Im Kino

Reich der Fiktionen

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann
23.02.2023. "Wo ist Anne Frank?" Ari Folman hat sie in seinem Anime zum Leben erweckt und ihrer fiktiven Freundin Kitty einen Körper gegeben. Weniger plausibel erscheint der Versuch des Regisseurs, den Holocaust kurzzuschließen mit der Situation von Flüchtlingen, die gerade in Europa ankommen.


xAnnelies Marie Frank wurde 1929 in Frankfurt am Main geboren. Weil die Franks jüdisch waren, verließen sie 1934 Deutschland, um sich schließlich in Amsterdam niederzulassen. Als die Nazis zu Beginn der 1940er auch in den Niederlanden begannen, Jüdinnen und Juden zu verschleppen und zu ermorden, versteckten sich Otto Frank und Edith Frank-Holländer ab 1942 mit ihrer älteren Tochter Margot, der damals 13-jährigen Anne und einigen anderen in einem Hinterhaus in der Prinsengracht 263. Dort blieben sie etwas mehr als zwei Jahre, bis sie - ob das tatsächlich aufgrund eines Verrats geschah, ist bis heute umstritten - entdeckt und nach Auschwitz deportiert wurden. Anne Frank wurde im Februar oder März 1945 im KZ Bergen-Belsen ermordet. Sie wurde nur fünfzehn Jahre alt.

Der Grund dafür, dass sie nach dem Sturz des Naziregimes keines der unzähligen entweder ganz anonymen oder aber unbekannten Opfer des industrialisierten Massenmordes blieb, hat einen Namen: Kitty; Annes imaginäre Freundin, der sie die Briefe schrieb, die sie als Form für das Tagebuch wählte, das sie am 12. Juli 1942 zu ihrem dreizehnten Geburtstag geschenkt bekam und von diesem Tag an bis zum 1. August 1944 eifrig führte.

Das Tagebuch der Anne Frank, dass im Original auf Holländisch geschrieben und 1950 zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt wurde, hat seinen Wert nicht allein darin, dass es ein Zeitdokument über Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden ist, das die Verbrechen der Deutschen aus der Perspektive eines ihrer Opfer wiedergibt; es ist weit darüber hinaus ein bemerkenswertes Stück Literatur eines wissbegierigen und als Schriftstellerin überaus talentierten Teenagers.

Nun hat sich der jüdisch-israelische Filmemacher Ari Folman, der zuvor insbesondere mit dem auf eigenen Erfahrungen als junger Soldat im Libanonkrieg basierenden Animationsfilm "Waltz With Bashir" (2008) auf sich aufmerksam gemacht hatte, daran gewagt, Anne Frank und ihrem bereits mehrmals verfilmtem Tagebuch einen komplett animierten Film zu widmen: "Wo ist Anne Frank?".


Die Prämisse ist zunächst denkbar einfach: Anne Frank musste sterben, Kitty jedoch, ihr Tagebuch, lebt und wirkt weiter. Also macht Folmans Film diese Kitty zu einem eigenständigen Wesen, einem rothaarigen Mädchen, das anders als Anne keine Jüdin ist, und das es ins Amsterdam des Jahres 2021 verschlägt; dorthin, wo Häuser, Brücken und Theater den Namen Anne Franks tragen, um an sie und ihr Leid zu erinnern.

Die personifizierte Kitty ist nicht nur die zweite Protagonistin des Films; sie ist als fleischgewordene Fantasie der Freundin, die Anne Frank in ihrem realen kurzen Leben versagt bleiben sollte, auch die narrative und ästhetische Matrix, mit der sich Folman seiner Vorlage widmet: Das Reich der Fiktionen als bessere Alternative zum Grauen der Menschheitsgeschichte. Nicht von ungefähr führt in "Wo ist Anne Frank?" Clark Gable - einer der Hollywoodstars, die die filmbegeisterte Anne vergötterte, bevor die deutsche Verbotspolitik sie bis an ihr Lebensende daran hinderte, ins Kino zu gehen - auf dem Pferd Armeen von Fabelwesen gegen die Nazis an, die ihrerseits als großgewachsene stämmige uniformierte Ungeheuer mit Totenmasken und Höllenhunden an der Leine dargestellt werden.

Dass die Fiktion eine "alternative Realität" zu den furchtbaren historischen Begebenheiten darstellt, hat "Wo ist Anne Frank?" mit Tarantinos "Inglourious Basterds" gemein. Jedoch geht es bei Folman nicht um eine Rachefantasie, sondern darum, dass das, was den Nazi-Terror schließlich überwindet, die Liebe ist, die nach 1945 bleibt; eine Liebe wohlgemerkt, die insbesondere am Ende als etwas stereotype filmische Vorstellung von Liebe, als "Hollywoodliebe" gekennzeichnet ist.

Dadurch werden die historischen Realitäten von Krieg und Vernichtung zwar nicht in der Art verändert, wie das bei Tarantino geschieht, weniger problematisch macht das den Film aber keineswegs. Das liegt vor allem daran, dass die Filmfigur in der Gegenwart nicht nur auf Peter trifft, also jenen Jungen, mit dem die reale Anne in ihrem Versteck eine zaghafte, jugendlich-verschüchterte romantische Beziehung verband, sondern Folman seinen zweiten Handlungsstrang nutzt, um den Holocaust kurzzuschließen mit der derzeitigen Situation Geflüchteter, die nach Europa kamen, um Verfolgung, Krieg und Perspektivlosigkeit zu entgehen.

Einerseits ist sich Folman der Tatsache, dass das keineswegs ein valider Vergleich ist, durchaus bewusst, und er versucht, die Fallstricke einer solchen Konstellation so gut es eben geht zu umgehen. Andererseits bleibt doch mehr als ein fader Beigeschmack, wenn der Zug, der Familie Frank in den Tod fuhr, assoziativ verbunden wird mit den Fliegern, die Geflüchtete in ihre sogenannten sicheren Herkunftsländer zurückbringen. Bei aller offenkundigen popkulturellen Reflexion, etwa in einigen Szenen, die mit der Ästhetik alter Hollywood-Musicals kokettieren, ist die Geschichte um Kitty, die langsam zu einer modernen Amsterdamer Teenage-Heldin avanciert, zudem in vielem eine gute Spur zu sentimental; was dadurch nicht besser wird, dass Folman versucht, die Geschichte so aufzubereiten, dass sie sich auch für Kinder eignet.

Dass "Wo ist Anne Frank" dennoch insgesamt ein gelungener Film ist, liegt nicht zuletzt daran, dass Ari Folman insgesamt ein ziemlich mutiger Filmemacher ist, der allein mit der finalen Texttafel, in der wir erfahren, dass die Eltern des 1962 geborenen Regisseurs zusammen mit den Franks in Auschwitz ankamen, eine emotionale Wucht entwickelt, die mich zumindest ziemlich umgehauen hat.

Nicolai Bühnemann

Wo ist Anne Frank? - Belgien, Frankreich, Israel 2021 - Regie: Ari Folman - Laufzeit: 99 Minuten.