Im Kino

Mädchen und Bestie

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Jochen Werner
27.07.2022. C. B. Yi folgt den "Moneyboys" in China, die zwischen Prostitution und patriarchaler Tradition gefangen sind. Um das Thema überhaupt anpacken zu können, musste Yi dann auch in Taiwan drehen. In den Achtzigern wäre Hanna Bergholms abgründiger kleiner Horrorfilm "Hatching" als Geheimtipp erfolgreich gewesen. Unbedingt in der Mitternachtsvorstellung angucken!


"Moneyboys" beginnt mit dem Blick auf einen Wasserlauf, dessen Oberfläche sich durch eine Brise kräuselt. Eine kurze Kamerafahrt, das Wasser beruhigt sich, wird gänzlich still bis auf einen kleinen Fleck in der Bildmitte, der das milchige Licht vom Himmel reflektiert; so dass man kaum noch weiß, ob das wirklich ein natürlicher Wasserlauf ist oder eine doppelte Belichtung, die Aufnahmen klarsten Wassers über Bilder eines trockenen Flussbettes legt. Etwa zur Hälfte des Films, direkt im Anschluss an eine Szene mit einer groben Eskalation, gibt es eine längere Schwarzblende und wir kehren zu diesem Fleckchen zurück. Diesmal ist der Kontrast zwischen Wasser und Trockenheit klar zu erkennen. Die beiden Sequenzen sind kurz, sie geben nicht unbedingt eine interpretatorische Linie vor. Aber als Rahmen bleiben sie nicht nur visuell im Gedächtnis, sie führen das Publikum auch näher an den Protagonisten heran.

"Moneyboys" heißen in China Männer, die sich prostituieren. Sie sind gesellschaftlich geächtet, werden polizeilich verfolgt, häufig von ihren Nachbarn denunziert. Das Debüt von C.B. Yi, vormals Student der Wiener Filmakademie bei Michael Haneke und Christian Berger, war zuerst als Dokumentarfilm geplant und besonders der ersten Hälfte ist diese Herangehensweise anzumerken. Der Film folgt Fei (Kai Ko) durch seinen exemplarischen Alltag als Moneyboy: Sein Kollege wird von einem zwielichtigen Kunden zusammengeschlagen, ihn selbst nimmt ein Undercover-Cop hoch, zwei Freunde gehen eine Scheinehe ein, um die Familien zufriedenzustellen. Feis eigene Familie daheim auf dem Dorf nimmt das Geld an, das er regelmäßig schickt, seine Homosexualität akzeptieren sie allerdings nicht.

Eine Szene zeigt dieses Dilemma eindrücklich: Fei besucht ausnahmsweise seine Familie, sitzt mit seinem Vater und den Onkeln beim Abendessen. Feis erwachsene Schwester umschwirrt servierend die Männer und verschwindet dann aus dem Bild; erst als die Kamera sich wie in Zeitlupe im Halbkreis um den Tisch herum bewegt, sieht man, dass sie inzwischen still bei den Kindern sitzt. Der Vater sagt nichts, er scheint sich seiner Zwickmühle bewusst, doch ein Onkel setzt Fei unter Druck. Die anfänglichen Sticheleien arten bis in Handgreiflichkeiten aus, die Kamera verharrt wie angewurzelt auf ihrem Platz, beobachtet den Streit, der sich auch ins Nebenzimmer verlagert, aus der Ferne wie ein vor Schreck erstarrtes Kleinkind. In nur wenigen Minuten zeigt C.B. Yi mit extrem reduzierten Mitteln die Gesamtheit des Konflikts, wie ihn Hou Hsiao-Hsien nicht besser hätte auffalten können: die Scham, die Sprachlosigkeit, die Naturgesetzen gleich für selbstverständlich genommenen patriarchalen Strukturen, die Tradition, das für Fei auf dem Spiel stehende Zuhause.




