Im Kino

Es bleibt eine Habitusdifferenz

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Ekkehard Knörer
24.04.2019. In Stephane Brizes "En guerre" spielt Vincent Lindon wieder einen von Arbeitslosigkeit Bedrohten. Aber diesmal lässt er sich nichts gefallen und organisiert einen Streik. Das ist brillant gespielt und pseudodokumentarisch gefilmt. In Roger Michells "Tea with the Dames" trinken Judi Dench, Maggie Smith, Joan Plowright und Eileen Atikins ein Tässchen Tee, plaudern über alte Zeiten und zeigen, dass sie ihren Shakespeare immer noch aus dem Effeff beherrschen.


Viel Spielraum gibt es von Anfang an nicht. Die Fabrik für Autoteile in Agen, Teil der Gruppe Perrin im deutschen Konsortium Dimke, soll dichtgemacht werden. Sie ist profitabel, aber nicht profitabel genug und kann im globalen Wettbewerb, so argumentiert Dimke, nicht mehr bestehen. Es geht um 1100 Jobs in einer strukturschwachen Region, ziemlich genau in der Mitte zwischen Toulouse und Bordeaux. Es gab einen Deal, das ist zwei Jahre her, die Arbeitenden haben auf Geld verzichtet, aber der Deal soll jetzt nicht mehr gelten. Sie treten in Streik.

Die Masse der Streikenden findet rasch einen Kopf, einen Körper, eine Stimme, die für sie spricht: Laurent. Ein Mann, noch in seinen besten Jahren, voller Kraft, eine Präsenz, mitreißend für die eigene Seite, ein energischer und zugleich elastischer Widerstand für den Gegner. Es ist nicht unwichtig, dass dies der Körper, die Stimme von Vincent Lindon sind; über den Darsteller schließt "En guerre" erst einmal direkt an Stéphane Brizés viel beachteten Film "Der Wert des Menschen" von 2015 an. (Dass dazwischen die sehr gelungene Maupassant-Verfilmung "Ein Leben" liegt, ohne Lindon, zeigt die enorme Vielseitigkeit des Regisseurs.)

In "Der Wert des Menschen" war Lindon der Langzeitarbeitslose Thierry, einer, dessen Widerstandskraft fast zermürbt war, nach Entlassung, Jobsuche, sinnloser Umschulung, dann einem Job, der von ihm verlangt, einer zu sein, der er nicht ist - so dass zwischen Arbeitslosigkeit und Arbeit die Differenz nivelliert ist. Vielleicht nicht so sehr, weil es kein richtiges Arbeitsleben im falschen Wirtschaftssystem gibt, sondern weil Thierry in eine Situation gerät, in der nicht der Mensch das Maß gibt, sondern das System, in das sich der Mensch einpassen muss, ob er will oder nicht.

Laurent will nicht. Darum zieht er in den Krieg, für sich, für die anderen. Er kämpft um seinen Job, ja, das sicher auch; er ist solidarisch mit den Kolleginnen und Kollegen, das ebenfalls; da ist aber etwas anderes, ein Surplus, der als Energie eigenen Rechts überwältigt, aber immer wieder aus der Kontrolle zu geraten droht: Laurent kommt, vermutlich zu seinem eigenen Erstaunen, aber dieses Erstaunen sehen wir nicht, als Kämpfer für die anderen ganz zu sich selbst. Er hat Kraft, aber andere Kräfte fliegen ihm zu. Wo Thierry durch Widerstände zermürbt ist, schöpft Laurent aus dem Widerstand und dem Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein, Energie.

Wieder und wieder zeigen Brizé und sein Kameramann Eric Dumont (derselbe wie bei "Der Wert des Menschen") Laurent in Szenen der Konfrontation: mit der Leitung der Fabrik vor Ort, in Mediationsgesprächen, unterstützt von der arbeitnehmerfreundlich agierenden Politik, die aber jede direkte Einmischung ins Geschäftliche verweigert, dann, einer Eskalationslogik folgend, beim Marsch auf die französische Firmenzentrale, beim solidarischen Streik in der nicht zur Schließung bestimmten Schwesterfabrik - immer wieder diskutierend, aushandelnd, die Eskalation an Grenzen treibend. Es kann nicht gut gehen, die Solidarität unter den Arbeiter*innen gerät ins Wanken, dennoch erzielen die Streikenden Geländegewinne, die kaum möglich schienen.



