Im Kino

Obligatorische Liebesfragen

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Sebastian Markt
19.04.2018. Greta Gerwigs grandioser Debütfilm "Lady Bird" erzählt eine klassische Coming-of-Age-Geschichte mit kleinen Abweichungen und weigert sich, seine Figuren als Durchlaufstationen einer Selbstfindung zu funktionalisieren. In Eugene Jareckis Elvis-Dokumentarfilm "The King" geht es ums große Ganze.


Als Erzählungen darüber, wie Leute werden, was sie sind, stellen Coming-of-Age-Geschichten wohl eine archetypische Form des Erzählkinos dar. Es sind Geschichten, die exemplarisch erlauben, die Linien eines Lebens teleologisch in eine Dramaturgie einzutragen, die Auflösung verspricht, in der eins zum anderen führt, die ausgemachten Klippen der Selbstfindung umschifft werden, und am Ende eine Figur steht, die bei sich und in der Welt zu Hause ist, oder zumindest die Aussicht darauf in den Blick bekommt. In dem Versprechen der so konfigurierten Erzählung, die mehr und weniger alltäglichen Verknotungen von Selbstentwürfen in ein erreichbares Ziel aufzulösen, liegt zugleich ihre größte Gefahr: Nur allzu leicht ergehen sie sich in Tautologien der Identität.

Das Coming of Age von Lady Bird, so wie Greta Gerwig es in ihrem Solo-Debüt als Regisseurin und Autorin erzählt, beginnt mit einer anderen Verbildlichung einer narrativer Reise und setzt ihr sogleich ein abruptes Ende. Mutter (Laurie Metcalf) und Tochter (Saoirse Ronan) sitzen nebeneinander im Auto, auf dem Rückweg von der Besichtigung der staatlichen Universität, die nach Maßgabe der familiären Finanzlage der wahrscheinlichste Studienort für die Tochter sein wird. Als die letzten Absätze von Steinbecks "Grapes of Wrath" aus dem Kassettendeck erklingen, sind Mutter und Tochter für einen Moment in Ergriffenheit vereint. Für einen Moment, der nicht lange währt, weil Christine - die darauf insistiert, nicht bei ihrem Geburtsnamen, sondern dem selbstgewählten Namen Lady Bird genannt zu werden - auch in der Frage der Collegewahl andere Wege als ihre Mutter vor Augen hat. Sie will an die Ostküste, New York City, "wo die Kultur ist" oder zumindest nach New England, wo "Schriftsteller*innen im Wald leben". Darüber entzündet sich in Windeseile ein mit harten Bandagen geführter Streit, dem sich  Christine schließlich durch einen Sprung aus dem fahrenden Auto entzieht.

Die Szene enthält in nuce die Motive und setzt den Ton, für das was folgt: Eine junge Frau im Weichen stellenden letzten Jahr der High School, zwischen Sehnsüchten nach einem inneren und äußeren Anderswo, eingebunden in alte und neue Beziehungen und den notwendigen Entscheidungen und Konsequenzen beim Finden eines eigenen Weges. Und eine zärtliche Komik, die dem emotionalen Dilemma (mit dem hier immerhin eine quasisuizidale Geste einhergeht) nichts von seiner Schärfe nimmt, aber den Blick auf die Situation verdoppelt.



Diese Christine, die eine andere werden möchte, lebt mit ihren Eltern und ihrem Adoptivbruder, der das College schon hinter sich hat, im kalifornischen Sacramanto, zeitlich zwischen 9/11 und Irakkrieg, und bereitet sich mit ihrer besten Freundin Julie (Beanie Feldstein) auf den Abschluss der Highschool vor. Eher aus Trotz schreibt sie sich in die Theatergruppe der Schule ein. Die nicht allzu aussichtsreichen Bewerbungen auf deutlich kostenintensivere Liberal Arts Colleges an der Ostküste, bei der sie der gutherzige, aber von plötzlicher Arbeitslosigkeit schwer gebeutelte Vater unterstützt, werden erst einmal vor der Mutter geheim gehalten.

