Im Kino

Kurs der Kopfgelder

Die Filmkolumne. Von Sebastian Markt
23.03.2023. Chad Stahelskis Actionfilm um den Auftragskiller "John Wick 4"  setzt auf eine eigenwillige Ethik des Handwerks, die immer dann an ihre Grenzen gerät, wenn Gefühle die herrschende Amoral durchbrechen.


2014 drehte der Stuntman und Stuntchoreograph Chad Stahelski - zusammen mit Co-Regisseur David Leitch - seinen ersten Spielfilm. Stahelski, der 1999 beim Dreh von "The Matrix" als Stunt Double von Keanu Reeves gearbeitet hatte, inszenierte letzteren dort als traurigen, ehemaligen Auftragskiller, der nach dem tragischen Krankheitstod seiner großen Liebe nicht mehr viel von der Welt wissen will, schon gar nicht von dem Teil, der zu seiner ehemaligen Berufstätigkeit gehört. Weil man ihn aber von den einzigen Dingen trennt, die ihm noch etwas bedeuten: seinem Auto und dem Hund, der das letzte Geschenk seiner sterbenden Frau war, begibt er sich auf einen Rachefeldzug, der ihn wieder mitten in das Universum der Unterwelt führt, von dem er sich ein für alle Mal abgewandt zu haben meinte.

Diese Unterwelt schilderte "John Wick" als einen neongrell schillernden Schattenwurf der real existierenden Welt, scheinbar in sich geschlossen und losgelöst von jeder zivilen Sphäre, zusammengehalten von einem Regelsystem, das der Gewalt eine Ordnung geben soll. Ein Hoher Rat, dem Vertreter der mächtigsten familiär strukturierten kriminellen Organisationen angehören, wacht über ihre Einhaltung und sanktioniert Regelbrüche, eine Reihe von Hotels dienen als Stützpunkte und temporäre Zufluchtsorte, eine Infrastraktur aus Dienstleistern steht den Killern zur Verfügung, bezahlt wird mit Goldmünzen. Wie überhaupt ein technologischer Atavismus diese Welt kennzeichnet: mit Blut besiegelte Verträge, Fernschreiber und Kreidetafeln, auf denen der aktuelle Kurs der Kopfgelder festgehalten wird.



Faszinierender als der in comichafter Deutlichkeit geschilderte Weltentwurf war (und bleibt) an der mit mittlerweile zum Franchise angewachsenen Reihe (neben weiteren Fortsetzungen sind auch Spin-Offs und eine Fernsehserie in Arbeit) ihre Präferenz für lange Einstellungen. In diesen wird die Energie der maßlos brutalen Kampfszenen und Verfolgungsjagden nicht durch treibende Montageeffekten, sondern als ein sorgsam choreographiertes Ballett kämpfender Körper in einer physischen Welt nachvollziehbar gemacht. Dabei wird immer wieder der Kipppunkt erreicht, an dem die Gewalt sich in einer ans Abstrakte reichende Bewegungskunst auflöst - die, zumindest gemessen an den Industriestandards, weitgehend ohne CGI-Unterstützung auskommt.

Der vierte Film der Reihe, oder wie es die narrative Eigenlogik meint: das vierte Kapitel der Saga schließt unmittelbar an das Ende des dritten Teils an. John Wick ist nach unverzeihlichen Regelverletzungen aus der ehrenwerten Gemeinschaft der Berufskiller exkommuniziert, die Infrastruktur der organisierten Unterwelt steht ihm nicht mehr zur Verfügung, und stetig steigendes Kopfgeld winkt, wem es gelingt, ihn ein für alle Mal zu erledigen. Ein neuer Kontrahent (Bill Skarsgård, mit einem dem Gesamtsetting angemessen komisch überzeichneten französischen Akzent) stellt nicht nur eine neue Gefahr dar im Dickicht der Regeln, die der Hohe Rat diktiert, sondern eröffnet John Wick auch eine Möglichkeit, seinem Status als Vogelfreier doch noch zu entkommen. Die Einsätze sind dementsprechend hoch.



"John Wick 4" ist nicht nur in seiner fast dreistündigen Laufzeit episch angelegt, neben dem Titelheld erhalten eine Reihe von Nebenfiguren ihre eigenen Handlungsstränge und Schicksalsbögen. Hiroyuki Sanada etwa spielt den Inhaber eines japanischen Continental Hotels, dessen persönliche Loyalität zu John Wick ihn schnell in Konflikt mit der Exekutive des Hohen Rats bringt. Die Struktur des Films spinnt sich aus einer Abfolge handlungstreibender Szenen, die die Konflikte der Figuren entfalten, und ausufernden Action Set-Pieces.

Set Pieces, wie da wären: Ein (selbstredend fiktiver) Berliner Club, in dem die Zweikämpfe sich inmitten weitgehend unbeeindruckt bleibender Party People abspielen, eine ausufernde Schießerei mitten im Kreisverkehr um den Arc de Triomphe, dessen Verkehr währenddessen ausdrücklich nicht zum Erliegen kommt, ein Gefecht vor dem letzten Gefecht, bei dem sich John Wick, als ein ganz besonderer Sisyphus gegen ein Unzahl von Gegnern minutenlang die Treppen des Montmartre hoch- und runterkämpft. Und schließlich ein Duell, dessen Epik dem Western huldigt. (Zwischendurch wird die Jagd auf Wick in einem Unterwelt-Radiosender kommentiert, der den Namen Wuxia trägt.)

Im Ergebnis ist "John Wick: Kapitel 4" ein Actionfilm, der das, was die Reihe an kinetischer Brillianz schon bisher auszeichnete, mit ausgefalleneren Locations und höherem Budget fortsetzt, und dabei aber insbesondere daran interessiert ist, die dramatische Fallhöhe der Motivationslagen seiner Figuren noch zu steigern. So wird der Film selbst zu einem Bild für den Ort, den er im aktuellen Genrekino einnimmt. Wie die kunstfertig mordenden Figuren, und das auf überholte Technologien setzende Gefüge ihrer Regulierung, glaubt der Film an eine eigenwillige Ethik des Handwerks, das immer dort an seine Grenzen stößt, wo die doch aufbrechenden Motive persönlicher Bindungen, Gefühlslagen und Verantwortlichkeiten die herrschende Amoral in Frage stellen. Ein System, dessen Eigenlogik sich fließend entfaltet, solange die Sinnfrage nicht allzu nachdrücklich von außen herangetragen wird.

Sebastian Markt

John Wick: Kapitel 4 - USA 2023 - OT: John Wick: CHapter 4 - Regie: Chad Stahelski - Darsteller: Keanu Reeves, Donnie Yen, Bill Skarsgård, Ian McShane, Shamier Anderson - Laufzeit: 169 Minuten.