Im Kino

Das Herz, das schlägt

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
25.08.2022. Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó blickt in "Evolution" auf drei Generationen einer jüdischen Familie: Es ist ein Film über die Shoah, der die Darstellung der Gewalt im Off belässt, von dem aus sie ihre Wirkung auf die Über- und Nachlebenden entfaltet. "You Will Die at 20" des sudanesischen Regisseurs Amjad Abu Alala beobachtet das Erwachen eines 19-Jährigen, dem vom religiösen Führer seines Dorfes ein früher Tod prophezeit wurde.


Männer, in langen Ledermänteln, bewegen sich durch einen fahl gelb beleuchteten Bunker, langsam, vorsichtig und verstört, und dann machen sie sich an die Arbeit: Eine immer grotesker und beklemmender werdende Choreografie schwitzender Leiber, die immer besessener, verzweifelter die Wände und Böden der Kammer schrubben und wischen, als ob es mehr als nur Schmutz abzuwaschen gäbe. In den Ritzen des Betons entdeckt einer eine Haarsträhne, dann entdecken auch die anderen immer mehr, immer längere Haarsträhnen, ein surreales Crescendo, bis die Männer, einem Wimmer folgend, einen Säugling entdecken, der unter einem Abfluss versteckt liegt, lebendig. Der Verdacht, dass die Kammer ein Ort des Massenmordes war, bestätigt sich, als die Kamera nach oben zum nicht minder fahlen, winterlichen Tageslicht wandert: Soldaten der Roten Armee in einem eben befreiten Vernichtungslager.

"Evá" ist diese fast sprachlose Sequenz betitelt, nach einer ihrer Figuren, wie auch die beiden anderen, die noch folgen. "Evolution" ist die jüngste Regiearbeit von Kornél Mundruczó, wie zuvor bei "Jupiter's Moon" und "Pieces of a Woman" in Zusammenarbeit mit seiner Partnerin und Drehbuchautorin Kata Wéber entstanden. Der Film verarbeitet auch eigene Familiengeschichte.

Der zweite Teil zeigt Evá (Lili Monori), deren Leben in Auschwitz nicht endete, sondern begann, nun betagt und mit Anzeichen von Demenz in ihrer Budapester Wohnung, wie sie Besuch von ihrer Tochter Léna (Annamária Láng) - nach der die Episode benannt ist - bekommt. Léna soll Evá zur Verleihung einer Auszeichnung begleiten. Außerdem will sie den Geburtsschein von Evás Mutter finden, weil sie ihren Sohn Jónás in einer jüdischen Schule in Berlin anmelden möchte. Die Überlebensgeschichte von Evá ist eine, deren Wahrheit sich nicht so ohne weiteres mit amtlichen Schriftstücken belegen lässt, es gibt zahlreiche Geburtsurkunden, manche christlich, manche jüdisch. Aus dem Aufbruch zur Zeremonie wird vorerst auch nichts, es entspinnt sich ein von bitterer Ironie durchzogenes Streitgespräch über Familiengeschichte, Erinnerung und Lebensentwürfe; man erfährt mehr über das wundersame Überleben Evás im Vernichtungslager, und von dem Abgrund, der sich in dem Satz versteckt, jemand habe Auschwitz überlebt. Dass Leben und Überleben nicht dasselbe wären, heißt es einmal. Traumata werden sichtbar, die, so könnte man meinen, zum Ende die kleine Wohnung buchstäblich fluten.



Jónás (Goya Rego), der an der Grenze zum Teenager stehende Sohn Lénas, steht im Fokus der letzten Episode: in der Berliner Schule, die augenscheinlich nicht die jüdische Schule ist, die der Mutter vorschwebte, ist das Martinsfest Pflichtprogramm, samt Laternenbau und Umzug, Jónás' Laterne hat, unter Umständen, die noch nicht ganz klar scheinen, Feuer gefangen, worauf die Schule evakuiert werden muss, im Wirrwarr der Räumung wird er von Mitschülern bedrängt. Zuhause angekommen zankt er sich mit seiner Mutter. Das Wissen um die Familiengeschichte hilft ihm in seiner eigenen Gegenwart wenig, die Mutter wiederum gerät am Telefon in Streit mit der Lehrerin, die, hoffnungslos überfordert vom Antisemitismus an ihrer Schule, von "außerschulischen, aus dem nahen Osten importierten Konflikten" faselt und von der Initiative "Lächelndes Deutschland", an der die Schule teilnimmt, und die man nun nicht beschädigen möchte. Bei sich zu seine scheint Jónás in Gegenwart seiner Mitschülerin Yasmin (Padmé Hamdemir), die die Haare kurzgeschoren trägt, weil ihrem muslimischer Vater ihre bunt gefärbten langen Haare missfielen, und mit der er sich beim Laternenumzug davonstiehlt, zum Ufer des Kanals, ans Wasser, das alle drei Zeit- und Generationsebenen metaphorisch durchzieht.

