Im Kino

Einsamkeit ist Handarbeit

Die Filmkolumne. Von Karsten Munt, Jochen Werner
18.08.2022. Stanislaw Mucha besucht für seine Doku "Wettermacher" eine Wetterstation in Sibirien und erliegt der Schönheit der Landschaft. Louis C.K. beschreibt in "Fourth of July" die emotionale Brutalität einer Familienhölle.


Zweimal im Jahr kommt ein Versorgungsschiff. Dazwischen sind die von der Ozeanerwärmung angespülten Eisbären die einzigen Gäste, die Chodowaricha hat. Drei Wettermacher leben in der Abgeschiedenheit am russischen Polarmeer. Der Leiter des Teams, Vladimir, wurde an den Polarkreis versetzt, nachdem eine Mitarbeiterin auf der alten Station Tod aufgefunden wurde. Sascha hat es hierher verschlagen, nachdem sie mit ansehen musste wie ihr Ex-Mann, ein junger Oligarch, sich vor ihren Augen das Leben nahm und ihr neuer Mann Alex, nach drei Kriegen und einer schweren Kopfverletzung, von seiner Mutter die Isolation als Genesungsmaßnahme empfohlen bekam. Der Algorithmus gab für die Suchbegriffe "Isolation" und "Arbeit" die Jobempfehlung "Meteorologe" aus. Dass beide nun nicht nur als Kollegen, sondern auch als Paar auf der Station leben, wirkt wie ein Zugeständnis an den Pragmatismus, den das Leben in völliger Abgeschiedenheit fordert. Alles wird auf die ein oder andere Art von der Routine zurechtgestutzt. Und Routine gibt es in reichlich in Chodowaricha: Wasserentnahme, Eisbärenpatrouille, Windmessung, Datensammlung, Datenabgleich, Wasserentnahme, Windmessung, etc. Einsamkeit ist Handarbeit. Eine Arbeit, deren Regelmäßigkeit das Leben strukturiert, das sich gänzlich dem gedankenlosen Trott der Gewohnheit hingegeben hat.

Was zwischen den Handgriffen passiert, beschreibt "Wettermacher" deutlich besser als die Biografien der freiwilligen Gefangenen, die Filmemacher Stanislaw Mucha aus dem Off in den Film trägt. Ex-Militär Alex zündet seine Zigarette mit der Bengalfackel an, Sascha tänzelt bei der Probeentnahme vor der Gischt zurück wie ein übermütiges Kind und der Nachbar vom Leuchtturm macht eine lauwarme Show um einen Vogel, der in seinem Fischernetz verendet ist. Der für einen Leuchtturmwärter am Ende der Welt angemessen kauzige Mann ist der einzige, der fähig scheint, die Abgeschiedenheit zu genießen. Für die Kamera blödelt er fröhlich mit Walrossgebeinen herum, wühlt mit dem Eifer eines Kleinkinds im Schrott und genießt es, der Einzige zu sein, der aus dem absoluten Nichts eine Verbindung ins WorldWideWeb aufzubauen vermag.



Nach der ostsibirischen Steppe, deren dunkle Vergangenheit und skurrile Neuzeit Mucha in "Kolyma" zusammenzubringen versuchte, klopft "Wettermacher" nun den Norden Sibiriens und seine Bewohner auf die bizarren Lebensformen ab, die sie hervorgebracht haben. Nicht immer ohne Humor, wie eine Szene beweist, die Vladimir, den Leiter der Station, mit einem Jump-Cut aus der Wetterstation entfernt, in der er fortan nicht mehr erwünscht sein wird. Abseits der kleinen kreativen Spitzen tobt sich Marcus Winterbauers Kamera an der trostlosen Schönheit der arktischen Landzunge aus, spielt den goldenen Glanz der Sonne gegen die hässlichen Überreste der Versorgung der einzigen Menschheitsvorposten aus.