"Lady Bird" will das Coming-of-Age-Kino nicht neu erfinden, hat im Gegenteil sichtliche Freude an dessen Prämissen und Formen. Als Film in einem Genre, in dem sonst vorwiegend von der Selbstfindung männlicher Helden erzählt wird, setzt Gerwig einige sanfte aber deutliche Abweichungen. Die obligatorischen Liebesfragen existieren, aber die beiden Jungs, deren Wege Lady Bird in der High School kreuzt, wachsen sich nicht zu einer Frage nach dem It- und dem Realboy aus. Am Ende wird Lady Bird beide, Lucas Hedges als Theater-Nerd, der in seiner Begeisterung für das Spiel anderes sublimiert, und Timothée Chalamet als in seiner Coolness gefangenen Rocker, ihre eigenen Wege gehen lassen - von denen sie ohnehin zu sehr beansprucht sind, um sich für eine andere Person zu öffnen. Die Beziehung, an der sich tatsächlich Loyalitätskonflikte auf dem Weg in die selbstgewählte Zukunft entzünden, ist hingegen die zu ihrer besten Freundin Julie. Die Prom Night, eine Standardtrope amerikanischer Adoleszenz, dreht sich folgerichtig nicht um die Frage nach dem richtigen Typen, sondern um das Verhältnis zu ihr.

Bei all dem vermeidet Gerwig konsequent, die Charaktere in Lady Birds Leben als dramaturgische Durchlaufstationen einer Selbstfindung zu funktionalisieren. Gegen eine Variante des Coming-of-Age-Kinos, das in seiner zugespitztesten Form die Projektion eines männlichen Egos auf die Welt nachzeichnet, setzt Gerwig einen Blick auf die Aggregatszustände eines jugendlichen Selbstentwurfs, der in einem Kräftefeld aus Beziehungen steckt. Kaum eine Szene, die nicht aus Lady Birds Perspektive erzählt ist, aber doch bleibt immer wieder Zeit, das Bild einen Moment länger zu ziehen, den sorgenvollen Blick der Mutter auf die schlafende Tochter zu zeigen oder die Gestik eines verwirrten Freundes, um den Szenen ex post noch neue Dimensionen hinzuzufügen.



Die kleinen Umwege, die der Film in der Schilderung von Lady Birds Reise geht, um der Eigenlogik seines peripheren Personals zu folgen, beschert eine ganze Reihe an bemerkenswerten Charakterminiaturen. Ein theaterverliebter Pater etwa, der an seiner Einsamkeit zu zerbrechen droht, und für einen Moment bei der als Krankenschwester arbeitenden Mutter von Lady Bird Gehör findet. Oder der Footballcoach, der dessen Platz als Regisseur des Schultheaters einnimmt. Seine Regieanweisungen speisen sich aus der Methodik eines Feldherren der Footballtaktik, Bob Stephenson spielt die Überforderung seiner Figur mit einem herzzerreißenden, gegen die eigenen Verunsicherung gerichteten Enthusiasmus. Dass der Witz die Figuren nicht preisgibt, sondern eine solidarische Geste birgt, liegt daran, dass Gerwigs Komik im Kern ein distanzierter und sehnsuchtsvoller Blick auf sich selbst ist.

In der volatilen Beziehung zwischen Mutter und Tochter findet der Film sein erzählerisches Rückgrat und verdoppelte die Geschichte vom Aufbrechen aus einem Leben, das zu wünschen lässt, in eine Geschichte vom Loslassen. Und in eine über das Zurückbleiben in einem nicht idealen Leben. Den wohlbekannten Abschiedsmoment am Flughafen, wenn zwischen Liebenden doch noch in letzter Minute ausgesprochen wird, was nicht ungesagt bleiben darf, variiert Gerwig mit einer doppelten Pointe: Die Beziehung um die es geht, ist die zwischen Mutter und Tochter, und ausgesprochen wird gar nichts.

Sein Ende findet der Film, sinnfällig, in der Huldigung eines Blicks, der die Straßen und Orte Sacramentos, jener Stadt, die er zuvor als weiteren Charakter historisch und sozial zu verorten suchte, in der Rückschau in ein warmes Licht taucht. Der Blick auf die Welt hat die Macht, sie zu ändern. Vorsichtige Aussöhnung, ein Gleichgewicht ist hergestellt und alle Fragen offen. Lady Bird forever.

Sebastian Markt

Lady Bird - USA 2018 - Regie: Greta Gerwig - Darsteller: Saoirse Ronan, Laurie Metcalf, Tracy Letts, Lucas Hedges, Timothée Chalamet, Beanie Feldstein, Lois Smith, Bob Stephenson - Laufzeit: 94 Minuten.