Yorick Le Sauxs Kameraarbeit fängt die Szenen in langen Plansequenzen ein, die fast ohne Schnitte auskommen. Komplexe Schwenks und Handkamerafahrten, die den Bewegungen der Figuren folgen, sie in ihrer Bezogenheit aufeinander markieren. Es war ein Film über deutsche Konzentrationslager (Pontecorvos "Kapo" von 1960), der Jacques Rivette einst zu einer wütenden Polemik über eine Kamerafahrt (auf das erstarrte Antlitz einer Frau, die sich in den elektrischen Stacheldraht wirft) veranlasste: Godards Formulierung folgend, dass Kamerafahrten eine Frage der Moral seien, verurteilte er ihn als Infamie. Welche Einstellung (auf das zu Sehende) in der Einstellung (die es zum Bild macht) impliziert wird, ist eine Frage, die ihren Ursprung nicht in der Realität nationalsozialistischer Gewalt hat, durch die sie aber zugespitzt wird. "Evolution" jedenfalls ist, den kontinuierlichen, fluiden Kamerabewegungen zum Trotz, weit davon entfernt, das Leid in etwas zu transformieren, das sich als genießbares Bild präsentiert.



Die fluiden Bewegungen in "Evolution" bereiten den Figuren den Raum und begrenzen ihn zugleich. In Verbindung mit der Dreiteilung des Films hat das eine ganz andere Wirkung als in anderen Filmen, die die digitale Aufnahmetechnik zu besonders langen, ununterbrochenen Einstellungen befähigt: etwa, wenn sich in Schippers "Victoria" ein schicksalsförmiges Verhängnis über die Identität von erzählter und Erzählzeit legt, oder wenn in Sokurows "Russian Ark" 300 Jahre russischer Geschichte zu einer nicht minder schicksalshaften Einheit geformt werden. In "Evolution" hingegen formen die Plansequenzen einen Raum, der nicht direkt auf die Geschichte rekurriert, die doch sein Thema ist. Es ist ein Raum der gemeinsamen Gegenwart, der die Geschichte vermittelt ins Bild treten lässt - durch das Agieren der sich begegnenden und einander verfehlenden Figuren.

"Evolution" ist ein Film über die Shoah, der die mit Aporien behaftete Darstellung der unsäglichen Gewalt im ständigen Off belässt, von dem aus sie ihre Wirkung auf die Über- und Nachlebenden entfaltet. So dicht und geschlossen die jeweiligen Erfahrungsräume, so hart wirken die Brüche zwischen den auch stilistisch auseinander driftenden Episoden, über deren Grenzen die biografischen Erfahrungshorizonte nicht konvergieren. Damit wird "Evolution" zu einem Generationen überspannenden Drama jüdischer Identität und intergenerationeller Traumata nach der Shoah. So eindrücklich die schauspielerische Intensität (ganz besonders im Fall von Monoris Evá) ist, so prekär wirken die symbolischen Aufladungen: Familiäre Erinnerung oder der interkulturelle Kuss, der die Generationenfolge teleologisch beschließt; oder auch die parallelisierenden Echos der Gewalterfahrungen, die selbst ohne Bild bleiben: wuchernde abgeschnittene Haare und Stoppelfrisuren, Lichtermärsche, Sturzbäche der Erinnerung… Bilder, die zwischen erhellender Erfahrung und deren Festschreibung im Kitsch changieren.

Was der Film mit dem Ringen seiner Figuren um Selbsterklärung wiederum deutlich macht, ist, dass diese heikle Bildsprache nicht schlicht eine Frage stilistischer Mittel oder des Geschmacks ist, sondern konstitutiv für seinen Gegenstand.

Sebastian Markt

Evolution - Deutschland, Ungarn 2021 - Regie: Kornél Mundruczó - Darsteller: Lili Monori, Annamária Láng, Goya Rego, Padmé Hamdemir, Harald Kolaas - Laufzeit: 97 Minuten.

***



Dass Muzamil (Mustafa Shehata) dem frühen Tod entkommen könnte, ist ein Gedanke, der in der Welt, in die er hineingeboren wurde, kaum gedacht und ganz sicher nicht offen artikuliert werden kann. Aber dass er dennoch ein Leben führen könnte, das, solange er es noch hat, nicht immer schon vom Tod kontaminiert ist: Das ist ein Gedanke, der auf unterschiedliche Weise an den jungen Mann herangetragen wird, dem als Säugling vom religiösen Führer des Dorfes prophezeit wurde, dass er an seinem 20. Geburtstag sterben muss.

Das Leben, das er stattdessen in seinem Geburtsort, einem sudanesischen Dorf am Nil, geführt hat, ist, bis kurz vor dem entscheidenden Tag des prophezeiten Ablebens zumindest, ein Leben, das sich selbst verleugnet. Seine Mutter (Islam Mubarak) hat aus Verzweiflung über sein und ihr Schicksal - gegen das sie sich zwar auflehnt, aber stets nur gemäß der Regeln jenes sufistischen Islam, die es verhängt hat - die gemeinsame Wohnstätte in eine vorweggenommene Grabstätte verwandelt, an deren Wände sie die Tage zählt, die dem Sohn noch bleiben und in die kein irdisches Licht fällt, sondern lediglich ein rein vergeistigtes Leuchten, das Muzamil gelegentlich, wenn er darin badet, sedierenden Trost spendet.

