Im Kino

Weder Stadt noch Natur

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk
11.01.2023. Bernhard Sallmann geht mit uns von Berlin aus JWD, nach janz weit draußen: zum Heizkraftwerk Lichterfelde, auf Arkenberge oder zur Urban Tech Republic im stillgelegten Flughafen Tegel. Die kommentarlosen Aufnahmen sind ein Angebot, eine Auswahl realer Zeiträume, die je nach Lust betreten werden können. Bilder, die weniger geformte Gedanken sind, als Blicke eines Zeitgenossen, der das Glück unfreiwilliger Entdeckungen sucht.


Simpel, schmucklos und deswegen so gut: "Berlin JWD" besteht aus einer ruhigen Aneinanderreihung fixer Totalen, denen jeweils die Bezeichnung des Ortes vorangeht, der zu sehen ist: Heizkraftwerk Lichterfelde, das sind im Wesentlichen Schornsteine, Zäune, Baucontainer, Kräne, Bagger, Strommasten. Ein Industriestandort, am Wasser gelegen, ruht im dahinschmelzenden Berliner Schnee, tief hängt der Winterhimmel, der Asphalt knirscht, die Raben krähen. Die Raben krähen auch im nächsten Bild, und wie Raben sehen Menschen in der Ferne aus, die auf der Spitze der Spree-Teltow Pyramide herumstehen und dann hinunter und aus unserem Blickfeld hinaus rodeln. Im Vordergrund kreuzen drei Kanufahrer, der Kälte mutig trotzend, das Bild. Dass die Spree-Teltow Pyramide buchstäblich aus den aufgetürmten Abfällen einstiger Chemieproduktion besteht - Blausäureverbindungen, Arsen, Quecksilber, Lösungsmittel - erfährt man aus Bernhard Sallmanns Film nicht. Aber die Neugierde ist geweckt und kaum ist der Film zu Ende, recherchiert man eifrig alles nach.

Im Technologiepark Adlershof fixiert die Kamera allerlei architektonische Extravaganzen wie den Trudelturm oder die Isothermischen Kugellabore, im Berliner Volksmund angeblich "Adlershofer Busen" oder "Akademiebusen" genannt. Das Estrel, Deutschlands größtes Hotel ("alles unter einem Dach!") sieht man ungewohnterweise vom Neuköllner Schifffahrtskanal aus, so dass die markante Schräge, sein Markenzeichen, vollends umgangen wird. Arkenberge, die höchste Erhebung Berlins, ist ein ruhendes schwarzes Ungeheuer am Horizont - man muss es nur im Gegenlicht filmen. Zum Grundrauschen des Straßenverkehrs und dem stetigen Lärm der an diesen Orten - immer noch oder vor Jahrzehnten mal - verrichteten Arbeit kommt eine neue Soundkulisse hinzu: Hinter dem Hügel traben Reiter langsam ins Bild.



In "Berlin JWD" filmt Bernhard Sallmann, in Linz geboren, schon lange in Berlin lebend, Orte zwischen Ringbahn und Stadtgrenze. Von jedem gibt es ein bis drei Bilder. Nicht jede Berlinerin kennt sie. Lokalitäten mit praktischer Funktion wie das Krematorium Baumschulenweg, oder mit einer symbolischen, wie das Sowjetische Ehrenmal Schönholzer Heide. Landschaften, die sich hinter den Namen von S-Bahnstationen wie Wuhletal verbergen. Oder Viertel, die "Dichtervillen" heißen und in Wahrheit nur prosaische neue Eigentumsquartiere sind.

Dem filmaffinen Publikum dürfte Bernhard Sallmann für seine Tetralogie über Theodor Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" schon länger ein Begriff sein. Die Verschmelzung von Landschaft und Arbeitswelt prägte, so der Filmemacher selbst, bereits "Havelland Fontane", den letzten Film dieser Reihe. Diesem Phänomen widmet sich "Berlin JWD" vollends, dem also, was weder Stadt noch Natur ist, sonderm allerlei Gebilde aus Stahl und Beton, oft malerisch am Berliner Gewässer gelegen, oder, andersherum, dem "Rekultivierten", so wie es etwa die Rudower Höhe ist, ein aus einem Trümmerberg entstandener Park im Südosten der Hauptstadt. Orte, die Sallmann aufsucht und mit seiner selbst bedienten Kamera festhält, sind kulturhistorische Zeugnisse des städtischen Wachstums, das Ende des 19 Jahrhunderts in Gang kommt und mit dem Entstehen einer neuen gesellschaftlichen Klasse, des Proletariats, einhergeht. "Es war das Freizeitvergnügen der proletarischen Massen, JWD zu fahren. Nach janz weit draussen". Dieses Janz-Weit-Draußen, welches Sallmann festhalten möchte, ist bis auf wenige Ausnahmen für die Berliner von heute kein begehrtes Ausflugsziel. Denn wer käme schon auf die Idee, sich das Gaswerk Mariendorf anzuschauen?



Es fällt auf, dass die Perspektiven, die Sallmann für die Repräsentation der Orte wählt, in der Regel nicht die naheliegendsten, also nicht die schönsten sind. Auch nicht solche allerdings, die das Gezeigte bewusst entstellen. "Urban Tech Republic" (so nennt sich das Gelände des ehemaligen Flughafens Tegel, auf dem ein Forschungs- und Industriepark entstehen soll) etwa ist von daneben gelegenen Schrebergärten aus gefilmt - eine für diesen Film typische schöne, unaufdringliche Fügung. Ein Zeugnis Berliner Vielfalt, eine Bild gewordene Schichtung der Zeit. Die kommentarlosen Aufnahmen sind ein Angebot, eine Auswahl realer Zeiträume, die je nach Lust betreten werden können. Bilder, die weniger geformte Gedanken oder Statements sind, als Blicke eines Zeitgenossen, der das Naheliegende meidet und Erholung jenseits ausgetretener Pfade sucht. Das Glück unfreiwilliger Entdeckungen. Über seinen Fontane-Zyklus schrieb Bernhard Sallmann vor ein paar Jahren in Cargo: "Ich als Filmemacher bin mit dem Fahrrad unterwegs. Bepackt wie ein Esel. (…) Kreise ziehend durch Texte und Landschaften. Schnitte, Schnitte in die Landschaft eintragend". Warum nicht an diesem Zeitgenossen ein Beispiel nehmen? "Berlin JWD", eine freundliche Einladung zur Sehnsucht.

Olga Baruk

Berlin JWD - Deutschland 2022 - Regie: Bernhard Sallmann - Laufzeit: 74 Minuten.