Wirklich gelungen ist "Wettermacher" ironischerweise dort, wo sich Land und Leute scheinbar standhaft weigern, sich der ästhetischen Vereinnahmung oder Charakterisierung zu beugen. Wo ein Stück radioaktiven Mülls sich weder in ein Narrativ noch die es umgebende Schönheit einfügen will oder das von schwarzen Erfrierungen gezeichnete Gesicht eines besuchenden Nomaden sich einfach nicht deuten lassen will. Anders gesagt: Dort, wo der Film nicht von Schicksalen erzählt oder Kuriositäten beleuchtet, sondern die Welt einfach vorfindet, ist er am schönsten. Eine Welt, die einem, von komfortablen zivilisatorischen Ballungszentren aus betrachtet, nur vergessen und verloren vorkommen kann: widerwillig von Dünengras erorbert, mit Ölfässern zugestellt und nur ihres Forschungswertes wegen überhaupt mit menschlichem Auge betrachtet. Muchas Film kann sich nicht sattsehen an dieser Welt, erliegt aber doch dem Verlangen, ihr ein Leitmotiv aufdrücken zu müssen. Irgendwie schafft es dafür das Schicksal in den Film und bringt den Leiter, den der Film eben noch mit wohliger Rechtschaffenheit aus seiner Mitte entfernte, auf unerklärte und bitter-ironische Weise zurück nach Chodowaricha, an den Arsch der Welt.

Karsten Munt

Wettermacher - Deutschland 2021 - Regie: Stanislaw Mucha - Laufzeit: 92 Minuten.

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Der amerikanische Standup-Comedian und Sitcomstar Louis C.K. galt jahrelang als einer der guten Menschen der Branche - nicht nur, weil er die Standup-Specials, Alben, Filme und Serien, die er an seine Anhängerschaft brachte, oftmals unabhängig produzierte und über seine eigene Website zu niedrigen Preise anbot, sondern auch, weil er sich in der TV-Serie "Louie" eine Rolle als aufopferungsvoller alleinerziehender Vater auf den Leib schrieb und in seinen Bühnenprogrammen immer wieder auf lustige, aber auch schonungslose Art über Themen wie toxische Männlichkeit sprach. Umso schmerzhafter wogen die bereits über Jahre hinweg unbestätigt durchs Netz geisternden Verfehlungen, die C.K. im Jahr 2017 schließlich zugab, nachdem eine Reihe betroffener Frauen damit an die Öffentlichkeit gegangen war. Immer wieder hatte der Komiker sich vor weiblichen Kolleginnen entblößt und diese genötigt, ihm bei sexuellen Handlungen an sich selbst zuzusehen.

Von einem Tag auf den anderen war C.K.s Karriere (vorläufig) beendet, der Kinostart seines bis heute unveröffentlichten, wenngleich inzwischen als inoffizielle Kopie in den schattigeren Nebenstraßen des Internets kursierenden Films "I Love You, Daddy" wurde ersatzlos abgesagt und der Komiker zog sich für einige Monate aus der Öffentlichkeit zurück. Nicht lang genug, so meinen bis heute viele, die dies lautstark zum Ausdruck bringen, wann immer Louis C.K. seither öffentlich auftritt oder neue Werke veröffentlicht. Schien anfangs noch unklar, ob die unverrauchte Wut eines nennenswerten Teils seiner früheren Fanbasis ihm eine Rückkehr zum kommerziellen Erfolg früherer Jahre erlauben würde, kann man diese Frage seit den Grammy Awards 2022 als beantwortet betrachten - dort gewann Louis C.K. mit seinem Comebackalbum "Sincerely" den Preis für das beste Comedyalbum.

Auch als Filmregisseur versucht C.K. nun, dort anzuknüpfen, wo seine Karriere vor fünf Jahren abbrach, muss hierfür jedoch einige Schritte zurückgehen. Denn wo "I Love You, Daddy" den immer weiter aufstrebenden Star als Comedy-Auteur vom Format eines jungen Woody Allen auf den internationalen Kinoleinwänden und Filmfestivals etablieren sollte - eine Parallele, die sich im Lichte der Debatten jüngerer Jahre auch eher nicht als hilfreich erwies -, da kommt C.K.s vierte Regiearbeit "Fourth of July" betont klein und eher bescheiden daher. Kinovorführungen kann man über C.K.s Agentur direkt buchen, einen Verleih gibt es nicht. Und im Anschluss an eine kurze (und wohl überraschend erfolgreiche) Kinotour veröffentlichte C.K. den Film nun als Download auf seiner Website.



