Im Kino

Perspektive des Pioniers

Die Filmkolumne. Von Fabian Tietke
21.12.2022. Ennio Morricone komponierte in gut fünfzig Jahren über 500 Filmmusiken. An dem schieren Umfang dieses Werks muss Giuseppe Tornatore zwangsläufig scheitern. Und doch ist der Film lehrreich bis ins kleinste Detail, auch als italienische Musikgeschichte der Nachkriegszeit.

Wenige Komponist:innen haben die europäische Filmmusik so geprägt wie Ennio Morricone. Seine Scores zu Filmen wie Bernardo Bertoluccis "Prima della rivoluzione" (1964) und Marco Bellocchios "I pugni in tasca" (1965) drückten den Filmen einer neuen Generation italienischer Regisseure ihren Stempel auf, noch bevor er ab Ende der 1960er Jahre mit seinen Filmmusiken zu einer Reihe italienischer Western weltbekannt wurde. Der im Juli 2020 verstorbene Morricone komponierte im Laufe von gut 50 Jahren über 500 Filmmusiken. Letzten Herbst feierte "Ennio Morricone - Der Maestro", der Dokumentarfilm, den der Regisseur Giuseppe Tornatore ("Cinema paradiso", 1988) dem Komponisten gewidmet hat, auf dem Filmfestival in Venedig Vorpremiere. Nun bringt Plaion den Film auf die deutschen Leinwände.

Zu Beginn des Films absolviert Morricone als nicht mehr junger Mann in seinem Arbeitszimmer ein kleines Fitnessprogramm. Dann steht er umgeben von Papierbergen in eben diesem Arbeitszimmer und dirigiert ein imaginäres Orchester. Morricone ist wider eigenen Willen Komponist geworden. Eigentlich wollte er Medizin studieren und Arzt werden, doch der Vater beschloss, dass er am Konservatorium Santa Cecilia in Rom Trompete studieren sollte, um in seine Fußstapfen zu treten. 1946, mit 16 Jahren, beendete Morricone die Ausbildung an der Trompete und schloss ein Kompositionsstudium bei Goffredo Petrassi an, einem von Igor Strawinsky begeisterten Neoklassizisten. Neben dem Studium arbeitete Morricone zusammen mit dem Vater als Musiker in Revuen. Als der Vater nicht mehr Trompete spielen konnte, musste der Sohn das Geld für die Familie verdienen.

Den Kern des Films bilden eine Reihe von Gesprächen mit Morricone selbst. Mit großer Bereitschaft und doch zurückgenommen erzählt Morricone aus seinem Leben. Diese Sachlichkeit ist eine Wohltat im Kontrast zu den würdigenden Allgemeinplätzen von Weggefährt_innen zu Filmbeginn. Doch auch diese erweisen sich als erhellend, sobald die Lobhudelei schwindet.
Morricones Lehrer Petrassi komponierte für eine Reihe von Filmen, darunter Giuseppe De Santis "Riso amaro" (1949) und Valerio Zurlinis "Cronaca familiare" (1962). Anders als Morricone sah er in seinen Filmmusiken jedoch Nebenwerke. Friedrich Dürrenmatt sprach mit Blick auf seine Kriminalromane davon, "Kunst zu tun, wo sie niemand erwartet". Morricone spricht in ähnlicher Weise davon, in seinen Filmmusiken die Würde des Komponisten zu bewahren.


Wer sich für Filmmusik und die italienische Musikgeschichte der Nachkriegszeit interessiert, bekommt in Tornatores Film einen Abschnitt der legendären "Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza" von Morricone erzählt, erfährt die Perspektive des Pioniers elektronischer Musik Walter Branchi und die Einschätzungen von Filmkompositionskollegen wie Hans Zimmer und Mychael Danna. "Ennio Morricone - Der Maestro" ist instruktiv bis hinunter zu einzelnen kompositorischen Elementen von Morricones Musik.

Das Eindrucksvollste ist aber der schiere Umfang dieses Werks, seine unterschiedlichen Ansätze, die Geschwindigkeit seines Arbeitens. Gerade in der Vielzahl seiner Werke ähnelt Morricone eher einem Regieroutinier, der seine Arbeitsweisen über Werkgruppen hinweg erarbeitet, die bei anderen schon für sich allein das Lebenswerk darstellen würde. In einem der interessantesten Abschnitte des Portraitfilms legt sich Morricone davon Rechnung ab, dass er sich mit der improvisierten Filmmusik zu einem guten Dutzend Gialli Anfang der 1970er Jahre in die Sackgasse manövriert hatte. Die Musiken erschienen zu seriell, zu austauschbar. Ein Regisseur berichtet noch heute verdutzt, wie er sich von der Zusammenarbeit mit Morricone geehrt gefühlt habe und dann in Morricones Studio kam, wo dieser vier Tonspuren gleichzeitig komponierte, indem er seinen Improvisationspartnern Nummern zurief, die bestimmte Instrumente und Tonelemente bezeichneten.

Der Umfang von Morricones Werk lässt auch Tornatore letztlich scheitern. Additiv hängt er einen Abschnitt der Werkbiografie an den anderen und verstärkt die Längen noch durch Dopplungen. Das zeigt sich vor allem in der Darstellung der berühmteren Kooperationen wie der mit Sergio Leone. So beschreiben drei Wegbegleiter:innen, dass Sergio Leone schon am Set von "Once Upon a Time in America" Morricones Musik spielte. Anschließend läuft noch eine Archivaufnahme der Dreharbeiten, die eben das vorführt. Als kleine Entschädigung zeigt ein schönes Fundstück Tornatores Leone und Morricone als Klassenkameraden auf einem Foto aus der Kinderzeit.

Die Additivität und die Dopplungen schwächen "Ennio Morricone" als Film, doch letztlich stärken sie ihn als Dokument, als Quelle mündlicher Musikgeschichte. Insgesamt überwiegen die Stärken. "Ennio Morricone" erweist sich als überraschend lehrreich. Wieder und wieder singt Morricone Elemente aus seinen Kompositionen, hilft auch Laien, seine Überlegungen und Methoden zumindest im Ansatz zu verstehen. Zudem gibt Morricones Bombombom dem Film eine angenehme Leichtigkeit. Letztlich erreicht Tornatore sein Ziel. "Ennio Morricone" macht Lust, die Filme, zu denen Morricone komponiert hat, noch einmal, mit mehr Augenmerk auf der Interaktion von Bildern und Tonspuren zu sehen. Und das ist eine passende Würdigung für einen der wichtigsten Filmkomponisten des 20. Jahrhunderts.

Fabian Tietke

"Ennio Morricone - Der Maestro" - OT: Ennio - Regie: Giuseppe Tornatore - Laufzeit: 156 Minuten