Im Kino

Trotz geschlossener Balkontür

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
18.01.2023. François ist es, der die Beziehung von Sara und Jean plötzlich eng und ungemütlich werden lässt. François, beziehungsweise die Vergangenheit, für die er steht und die, als er wieder im Leben der beiden auftaucht, die Gegenwart zu vergiften beginnt. François ist Saras Ex, die Trennung hat bei ihr und wohl auch bei ihm Wunden hinterlassen. Claire Denis' großartiger neuer Film "Mit Liebe und Entschlossenheit" handelt von Freiheit und Bedrückung in der Enge der Stadt.


In der Stadt leben heißt auf engem Raum leben. Zum Problem wird das vor allem, wenn man nicht allein lebt. Rückzugsorte gibt es kaum, und die wenigen, die es gibt, sind oft ungemütlich und unpraktikabel. In Claire Denis' großartigem neuen Film "Mit Liebe und Entschlossenheit" ("Entschlossenheit" trifft das weit weniger positiv besetzte "acharnement" des französischen Originals nur so halb; viel besser ist eh der englische Titel: "Both Sides of the Blade") ist es ein kleiner, vermutlich oft saukalter und von der kleinen Stadtwohnung, zu der er gehört, nur unzureichend abgeschirmter Balkon, der ein Minimum an Privatheit verspricht, aber nicht gewährleisten kann.

Zum Beispiel kehrt, diese Szene kommt in Variationen gleich mehrfach vor, die Journalistin Sara (Juliette Binoche) in die Wohnung zurück und sieht, kaum ist sie durch die Wohnungstür getreten, ihren Partner Jean (Vincent Lindon), einen ehemaligen Rugbyspieler, auf dem Balkon telefonieren. Trotz geschlossener Balkontür schnappt sie ein paar Worte auf, bevor er überhastet auflegt. "Was ist los?" fragt sie ihn stets, und er antwortet stets: "Nichts". Sie kann das nicht auf sich beruhen lassen, und tatsächlich stellt sich nach etwas Nachbohren heraus, dass keineswegs "nichts" los ist, sondern dass es wieder einmal dieses oder jenes Problem gibt, mit Jeans Arbeit, mit Marcus (Issa Perica), seinem Sohn aus einer früheren Beziehung, oder, vor allem, mit François (Grégoire Colin).



François betritt die Wohung, in der Sara und Jean gemeinsam leben, erst spät im Film. Tatsächlich scheint er sich lange bewusst von dieser Wohnung fern zu halten, ebenso wie sich der Film von ihm fernhält, ihn und sein schiefes Lächeln nur gewissermaßen aus den Augenwinkeln in den Blick nimmt; und doch ist es François, der die Beziehung von Sara und Jean plötzlich eng und ungemütlich werden lässt. François, beziehungsweise die Vergangenheit, für die er steht und die, als er wieder im Leben der beiden auftaucht, die Gegenwart zu vergiften beginnt. François ist Saras Ex, die Trennung hat bei ihr und wohl auch bei ihm Wunden hinterlassen, deren konkrete Ursprünge im Film nie ganz aufgeklärt werden. Ebenso unklar bleibt, was genau zwischen François und Jean vorgefallen ist. Die beiden waren Freunde und wohl auch Geschäftspartner, dann ist Jean irgendwann im Gefängnis gelandet. François hatte vermutlich irgendetwas damit zu tun.

Denis' Film verweigert sich der restlosen Aufklärung der dunklen Gefühle, die in den exponierten, nicht selten nackten Körpern Binoches und Lindons und irgendwann auch Colins, aber auch in den entsättigten blau-grauen Farben des Films (Kamera diesmal nicht Agnès Godard sondern Éric Gautier) und den düster drängenden Klängen der Filmmusik der Tindersticks gleichzeitig eindrücklich Gestalt annehmen. Es gibt, vor allem, keine Rückblenden in "Mit Liebe und Entschlossenheit", nur eine Gegenwart, die sich wie von allen Seiten belagert anfühlt. Belagert von der Vergangenheit, belagert von François, der mit Jean eine geschäftliche Unternehmung startet und in Sara ein altes Verlangen wiederbelebt, belagert von anderen, über das Private hinausweisenden Kräften, die in den Film hineinragen.



Etwa in einem Interview, das Sara mit dem ehemaligen Fußballstar Lilian Thuram über Rassismus und das Selbstverständnis weißer Franzosen führt. Ein Echo findet diese Szene in einer Unterhaltung zwischen dem weißen Jean und seinem jugendlichen Sohn Marcus, der eine schwarze Mutter hat. Kette Dein eigenes Schicksal nicht an Deine Hautfarbe, mahnt Jean, Du musst zwischen zwei Wegen wählen, nur Deine eigene Wahl wird darüber entscheiden, ob Du einmal ein Boss wirst, oder einer, der den Bossen das Klo putzt. Sich selbst kann Jean freilich nur als Negativbeispiel nennen für jemanden, dem es nicht gelingt, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Tatsächlich repräsentiert insbesondere François für ihn und auch für Sara den Weg, den beide offensichtlich nicht einschlagen sollten. Aber hilft alles nichts.

Wie sich vom Druck der Vergangenheit, der Gegenwart, der Identität befreien? Geht das überhaupt? Momenthaft vielleicht schon, in der Liebe zum Beispiel, in einer Nähe, die nicht Enge, sondern Freiheit bedeutet, wie in den ersten Bildern des Films, die Sara und Jean beim Bad im gleißenden, offenen Meer zeigen. Manchmal vielleicht auch beim gierigen Sex und bei geflüsterten Gesprächen in postkoitaler Umklammerung. Aber schon hier beginnen die Probleme, die schneeweiße Reinheit und Klarheit der Bettlaken, in die sich insbesondere Sara immer wieder zurückzieht, hat etwas Fantasmatisches, Irreales. Auf das, was hier gefühlt und einander versprochen wird, ist kein Verlass, ihm eignet schlichtweg keine Substanz mehr, sobald sich das Gesprächssetting ändert.

Tatsächlich ist das die bitterste, die definitive Erkenntnis des Films: Dass nicht alles gut wird, solange man nur miteinander redet. Eines von vielen konfliktreichen Gesprächen zwischen Sara und Jean findet im Badezimmer statt, beziehungsweise zwischen Badezimmer und Badezimmertür. Letztere wird von Sara geöffnet, ihr Kopf schiebt sich in den Türspalt, ein adrettes kleines Gesicht, klar konturiert in einer weißen Rahmung. Jeans Kopf hingegen hat keinen Rahmen und kaum eine Kontur, scheint vielmehr in den warmen Farben, die ihn im Badezimmer umgeben, fast zu verschwinden. Ein Gespräch zweier Liebenden auf engstem Raum, und doch bewohnt jeder der beiden, das ist die bittere, monströse Wahrheit dieser als simple Schuss-Gegenschuss-Montage aufgelösten Szene und auch des gesamten Films, eine eigene Welt.

Lukas Foerster

Mit Liebe und Entschlossenheit - Frankreich 2022 - Avec amour et acharnement - Regie: Claire Denis - Darsteller: Juliette Binoche, Vincent Lindon, Grégoire Colin, Bulle Ogier, Issa Perica, Alice Houri, Mati Diop - Laufzeit: 116 Minuten.