In all diesen Szenen ist der Körper Laurents als der präsenteste Körper inszeniert; immer sind die anderen Streikenden kopräsent oder als durch diesen Körper repräsentiert mitgedacht. Es bleibt aber etwas Eigentümliches an der Methode des Films. Einstellung für Einstellung gibt er sich pseudodokumentarisch: Hektik, Handkamera, Turbulenz, auch in den Szenen abseits der Verhandlungssituation, beim Trinkspiel mit Zungenbrecher zum Beispiel ("nousnousnedesolidarisonspas"), dazwischen Fernsehbilder, sich steigernd zu Kampf und Tumult. Dazwischen ändert sich immer wieder nicht die Art dieser Bilder, aber der Modus ihrer Präsentation: Der Ton wird weggedreht, elektrisch verstärkte basslastige Musik (des Jazzmusikers Bertrand Blessing) pulsiert aggressiv, die Handlung des Films steht für Momente still, wenn der starke Arm des Regisseurs es will.

Was so dokumentarisch anmutet, ist natürlich am Set hergestellt, die Impulse der Kämpfenden sind es, die Wut, der immer drohende Kontrollverlust empörter Stimmen und Körper. Das entwickelt seine Wucht, ist gut und überzeugend gemacht, aber es bleibt immer etwas Irritierendes an der Herstellung solcher dokumentarischer Effekte. Brizé hat unter die professionellen Darsteller*innen Laien gemischt. Zwei von ihnen tragen im Film ihre richtigen Namen, darunter der Firmenchef von Dimke Martin Hauser. Er ist im richtigen Leben allerdings kein Boss, sondern im Gegenteil ein hoch angesehener Anwalt und Mediator. Er kennt die Sphäre, als deren Vertreter er hier nun agiert, aber es bleibt eine Habitusdifferenz.

Er macht das gut, sie machen das beide gut, aber es verstärkt sich der Verdacht, dass in der filmischen Rekreation und Imagination, dem sicher von spontanen Impulsen der Darsteller*innen durchzuckten Nachspielen eines Arbeitskampfs alles schon ungefähr hinkommt: die Wut, die Argumente, die Stimmen, die Körper. Dennoch bleibt das Ungefähre ein Problem. Am stärksten eben doch beim Protagonisten: Vincent ist nicht (einfach) Laurent, vielmehr ist die kraftvolle und ihrerseits mitreißende Art, wie Lindon sich in die Rolle dieses Arbeiters Laurent hineinwirft, ein Schauspiel eigener Art. Das kommt zu den Energien also noch hinzu: Lindon spielt einen Mann, der in diesem Spiel zu sich selbst kommt, was auch heißt, dass er einen Schauspieler spielt, der überm Spiel die Rolle - vielleicht: fast - vergisst. Das ist Virtuosentum, das brillant gemacht ist, auch weil es sich keineswegs selbst noch einmal ausstellt. Und doch bleibt die Frage, ob die falschen Töne in einem solchen Fall nicht, und zwar notwendig, überwiegen.

Ekkehard Knörer

En guerre - Frankreich 2018 - Regie: Stéphane Brizé - Darsteller: Vincent Lindon, Mélanie Rover, Jacques Borderie, David Rey, Olivier Lemaire, Isabelle Rufin - Laufzeit: 113 Minuten.