Neben der Funktion als Regisseur nimmt C.K. sich selbst ein Stück weit aus dem Rampenlicht, indem er die Hauptrolle dem eher unbekannten Standup-Comedian Joe List überlässt - eine kurze Nebenrolle als Therapeut seines Protagonisten Jeff lässt er sich aber doch nicht nehmen. Dieser Jeff lebt als Jazzpianist in New York, ist seit drei Jahren trockener Alkoholiker und ringt alljährlich am 4. Juli mit der Frage, ob er seine entfremdete Familie in Maine zu den obligatorischen Feierlichkeiten um den amerikanischen Nationalfeiertag besuchen oder es doch wagen soll, endgültig mit ihr zu brechen. Zudem bangt Jeff um seine Beziehung, nachdem seine Partnerin Beth ihn mit ihrem schmerzhaft unerfüllten Kinderwunsch konfrontiert. Diesem gegenüber ist Jeff keineswegs völlig abgeneigt, aber er zweifelt an seiner Eignung zum Vater - und beschließt, endlich die eigenen Traumata in Bezug auf Familie und Elternschaft zu konfrontieren und das Gespräch mit seinen Eltern zu suchen.

Das läuft allerdings nicht gar so gut. Zunächst kratzt Jeff all seinen Mut zusammen, um sein Herz auszuschütten, wählt jedoch den unpassendsten Moment dafür und stößt zuerst nur auf Desinteresse. Auf dieses folgt beim abendlichen Zusammensein in großer Runde ein schwer erträglicher Moment, wenn Jeffs Mutter ihren Sohn und dessen zugegeben kläglichen Versuch, über seine Gefühle und Verletzungen zu sprechen, vor dem gesamten Familienkreis der Lächerlichkeit preisgibt. In dieser Sequenz hält eine emotionale Brutalität in "Fourth of July" Einzug, durch die sich der gesamte Film fortan dunkler färbt und über die er nie wieder hinwegkommt. Auch wenn er am Ende so tut, als ob.

Doch zunächst folgt eine weitere Eskalation. Lässt sich Jeff abends noch ohne Widerworte vor versammelter Runde demütigen, bricht es am nächsten Tag umso heftiger aus ihm heraus. Laut und schön spielt Jeff zunächst über den anschwellenden Bocksgesang seiner lautstark im Hintergrund blökenden Familie hinweg, bis ihm alle Sicherungen durchknallen und er selbst zu brüllen beginnt. Allen, vom wortkargen Vater über die selbstgerechte Mutter bis hin zum rassistischen, homophoben Onkel, schleudert er ein jahrzehntelang heruntergeschlucktes "fuck you" entgegen, und man glaubt, das könnte nun ein reinigendes Gewitter sein. Aber es kommt oberflächlich harmonischer und im emotionalen Kern vielleicht nur viel schlimmer.

Denn auf verbale Gewalt folgt Gegengewalt, und die um einen weiteren Tag verzögerte Entgegnung seiner Mutter schraubt die emotionale Eskalationsstufe in all ihrer unverblümten Verachtung für Jeffs Lebensstil noch höher - nur damit im Anschluss alle alles wieder unter den Teppich kehren können, wo es in Familien wie dieser nunmal hingehört. All hugging, no learning, um die Maxime eines anderen großen New-York-Komikers zu variieren. Im Grunde geht "Fourth of July" in seinen unerwartet harschen emotionalen Ausbrüchen und Verletzungen gar noch einen Schritt weiter - und folgt darin Louis C.K.s vielleicht wirklich wegweisendem Vorbild Woody Allen. Denn in der Art und Weise, wie er eine durch und durch toxische Familienhölle porträtiert, aus der sich zu lösen der Protagonist wohl auf ewig unfähig bleiben wird, ist "Fourth of July" Louis C.K.s Bergman-Film. Da hilft alles Lachen und Umarmen nichts.

Jochen Werner

Fourth of July - USA 2022 - Regie: Louis C.K. - Darsteller: Joe List, Sarah Tollemache, Paula Plum, Robert Walsh, Tara Pacheco, Robert Kelly, Louis C.K. - Laufzeit: 90 Minuten.