Im Kino

So kompromisslos

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg
01.02.2023. Der katalanische Regisseur Albert Serra wählte genialerweise Tahiti als Schauplatz einer postkolonialen Fantasie über einen französischen Hochkommissar in champagnerfarbenem Anzug, ein Aufklärer, der freie Spieljetons für alle annonciert und gegen Atomversuche auf der Insel mobil machen möchte. Doch Vernunft und Kontrolle sind bei Serra nur noch eine große "Pacifiction".


Der Katalane Albert Serra ist der Dandy unter den Regisseuren. Seine Filme und Theaterstücke zelebrieren das Dekor, die Libertinage, aristokratische Erhabenheit. Gleichwohl fühlt man sich von ihrer überbordenden Ästhetik immer auch intellektuell herausgefordert. In seinem bizarren Genre-Mix "Geschichte meines Todes" verband er die Geschichten von Casanova und Dracula zu einem Exzess aus Schauer und Schönheit. In dem barocken Kammerspiel "Der Tod Ludwig XIV." setzte er die Agonie des vom Wundbrand verdunkelten Sonnenkönigs in Szene. Drei Stunden lang starb Jean Pierre Léaud, der Prinz der Nouvelle Vague, mit ehrfurchtgebietender Majestät, fast unbewegt unter seiner enormen Perücke, umgeben von ahnungslosen Ärzten und einfältigen Höflingen.

Auch in seinem neuem Film "Pacifiction" zeigt Serra einen Mann, dem die Macht entgleitet, und wieder bietet er einem französischen Schauspieler eine große Bühne: Ein umwerfender Benoît Magimel regiert als ausgebrannter Hochkommissar über Französisch-Polynesien. Sofort fragt man sich, warum der französische Film so zwanghaft um Paris kreist, auch wenn es die schönste Stadt der Welt ist, voller anmutiger Frauen und sensibler Männer, die mit Intelligenz die Liebe neu erfinden wollen. Tahiti als Schauplatz einer postkolonialen Fantasie ist ein Geniestreich.

Im Gegensatz zu Gauguin, der Tahiti in warme, erdige Töne tauchte, hüllt Serra seinen Südseetraum in einen Rausch von Neonfarben. Bei Sonnenuntergang leuchten Tahitis Berge in Rosa und Orange, die Lagune strahlt in hypnotisierendem Blau, die Palmen des Dschungels wiegen sich sanft im Abendwind. Im Nachtklub "Paradiese" tanzen französische Marinesoldaten zu trägen Südseeklängen, die Flotte ist gerade vor Anker gegangen. Der Admiral ist empfänglich für die Schönheit polynesischer Männer, mit ihren herb-anmutigen Gesichtern, ihren ruhigen Bewegungen und ihren faszinierenden Tätowierungen. Das Paradies mag falsch sein, in seiner Dekadenz etwas faulig, aber es überwältigt in seiner geradezu übernatürlichen Schönheit.



Hochkommissar de Roller, Repräsentant der französischen Republik, gibt sich zeitgemäß als Freund und Fürsprecher der Polynesier. In seinem legeren, wahrscheinlich chamapagner-farbenen Anzug und mit seiner rauchblauen Sonnenbrille lässt er sich über die Insel kutschieren und sorgt dafür, dass die Dinge laufen. Er schüttelt Hände, hält ermutigende Reden, trinkt Cocktails. Auch de Roller schätzt die Schönheit der Polynesier, er lässt sich auf Schritt und Tritt von der schillernden Shannah begleiten, die - Privatsekretärin, Hostess und Informantin in einem - seiner fahrigen Energie eine laszive Langsamkeit entgegensetzt. Die Kamera kann sich nicht sattsehen an der tahitianischen Transgender-Schauspielerin Pahoa Mahagafanau, auch wenn sie ein wenig unsicher agiert.

De Roller ist ein Mann der Aufklärung. Wenn sich die Polynesier bei de Roller beschweren, dass sie nicht ins Casino dürfen, dann gibt er dem reaktionären Katholizismus die Schuld und verspricht, den nächsten 14. Juli mit freien Spielmarken für alle zu feiern, um die Werte der Republik hochzuhalten. Dem Pfarrer droht er, die Kirche mit den Einnahmen aus dem Casino zu vernichten. Mit Paris hat er nicht viel zu tun: Den Präsidenten verachtet er, ebenso die politische Korrektheit der bürgerlichen Schichten. Er hat sich die Schriftstellerin Romane Attia an seine Seite geholt, die in ihren Romanen das Schmutzige und Obszöne des Pariser Bürgertums offenbarte. Sie ist wie er ein Freigeist, Verbündete im Kampf gegen Obskurantismus und Puritanismus.