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Kann man so hohe Dichtkunst wie Shakespeare natürlich vortragen? Was ist überhaupt Natürlichkeit? Die Konstellation, in der Judi Dench, Maggie Smith, Eileen Atkins und Joan Plowright im Gesprächsfilm "Tea With The Dames - Ein unvergesslicher Nachmittag" zusammenkommen, begünstigt die gleiche Frage. Die vier würden sich als Freundinnen regelmäßig treffen und diesmal eben Kameras hereinlassen, erklärt eine Stimme aus dem Off. Aber die Selbstverständlichkeit, die diese Stimme suggeriert, gibt es in der gezeigten Szene nicht.

Von Anfang an ist vielmehr ein kompletter technischer und personeller Trosses ständig präsent. Die vier Protagonistinnen posieren im Garten für ein Gruppenfoto - ihnen gegenüber die Fotografen und das Filmteam, dazu Assistentinnen und Angehörige, die beispielsweise der erblindeten Plowright über Türschwellen und Treppenstufen helfen. Später zieht die ganze Entourage um an einen weiß gedeckten Tisch. Das enge Zimmer unter einem abgeschrägten Dach lässt nicht gerade viel Raum für Experimente mit Kamerabewegungen und Einstellungsgrößen oder zumindest weiß der Regisseur Roger Michell ihn nicht sonderlich zu nutzen. Nichtsdestotrotz drängt sich das Bühnenhafte immer wieder hinein: Die Fragen, die Michell von außerhalb des Bildkaders stellt, das Zögern der Frauen beim Beantworten der Fragen, bis die Situation rein gar nichts mehr von einem unbekümmerten Gespräch unter Freundinnen hat. Dafür aber gelegentlich das Tantige eines Kaffeekränzchens und manchmal erinnern Dench, Smith, Plowright und Atkins auch an unnahbare Krähen. Wenn sie etwa dem Setfotografen höflich, aber direkt zu verstehen geben, dass seine Gegenwart nicht mehr erwünscht ist. Vielleicht kommt mit dem fortschreitenden Alter irgendwann diese Selbstverständlichkeit im Umgang mit den eigenen Impulsen. Die Gewissheit, nicht mehr allen gefallen zu müssen.

Wie stark die Vier gealtert sind, macht das großzügig dazwischengeschnittene Archivmaterial deutlich: Die Empfänge im Buckingham Palace, bei denen sie alle zu Dame Commanders of the British Empire erhoben wurden, Interviews, Fotos, seltene Mitschnitte von Bühnenauftritten und Spielfilmschnipsel. Vielleicht ist dieser Part das Bemerkenswerteste an "Tea With The Dames": Dass man gewissermaßen dabei zuschauen kann, auf welch beunruhigende, aber auch faszinierende Weise sich die menschliche Masse verformt, wie über die Jahre Gesichtszüge ausbeulen, Symmetrien verrutschen.

Im direkten Kontrast dazu steht die perfekte Illusion, die Judi Dench und Maggie Smith, Joan Plowright und Eileen Atkins symbolisieren. Die immer noch Shakespeare und die Stücke, die sie zum Teil vor Jahrzehnten spielten, aus dem Effeff zitieren können. Die sich auch nach all der Zeit noch an Laurence Olivier abarbeiten, dem absoluten Maß englischer Schauspielkunst, mit dem sie alle vielfach auf der Bühne oder vor der Kamera standen. Formal gehört "Tea With The Dames" sicher zum Durchschnitt, die Perspektiven seiner Protagonistinnen heben den Film trotzdem aus der Masse heraus. Wenn sich Judi Dench und Maggie Smith etwa über die Theaterschminke unterhalten, deren Sorten sie früher mischen mussten, weil weder die für Frauen noch die für Männer richtig passte. Wenn sie über die Urteile sprechen, die einst über ihr Aussehen gefällt wurden, denen sie bestimmte Rollen zu verdanken hatten, zugleich aber auch Selbstzweifel und Ängste. Langsam werden die Erinnerungen löchrig, zusammengenommen ergeben sie aber nach wie vor eine Art übergreifendes Gedächtnis.

Katrin Doerksen

Tea With the Dames - Ein unvergesslicher Nachmittag - Großbritannien 2018 - OT: Nothing Like a Dame - Regie: Roger Michell - Laufzeit: 84 Minuten.