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Wer ein Denkmal demontieren will, muss es erst einmal aufrichten. "The King", ein Dokumentarfilm von Eugene Jarecki, nimmt sich etwa fünf Minuten, um die herausragende Bedeutung Elvis Presleys für die amerikanische Populärkultur zu verdeutlichen. Dabei sind verschiedene Elvis-Statuen zu sehen, eine davon in seiner Geburtsstadt Tupelo, Mississippi. Nach dieser Exposition tritt der Filmemacher eine Reise mit Elvis' Rolls Royce an, bei der er die Stationen im Leben des Stars abfährt - 40 Jahre nach dessen Tod in Memphis, Tennessee. Auf dem Rücksitz nehmen unter anderem Ethan Hawke, Ashton Kutscher und Alec Baldwin Platz.

Weil es ums große Ganze geht, weil der Film nicht weniger will, als anhand der Biografie Presleys ein Panorama der Geschichte der USA zu entwerfen, dauert er 110 Minuten und wurde im für Dokumentarfilme unüblichen Scope-Format gedreht. Neben dem weißen Prekariat in Tupelo, das die Ansicht vertritt, dass Amerika wahrlich bessere Zeiten erlebt habe, kommt dabei auch ein Elvis-Kritiker wie Chuck D. von der Rap-Formation Public Enemy zu Wort, der einst in "Fight the Power" harte Worte gegen den "King" richtete.

Indem er die Einflüsse afroamerikanischer Musiker wie Chucky Berry auf Elvis untersucht, bindet der Film Presley in heutige Diskurse ein, etwa um den der kulturellen Aneignung. Chuck D. gibt seinerseits unumwunden zu, welch großen Einfluss die Beastie Boys auf Public Enemy hatten. Die Meisterschaft Jureckis, der hier seinen zehnten Dokumentarfilm seit 2000 vorlegt, besteht darin, dass es ihm gelingt, Themen wie den Genozid an der indigenen Bevölkerung des Landes, den Sklavenhandel und einen dialektischen Geschichtsbegriff, in dem Demokratiehoffnungen zu Trump führen, mit anderem Material aufzulockern und dabei doch stets fokussiert zu bleiben. So darf etwa an entscheidender Stelle Patti Page "How much is that doggie in the window?" singen.



Es geht außerdem um den Soldaten Elvis Presley, der in der Zeit des Kalten Krieges einberufen wird. Unmittelbar zuvor war seine Mutter gestorben und er an seinem persönlichen Tiefpunkt angelangt. Auch die Zeit seiner Stationierung in Deutschland von 1958-60 wird thematisiert. Die USA befinden sich auf dem Gipfel ihrer Macht, während Presley bei der Armee das erste Mal mit Amphetaminen in Berührung kommt. In den Sechzigern etabliert er sich als Hollywood-Star. Die Interviewten im Film werfen ihm mangelndes Engagement für die Bürgerrechtsbewegung vor. Seine Meinung zum Krieg in Vietnam behält er lieber für sich. Nebenbei spannt Jurecki einen Bogen über die amerikanische Filmgeschichte der letzten paar Dekaden, indem er den berühmten Monolog aus Lumets "Network" (1976) - Geld regiert die Welt - parallel montiert zu Leonardo Di Caprio in Scorseses "The Wolf of Wall Street" (2013). Das Ergebnis der Wahlen von 2016 steht noch aus.

Im Rolls-Royce geht es unterdessen weiter auf den Spuren von Elvis, dem Sinnsucher, der sich mit Dichtung und Philosophie auseinandersetzt. Im ländlichen Amerika, das dabei durchquert wird, geht es um den fallenden Mindestlohn beim gleichzeitigen rapiden Anstieg der Lebenshaltungskosten. Ab 1969 lebt Presley in Las Vegas. Jurecki kommt noch einmal auf Scorsese zurück, dessen Meisterwerk "Casino" (1996) auf wahren Begebenheiten aus dieser Zeit basiert. Elvis stirbt am 16. August 1977 an Übergewicht und seiner Tablettenabhängigkeit. Am 20. Januar 2017 wird Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA ernannt. In einer letzten dialektischen Volte versucht Jurecki Pop und Politik auseinander zu dividieren, indem er von Elvis' Engagement für die Ureinwohner des Kontinents berichtet. Die Geschichte geht weiter. Das ist die gute Nachricht.

Nicolai Bühnemann

The King - Mit Elvis durch Amerika - USA 2017 - OT: Promised Land - Regie: Eugene Jarecki - Laufzeit: 110 Minuten.