Nach dieser Szene folgt die Schwarzblende, die zweite Wassersequenz, und es scheint, als hätten wir die Problemfilmpassagen der ersten Hälfte als Kontext gebraucht, um die zweite Hälfte des Films besser zu verstehen. Ab diesem Punkt löst sich "Moneyboys" vom Exemplarischen, wagt sich näher an Fei heran. Zurück in der Großstadt wird er von einem Jungen aus seinem Dorf aufgesucht, der fortan bei ihm bleibt. Eine Beziehung entwickelt sich, von der lange Zeit nicht klar ist, ob es sich um eine Freundschaft, eine aufblühende Liebe, eine Zweckgemeinschaft oder sogar Konkurrenzverhalten handelt. In der Situation, in der die Männer sich befinden, wahrscheinlich: alles davon.

Die namenlose Großstadt zeigt C.B. Yi als ein Labyrinth aus Gitterstäben und Betonstrukturen, verschachtelten Treppenhäusern und gesichtslosen Überführungen. Gedreht werden musste im Übrigen, weil die Thematik in China zu vielen praktischen Problemen geführt hätte, in Taiwan. Das Peking gewidmete Liebeslied, das Fei und sein Kollege beim Karaoke singen und das später noch einen zweiten Schlüsselmoment markiert, wird so in mehrfacher Hinsicht zu einem Ausdruck von Sehnen.

Nicht nur die äußeren Lebensumstände der Moneyboys sind prekär. Fei ist kein gesprächiger Typ, in vielen Szenen des Films sitzt er nur da und lässt mit stoischem Blick die anderen über sich reden. Dass selbst in seinem Freundeskreis, einem vergleichsweise progressiven Umfeld, die größte Gemeinsamkeit eine Sprachlosigkeit in emotionalen Dingen zu sein scheint, ist bemerkenswert. C.B. Yi findet dennoch Momente großer Wärme in ihren Zusammenkünften. Zum Beispiel in Feis Begegnungen mit seiner Schwester, der scheinverheirateten Freundin und der Ehefrau eines ehemaligen Kollegen: Alle drei werden von der gleichen Schauspielerin verkörpert, Chloe Maayan; ein Umstand, der aufgrund des zeitlichen Abstandes zwischen den Auftritten der Figuren nur gemächlich ins Bewusstsein rieselt. Seine Freunde sind auch bei Fei, als er im Tempel Papiergeld für seinen Großvater verbrennt, weil es ihm untersagt ist, zu dessen Beerdigung zu kommen. Die Kamera verfolgt, wie diese jungen, überirdisch schönen Menschen langsam durch die leeren Tempelhallen laufen, zu sphärischer Musik wie lebende Geister, von der Stadt durchgekaut und ausgespuckt, im Stillen übereinander.

Katrin Doerksen

Moneyboys - Österreich, Taiwan 2021 - Regie: C.B. Yi - Darsteller: Ko Lai, Chloe Maayan, Bai Yufan, J.C. Lin, Sun Qiheng - Laufzeit: 120 Minuten.

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Am Anfang sieht alles aus wie im Werbeprospekt eines teuren Möbelhauses oder in einer jener Mode- und Lifestylezeitschriften, die unironisch Worte wie "hygge" verwenden. Familienidylle, Haus mit Garten, in dem die Tochter Turnübungen absolviert, eine vielleicht etwas zu knallige Blümchentapete, und alle lächeln sehr, sehr viel. Einen wirklich authentischen Moment hätten sie da gehabt, sagt die Mutter anschließend zur Tochter Tinja, später, vor dem Laptop, als sie das soeben Mitgefilmte für ihren Videoblog schneidet, in dem sie das "Lovely Everyday Life" zu dokumentieren vorgibt. Dass ihr strahlendes Lächeln schon bei kleinsten Rissen in der Fassade ihres fürs Netz zusammenkuratierten Lebens zur eisigen Grimasse gefrieren kann, das lässt sich bereits in diesen ersten Bildern erahnen.

