändert" einschlägiger Twitter-Threads spiegelt sich im "manchmal kommen sie wieder" des Horrorfilms und vermutlich ist diese Parallele auch mitverantwortlich für die Renaissance von aus dieser Perspektive höchstens oberflächlich politischen Semantiken im Genre. Eine B-Produktion wie "Spiral" zeigt freilich, wie leicht die von Filmen wie "Get Out" durchaus effektiv aufgefaltete Formel in unfreiwillige Selbstparodie kippt. Etwa, wenn Malik im Zuge einer VHS-Rechereche rein zufällig auf den Grund alles Übels gestoßen wird: ein reaktionärer Fernsehprediger doziert auf einem 90er-Minifernsehbildschirm über den Wert der "nuclear family". Damit es auch wirklich jeder mitbekommt, spult Malik das Band tatsächlich gleich noch einmal zurück. Hier, hört her: "nuclear family".

Das ist schon ziemlich blöd - einerseits. Andererseits ist "Spiral" ein Film, über den zu ärgern sich kaum lohnt. Schlechte Horrorfilme hat es immer gegeben und zwar nicht zu knapp, das ist auch gut so, in gewisser Weise sind sie, und nicht die Meisterwerke der Form, das lifeblood des Genres. Die Ambition, anderen Leuten Angst einzujagen, also etwas in ihnen auszulösen, wird erst dann wirklich als Form sichtbar, wenn sie sich nicht einlöst. Auch "Spiral" ist ein schönes Kompendium der Effektbemühungen ohne Effekt: Ein dräuender, autonomer Kameraschwenk durch ein vermeintlich leeres Zimmer, nachdem die handelnden Figuren den Raum verlassen haben (nur dass am Ende des Schwenks doch nichts zu sehen ist außer einem Foto, das wir schon kennen). Eine unheimliche Figur, die im Bildhintergrund starr der Kamera zugewandt dasteht und plötzlich direkt aufs Objektiv loszurennen beginnt (nur dass die beiden Hauptfiguren im Vordergrund sich höchstens ganz leicht fürchten, rasch ins Auto steigen und schnöde davon fahren). Atonales Gekröse auf der Tonspur, das sich verdichtet, immer lauter und schriller wird, bevor es plötzlich abbricht (nur, dass in der Stille nichts nachhalt außer der Abwesenheit einer originellen Formidee). Unbedingt Erwähnung finden sollte außerdem ein Nebendarsteller: Ty Woods spielt das love interest der Tochter Kayla, und auch wenn der entsprechende Handlungsstrang insgesamt ziemlich verschenkt ist, wird das Gesicht des Jungen im Gedächtnis bleiben, in seiner Mischung aus - zigarettenrauchumflorten! - Halbstarken-Coolness und tief sitzender Verzweiflung, wie als stünde er schon mit einem Bein im Grab. Ein kleiner Zombie-James-Dean fast, dem man hoffentlich noch öfters begegnen wird im Horrorkino.

Lukas Foerster

Spiral - Kanada 2019 - Regie: Kurtis David Hardner - Darsteller: Jeffrey Bowyer-Chapman, Ari Cohen, June Laporte, Ty Wood - Laufzeit: 87 Minuten.