Im Kino

Unterschiedlich gealterte Kinokörper

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann, Lukas Foerster
17.04.2019. Es gehört zu den Qualitäten von Andreas Goldsteins Doku über den DDR-Funktionär Klaus Gysi, dass er Auftritte als Auftritte behandelt und in ihnen zugleich keine Maskerade sehen will. In John Lee Hancocks Spätwestern "The Highwaymen" zeigen Kevin Costner und Woody Harrelson schon durch die Art, wie sie ihre Hüte zurechtrücken, dass sie geborene Westerndarsteller sind.
Klaus Gysi und sein Sohn Andreas


"Manche Filme sind wie Bestattungen", hat Andreas Goldstein in einem Interview gesagt, und in bestimmtem Sinne ist das ein aufschlussreicher Satz. Er ist es dann, wenn man die Bestattung nicht als einen Vollzug, sondern als einen Versuch des Abschieds begreift. Nicht als Fazit, sondern als Anlass, der danach verlangt, sich zu einer Person in Beziehung zu setzen, zu der eine Beziehung nicht unbedingt bestanden hat. Nicht als Moment der Klärung, sondern als Frage an eine Vergangenheit, die immer mehr ist als nur diejenige der einen Person. Ein Anlass zur Trauer ist die Bestattung vermutlich auch, aber so wenig, wie die Trauer mit der Bestattung endet, ist davon auszugehen, dass sie erst mit ihr beginnt.
 
Klaus Gysi, der Funktionär, auf den sich der Titel dieses Films bezieht, starb 1999. Der erste Tote, den er gesehen habe, sagt Regisseur Goldstein im Voiceover, während Gysi selbst viel davon erzählte, dass er seinen ersten Toten bereits im Alter von fünfzehn Jahren sah, vom Fenster aus, mit Blick auf die Straße, wo die Berliner Polizei gerade einen Kommunisten erschossen hatte. "Der Funktionär" beginnt mit diesen beiden Toten, genauer: mit der Erzählung von den Toten, die auf diese Weise zum Movens und zur Bedingung des Erzählens werden. Dass der tote Kommunist in den Erzählungen seines Vaters auch die Funktion einer Antwort übernommen habe, formuliert Goldstein beinahe en passant: Antwort auf ein Leben im Dienste des Kommunismus, der Partei, des sozialistischen Staates, dem die Antworten langsam ausgingen, als manches andere noch eine Weile verfügbar war und man sich vor allem damit befasste, den Status quo zu perpetuieren.
 
"Der Funktionär" ist ein karger Film. Allerdings hat diese Kargheit nichts mit der etwas eitlen Strenge gemein, die etwa Thomas Heises "Heimat ist ein Raum aus Zeit" kennzeichnet, der ein paar Monate nach der Premiere von Goldsteins Film auf dem Festival DOK Leipzig im Programm des Forums auf der Berlinale präsentiert wurde. Der Film von Heise, noch eine deutsche Geschichte, in der Väter und ihre offiziellen Funktionen eine gewisse Rolle spielen, hat etwas von einem Erziehungsprogramm: kein Bild, kein Wort zu viel, nichts geschenkt und nichts vermittelt; eine spröde, perfekt montierte Partitur aus Schriftzeugnissen, Filmaufnahmen, ein paar Fotos, während die Stimme aus dem Off (auch hier ist es diejenige des Regisseurs) vor allem als Stimme eines Lesers figuriert.
 


Anders als diese programmatische Knappheit erscheint die Reduktion der Bilder und Sätze in dem Film "Der Funktionär" auch als Dokument der Behelfsmäßigkeit. Als sei dieses Material: Fotos, Videos, Mitschnitte, eben das, was noch vorhanden war. (Materialverhältnisse: Wollte man die Politik der Reduktion in beiden Filmen in einen Satz fassen, so wäre zu sagen: In "Heimat" agiert Heise als einer, der nicht mehr zur Verfügung stellt, Goldstein in "Der Funktionär" hingegen als einer, der nicht mehr zur Verfügung hat. Das ist eine Frage des Gestus, keine der Materiallage.)
 