Keine Widerworte zu geben ist Tinja längst in Fleisch und Blut übergegangen, ob sie nun mit blutenden Händen zur zigsten Wiederholung der Übung am Reck gezwungen wird oder ihre Mutter beim Knutschen mit dem - wie sich später im Gespräch mit dem Vater herausstellt gar nicht so heimlichen - Liebhaber erwischt und dann kurzerhand übers Wochenende mit zu Mamas Zweitfamilie geschleppt wird. Kein Wunder, dass die harte Schale, die zuerst brüchig, dann - mit unkontrollierbaren Konsequenzen - durchbrochen wird, im Debüt der finnischen Regisseurin Hanna Bergholm als zentrale Metapher dient.

Denn alles dreht sich um ein Ei, das Tinja im Wald neben einem hartnäckig gegen das Verenden ankreischenden verletzten Vogel findet, den sie mit einem Stein recht blutig von seinem Leid erlöst. Bereits dieser Vogel ist ein Wiedergänger, und wenn Tinja ihn zunächst widerwillig, dann aber umso exzessiver zu rotem Matsch zerschlägt, spiegelt sich darin das Verhalten ihrer Mutter. Die hatte nämlich anfangs einem versehentlich ins familiäre Wohnzimmer verirrten und von Tinja vorsichtig eingefangenen Vogel kaltlächelnd den Hals umgedreht, um ihn dann von der schockierten Tochter entsorgen zu lassen. Aber bitteschön in der Biotonne.



Das verwaiste Ei trägt die schüchtern-verhuschte Tinja folgerichtig in aller Heimlichkeit heim, wo es, unter dem Federbett vor den mütterlichen Blicken verborgen, zu beachtlicher Größe heranwächst - bis die Schale irgendwann birst und einen ziemlich blutdürstigen Riesenvogel gebiert, der fortan in mörderische Taten umsetzt, was Tinja so alles an dunklen Gedanken vor der Welt und mitunter sogar vor sich selbst verbirgt. Je weiter das böse Spiel geht, desto menschlicher scheinen die Züge des monströsen Tiers zu werden, desto ununterscheidbarer verschwimmen Mädchen und Bestie ineinander …

"Hatching" ist ein schöner, garstiger kleiner Horrorfilm, der nicht subtil zu Werke geht, aber auch nicht der Subtilität bedarf. Innerhalb von Minuten etabliert er seine grundlegende Metapher und alle relevanten Erzählstränge, um diese dann straff und konsequent bis zum erwartbar schwarzen Ende durchzuspielen. Gerade einmal 80 Minuten dauert es, bis die Schlusscredits zu rollen beginnen, Zeit für Längen und Durchhänger gibt es keine. Die Hauptrollen sind auf den Punkt besetzt, was der abgründigen Dynamik dieser finsteren Mutter-Tochter-Geschichte die notwendige Glaubwürdigkeit verleiht - und nicht zuletzt funktioniert Hanna Bergholms Film Dank des weitestgehenden Verzichts auf körperlose CGI-Animationen zugunsten eines wirklich zauberhaften animatronischen Monstervogels auch als creature feature ganz hervorragend.

Ebenso wie dieser schöne Film die im Zeitalter der zu epischen Laufzeiten aufgeblasenen Genrefilmstoffe allzu oft missachteten Tugenden der Kürze und der narrativen Verknappung erschließt, soll auch diese Kritik kurz und bündig enden. "Hatching" ist ein in der Transparenz seines Subtextes zum elevated horror anschlussfähiger und doch in seiner klassizistischen Substanz und Schlichtheit bezaubernder Mitternachtsfilm, der es in früheren Dekaden - als das Publikum für solche liebevollen Schauerstücke noch existierte - zum Geheimtipp hätte bringen können. Am besten sollten wir alle einfach so tun, als befänden wir uns noch in den 1980er-Jahren, das eine, kleine Kino in unserer Stadt suchen, das "Hatching" spielt - und ihn unbedingt in der spätesten Spätvorstellung ansehen, die wir finden können.

Jochen Werner

Hatching - Finnland 2022 - Regie: Hanna Bergholm - Darsteller: Siiri Solalinna, Sophia Heikkilä, Jani Volanen, Reino Nordin, Oiva Ollila - Laufzeit: 86 Minuten.