Auch um die Auftritte einer polynesischen Tanztruppe kümmert er sich, bewundert Kostüme, Federn und Kopfschmuck, doch für die Performance eines Hahnenkampfs wünscht er sich mehr Aggressivität in den Gesichtern, mehr Wildheit und Kampfeslust. Die Tänzer und Trommler steigern ihr Drohen, Klappern und Fauchen, am Ende ist der Hochkommissar zufrieden: "Es ist schön, solche Gewalt zu sehen. So kompromisslos."



Aber sein Paradies ist in Gefahr. Auf der Insel kursieren Gerüchte, dass die Franzosen die Atomtests wiederaufnehmen wollen. De Roller kann es nicht glauben. Nach all den Tragödien von Mururoa? Nach all den Verheerungen, die sie über die polynesischen Atolle gebracht haben? Kaum beginnt er mit seinen Nachforschungen, reihen sich seltsame Vorkommnisse aneinander: In einer versteckten Bucht entdeckt er ein U-Boot, ein undurchsichtiger Portugiese taucht auf, ein Amerikaner mit dunklen Absichten treibt sich auf der Insel herum. Und dann ergeht sich der Admiral in finsteren Drohungen, als wäre er ein Wiedergänger von Stanley Kubricks "Doktor Seltsam": "Wir müssen starke Zeichen setzen. Wenn sie sehen, was wir unseren eigenen Leuten antun, wissen sie, wie es unseren Feinden ergehen wird."

Das Unbehagen wächst, doch die Kamera berauscht sich an der Schönheit der Landschaft, der Körper, der Gesichter. In sanfter Trägheit schwappt die Handlung fast drei Stunden dahin wie die Südsee am Palmenstrand, doch auch der Pazifik kann sich imposant aufbäumen: Dann lässt sich de Roller zu den riesigen Wellen fahren, die sich vor Tahitis Küste zu meterhohen Wänden in Türkis aufbauen. Touristen surfen über sie auf Ausflugsbooten, Jet-Skis oder bloßen Brettern. Ein atemberaubendes Spektakel, dem der Film sich einfach hingibt. Ein großer Kinomoment.

Ein Plot entspinnt sich nicht aus diesen Versatzstücken des Polit-Thrillers. Serra ruft die Motive spielerisch auf, die politische Intrige, die Paranoia und die raunenden Andeutungen. De Roller beobachtet, verhört, verfolgt, aber ein Ziel scheint sein Handeln nicht zu haben, die Kamera bekommt seine ruhelosen Aktionen ebenso wenig zu fassen wie seinen Blick. Die hyperrealistischen Bilder brennen sich ein, aber ihre Bedeutung bleibt kryptisch.



Die Dialoge werden dezidiert sinnlos in ihrer Phrasenhaftigkeit, und selbst wenn sich De Roller zu seinem großen Monolog aufschwingt, bleibt die Tiefe nur vorgegaukelt: "Politik ist wie ein Nachtklub, ein Fest mit dem Teufel, Lichter blitzen auf den Gesichtern, aber es herrscht Dunkelheit. Man verliert die Orientierung, den Verstand." De Roller schwört, das Licht in der Diskothek anzuknipsen, aber dann irrt er doch nur ratlos mit einem Scheinwerfer durch die nächtliche Bucht.

Die Vernunft und die Kontrolle sind die große Fiktion, die Serra in "Pacifiction" verabschiedet. Die Cahiers du Cinéma haben ihn zum besten Film des Jahres 2022 gekürt. Die postkoloniale Herrschaft scheint bei ihm nicht fürs Tragische zu taugen, selbst wenn die Menschheit verloren ist und ihrem Untergang entgegengeht, allenfalls für einen verrückten apokalyptischen Trip.

Thekla Dannenberg

Pacifiction - Frankreich 2022 - Regie: Albert Serra - Darsteller: Benoît Magimel, Pahoa Mahagafanau, Marc Susini, Matahi Pambrun u.a. - Laufzeit: 163 Minuten.