Seine Jugend verbringt er nicht im Spiel mit Gleichaltrigen, sondern in der religiösen Schule, wo er, zum Stolz der Mutter und des gesamten Dorfes, den kompletten Koran in gleich zwei Lesarten auswendig lernt. Lange ist ein fröhliches, offenherziges Mädchen namens Naima (Bonna Khalid), mit dem er gemeinsam aufwächst, Muzamils einziges Fenster zu einer Welt jenseits von Religion und Todesmystik. Schon als Kind sitzen die beiden zusammen am Fluss und sie erzählt von unmoralischen Frauen auf der anderen Seite. Frauen, die Männer küssen, die sie nicht kennen. Aber Männer, die sie kennen und lieben? Die dürfen sie küssen. Später lauert Naima Muzamil auf dem Nachhauseweg von der Schule auf, umschwirrt ihn als eine beglückende Überforderung, lässt ihn ihr langes, wallendes Haar berühren, einmal küsst sie ihn sogar kurz - und doch löst sich das Versprechen, das sie ihm ist, am Ende nicht ein.


Muzamils Vater ist die vermeintlich große Abwesenheit in seinem Leben. Kurz nach der Prophezeiung hatte er Familie und Dorf verlassen - die Aussicht auf 20 Jahre Leben mit dem Tod hatten ihn das Weite suchen lassen. Wenn er schließlich doch noch vor der Deadline zurückkehrt, wird er nicht - ein weniger interessanter Film hätte unweigerlich diese Erzählvariante gewählt - zum Auslöser einer Krise oder Katharsis; stattdessen ist er einfach nur ein alter, in der Fremde gebrochener Mann, der erschöpft im Halbdunkel herumliegt. Muzamil streckt einmal die Hand nach ihm aus und weiß doch bereits, dass aus dieser Richtung nicht viel zu holen ist.

Es ist eine Begegnung mit einem anderen Mann aus der Fremde, der die Dinge in Bewegung setzt. Sulaiman (Mahmoud Elsarraj) hat lange im Ausland gelebt und von dort eine Kamera, Filmrollen, sowie eine Vorliebe für Alkohol mitgebracht. Die Frau, mit der er zusammenlebt, sieht das mit der Liebe und den Küssen nicht so streng, und dann sind da noch die Frauen in den Filmen, die Sulaiman Muzamil zeigt, und die der Fremde, die nun immer bestimmter eine Rolle in Muzamils Innenleben reklamiert, erstmals eine wenn auch illusorische Substanz verleihen. Diese Fremde scheint für Muzamil, der zeitlebens sein Geburtsdorf noch nicht verlassen hat, eng mit dem Nil zusammen zu hängen, einem Fluss, der freilich gleichzeitig auf den nahenden Tod verweist. Unsere jungen Männer sterben alle im Fluss, meint ein Dorfbewohner, auch seine Leiche werden wir bald aus dem Nil fischen. Muzamil selbst traut sich gar nicht erst ins Wasser.

Die Emanzipationsgeschichte, zu der sich die Erfahrungen mit Sulaiman und Naima und vielleicht auch die der Entfremdung vom Vater verdichten, bricht nicht großspurig, heroisch über den Film hinein. Vielmehr webt sie langsam und doch gründlich die Textur des Films um, indem sie andere, neue Bilder, Blicke und auch Melodien (ein drängendes, prägnantes Streichermotiv etwa in zwei Szenen mit dem Vater) in die vorher kleine, horizontlose Erfahrungswelt Muzamils einfügt. Der Keim des Widerstands, des Nichteinverstandenseins mit einem Leben unter der Fuchtel von Religion und Todeskult muss jedoch schon vorher, von Anfang an dagewesen sein; vielleicht im Klopfen des Herzens der Mutter, das der junge Muzamil hörte, wenn er seinen Kopf auf ihre Brust presste. Das Herz, das schlägt, ob die religiösen Autoritäten es wollen oder nicht.

Viel mehr bleibt Muzamil vorläufig nicht, als sich an die Töne und Bilder zu halten, die von der Möglichkeit der Abweichung künden. Vielleicht ist es das, was die Schönheit dieses Films ausmacht: Dass das andere Leben, das in der Perspektive seiner Erzählung immer auch ein Leben nach dem Tod, jedenfalls nach einer Art von Tod ist, keine direkte Repräsentanz erfährt, sondern Andeutung, zeichenhaft, ein Versprechen bleibt. Wenn Muzamil zum ersten Mal Sulaimans Haus betritt, scannt ein Schwenk dessen Wand ab und nimmt die sonderbaren Gerätschaften, Bilder und Genussmittel in den Blick, zu denen der Junge noch kein Verhältnis hat, und die gerade in ihrer Unlesbarkeit zum neuen Mittelpunkt seiner Welt werden.

Lukas Foerster

You Will Die at 20 - Sudan 2019 - Regie: Amjad Abu Alala - Darsteller: Mustafa Shehata, Islam Mubarak, Mahmoud Maysara Elsaraj, Bonna Khalid, Talal Afifi - Laufzeit: 103 Minuten.