Im Kino

Klangliche Textur des Haptischen

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh
19.10.2022. Geredet wird nicht viel in Lucile Hadzihalilovics "Earwig". Dafür hört man es streichen, klicken, rascheln oder knarzen: Das Kino der belgischen Filmemacherin ist Geräusch- und Materiekino. Die Vorlage für den Film um ein Mädchen, dessen Zähne sich immer wieder verflüssigen, stammt vom britischen Multimediakünstler Brian Catling, ein Meister der Weird Fiction, der hier kongenial verfilmt ist.
Vielleicht sind ja doch nicht die Augen die Fenster zur Seele, sondern die Ohren? Albert Scellincs Ohr (das im Off in den Körper des Schauspielers Paul Hilton übergeht) jedenfalls lädt dazu ein, sich tief darin zu versenken. In einer lange gehaltenen, in sanft diffuses Licht getauchten Großaufnahme eröffnet es diesen Film und wenn man lange in ein Ohr blickt, blickt das Ohr bekanntlich in einen selbst. Oder es wird zu etwas anderem als einem Ohr: zu einem Wegweiser, vielleicht. In den inner space von Albert Scellinc, vielleicht auch in die labyrinthische Struktur dieses Films (so ein Ohr wirkt in seinen Ausformungen ja wirklich grotesk, wenn man es genau betrachtet). Und es ist ein Marker, eine Art Signal: In diesem Film gibt's was zu hören - und Texturen, denen man nachspüren kann.

Allerdings (zunächst) kein gesprochenes Wort. Auf das muss man knapp eine halbe Stunde warten. Stattdessen entwickelt "Earwig" wahre ASMR-Qualitäten (ASMR, das sind diese auf viele befremdlich wirkenden, unter dem Primat des Akustischen stehenden Entspannungsvideos, die Ihnen, wenn Sie sie schon nicht selber nutzen, auf Youtube bestimmt schon einmal begegnet sind). Zu entdecken ist eine klangliche Textur des Haptischen. Ständig streicht etwas, klickt etwas, raschelt etwas, knarzt etwas. Eine klangästhetisch hochsensible Welt. Etwa wenn Scellinc diese rätselhafte Vorrichtung zwischen äußerer Zahnspange und chemischem Labor, die am Kopf der kleinen Mia (Romane Hemelaers) hängt, per kleiner Schnalle löst: klick - klick. Diese Vorrichtung wiederum sammelt Flüssigkeit aus Mias Mund. Ihre Zähne verflüssigen sich fortlaufend, diese Flüssigkeit wird aufgefangen, in einem Kühlschrank wieder verhärtet und anschließend neu eingesetzt.

Richtig gelesen: Zähne aus Eis, Szenen aus dem Traummaterial von Fetischisten. Dazu: eine verplombte Welt. Wir sind irgendwo in Europa, irgendwann nach dem Krieg (gemeint ist Weltkrieg Zwo, der Film entstand vor der aktuellen geopolitischen Großwetterlage) und in einer Welt, in der Depression und Resignation zu materieller Lebensrealität geronnen sind.

Scellinc und Mia befinden sich in einem Gebäude, das Mia offenbar nie verlassen hat. Scellinc hütet sie, kümmert sich um ihre Zähne. Ein gedämpftes Leben in dunklen Farben und diffusem Licht und vielen Schatten, abseits von Welt und Gesellschaft. Wer nostalgische Sehnsucht hat nach dem schweren Holz, der Stahlwucht alter Züge und der nebligen Schwarz-Weiß-Diffusität, bekommt die volle Ladung mit Extra Schlag obendrauf.

Schließlich der Anruf: Mia kann im nächsten Monat übergeben werden, sagt eine ungut medial verrauschte Stimme. Sie solle fürs Leben draußen vorbereitet werden. Eine Odyssee ins Äußere beginnt, für Scellinc eine Traumreise auch ins Ich, in die eigene, im Film nur Skizze bleibende Biografie und Traumageschichte.

Für Menschen, die sich filmisch gerne am Mitternachtskino der Siebziger orientieren, die Veröffentlichungen des Kölner DVD-Labels Bildstörung gesammelt im Regal stehen haben und die keine Grenze ziehen zwischen Autorenkino und künstlerisch überhöhter Genre-Fantastik, ist die 61-jährige belgische Filmemacherin Lucile Hadzihalilovic schon lange kein Geheimtipp mehr. Ihre wenigen Filme - pro Jahrzehnt ein Langfilm, dazwischen kurze Arbeiten - sind ästhetisch sinnlich durchgestaltete Reisen in inner spaces, oft taktil in ihrer Ästhetik und motivisch auf Coming-of-Age-Geschichten in eingehegten Umgebungen festgelegt. "Earwig" fügt sich dem nahtlos an, greift allerdings erstmals eine literarische Vorlage auf, die Hadzihalilovic in Interviews als "Geschenk" bezeichnet, so maßgeschneidert passte sie zu ihren ästhetischen Vorlieben: Die Novelle gleichen Namens stammt von Brian Catling, der erst vor wenigen Wochen verstorben und in Deutschland noch unbekannter ist als Hadzihalilovic. Catling war ein Multimedia-Künstler, der mit seinen bizarren Skulpturen für Furore sorgte, daneben Experimentalfilme drehte, Klangkunst machte und schließlich auch Romane schrieb: Seine Vorrh-Trilogie gilt im Bereich der Weird Fiction und düsteren Kunst-Fantasy als Meilenstein - ein Autor, vor dem selbst der Comic-Hexenmeister Alan Moore auf die Knie geht (hier ein Vorwort, das er für Caitling geschrieben hat).

Nun habe ich das Buch nicht gelesen, aber den Goodreads-Leserrezensionen nach zu urteilen (Einzeiler-Favorit: "Literally have no idea what this is about"), dürfte dessen Kenntnis den in düster-schwarzem Ton gehaltenen Film nicht nennenswert erhellen. Es ist eine Binse, aber "Earwig" muss man tatsächlich in erster Linie ästhetisch erleben, nicht so sehr inhaltlich nachvollziehen. Andere Rezensionen erwähnen Kafka, Cronenberg und Lynch und da ist durchaus etwas dran. Ich würde dem noch Peter Stricklands sinnliches Post-Genre-Kino hinzufügen, dem die Regisseurin sich in einem Gespräch als schwesterlich verbunden zu erkennen gab. Und eine Szene im Park mit Mia im roten Kleid ist offensichtlich als Hommage an Nicolas Roegs "Wenn die Gondeln Trauer tragen" - noch so eine Reise ins Innere eines Mannes, dem die Welt unter den Fingern zerrinnt - angelegt.

Der Cronenberg-Hinweis scheint mir in einer Hinsicht eher fehl zu gehen: Wo der Kanadier das Prinzip Mind over Matter pflegt, ist "Earwig" eher eine Sache von Matter over Mind. Wozu passt, dass Mind als Wort für Verstand im Griechischen wiederum Logos heißt, was zugleich Sprache bedeutet. Sprache nimmt in Hadzihalilovics Kino und in diesem Film im Besonderen allerdings einen Platz auf den hinteren Rängen ein. Ihr Kino ist taktil-haptisches Geräusch- und Materiekino. In einem filmwissenschaftlichen Seminar könnte dies vielleicht als spezifisch weibliches Erzählen identifiziert werden.

Überhaupt die Materie: Der Film zeigt eine klaustrophobische Erlebenswelt, die aus nichts als materiellem Albdruck besteht. Scellinc ist denn auch ein Musterbeispiel von Reserviertheit und Formularergebenheit. Außer eine Katze schiebt sich als Störmoment ins Geschehen. Dann bricht etwas zur Unfreude von Katzenfreunden aus ihm heraus, das in rückblickartigen Einschüben schemenhaft Gestalt annimmt. Scellinc, erfahren wir ansatzweise, war im Krieg. Und seine Frau lebt nicht mehr. Was es mit Mia auf sich hat? Erfährt Scellinc irgendwann auch.

Am ehesten funktioniert "Earwig" wie das Film gewordene Pendant zu Ambientmusik. In diese Richtung zielt auch der von Warren Ellis produzierte Score von Augustin Viard, der das Geschehen ins Numinös-Irrisierende kleidet. Erzählerische Auswege aus diesem Labyrinth zeigt "Earwig" nur wenige - sie bleiben Scherben. Überhaupt rückt der Film auffallend oft Gläser (sowie eine Ästhetik des Gläsernen) und den Blick dadurch in die Aufmerksamkeit: Nicht nur wenn Scellinc versonnen durch kunstvolle Gläser blickt. Auch die experimentalfilm-artigen Schlieren, die der Film immer wieder als Insert ins Bild holt, um diffus bleibende Erinnerungen zu markieren, entpuppen sich bei näherem Hinsehen wahrscheinlich als durch Glaswölbungen gefilmte Lichteffekte. Mia erhält schließlich im letzten Drittel dauerhafte Zähne aus Glas. Matter over Mind, wie gesagt.

Schade, dass der Film hierzulande nur als Streaming-Premiere auf Mubi zu sehen ist. Diese klanglich und materiell durchgestaltete Welt aus nichts als klaustrophobischen Schatten schreit nach der klaustrophobischen Situation im Kinosaal, wo der Klang einen komplett einwattiert und man den Bildern nicht entkommt. Nicht zuletzt, weil Schwarztöne zumindest auf den meisten Laptops, auf denen heute realistischerweise Filme gesehen werden, noch immer nicht so sogartig ins Tiefe ziehen können, wie ein Schwarzton auf einer Leinwand. Ein Film, der so von Druck und Materialität des 20. Jahrhunderts und so geerdet von einem geschlossenen Ort handelt, ist mobil und immateriell hochaufgelöst in der Cloud fehl am Platz.

Thomas Groh

Earwig - GB 2021 - Regie: Lucile Hadzihalilovic - Darsteller: Paul Hilton, Alex Lawther, Romane Hemelaers, Romola Garai - Laufzeit: 114 Minuten. Zu sehen bei Mubi