Von der sehr öffentlichen Person, die Klaus Gysi in der DDR gewesen ist, existieren diverse Aufnahmen. Eine der letzten, ein Gespräch mit Günter Gaus im Jahr der so genannten Wende 1990, ist in den ersten Minuten des Films zu sehen. Später folgen Mitschnitte von Ehrungen, Gesprächsrunden, Communiqués, Zeugnisse einer sozialistischen Karriere, die unter anderem an den Posten und Ämtern des Verlagsleiters, Botschafters, Ministers, Staatssekretärs entlangführte und dennoch nicht ohne Brüche verlief. Die Auftritte des Funktionärs, sein Sprechen, Lächeln, Agieren als Vertreter einer Partei und eines Staats, verfolgt Andreas Goldstein anhand der Bilder, die er gesichtet hat und kommentiert: mit einer Anmerkung zur Sprechweise, einer Beobachtung zum Gebrauch der Rede oder zur Dramaturgie des Gesprächsverlaufs. Es gehört zu den Qualitäten dieses Films, dass er Auftritte als Auftritte behandelt und in ihnen zugleich keine Maskerade sehen will. Es ist der Auftritt, der die Kohärenz der Figur, der Rolle produziert: "Der Funktionär" entwickelt daraus ein Szenario der distanzierten Betrachtung oder wenigstens als eines, mit dem er das Versprechen der Distanznahme verknüpft.
 
Außerhalb der Fernsehmitschnitte sind die Bilder oft unbevölkert. Allenfalls werden sie von einigen Passanten durchquert, die gleich wieder aus dem Bild verschwinden. In den Aufzeichnungen: aus einem Fenster, an einer Straßenecke, in einem Wohngebiet, erscheint die Stadt Berlin seltsam unbehaust. 1990 unterscheidet sich da nicht besonders von 2017 oder 2018, und in den Schwarzweiß-Fotos aus den Jahren um 1970, 1980 ist die Welt ohnehin stillgestellt. Es gibt viele Fotos in "Der Funktionär", oft von Goldstein selbst aufgenommen, der sie dreißig Jahre später als Chiffre und Abbild des Stillstands einsetzt. Im Dokumentarfilm kommt das häufiger vor: Fotografie als Abbild einer bleiernen Zeit, aber wenn die Zeit des Sozialismus bleiern war, sind ihre Zeugnisse zugleich durchsetzt von Spuren und Geräuschen, einer beharrlichen Restaktivität, die ihren Niederschlag auf der Tonspur findet.

Stefanie Diekmann

Der Funktionär - Deutschland 2018 - Regie: Andreas Goldstein - Laufzeit: 72 Minuten.

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Mit dem amerikanischen Western ist es wie mit dem Kapitalismus: Er befindet sich immer schon in seiner Spätphase. Der sogenannte Spätwestern ist, so gesehen, weniger Entwicklungsstufe als Strukturprinzip. Eigentlich geht es im Genre bereits seit den 1910er Jahren, seit Harry Carey, um zumindest innerlich alte Männer, die noch einmal in den Sattel steigen, im Namen von Prinzipien, die längst keine Geltung mehr haben. Seither ist es höchstens zu einer selbstreflexiven Schließung gekommen: Die Western der letzten paar Jahrzehnte haben kaum noch ein anderes Thema als die Bedingungen und Spezifikationen ihrer eigenen Verspätung.

Im Fall von "The Highwaymen" beginnt das schon beim Titel. Schließlich ist die Schnellstraße gerade kein Westernsujet mehr, sondern zeigt an, dass die Frontier längst befriedet ist. Nun allerdings sind doch wieder zwei alternde Gunmen auf ihr unterwegs: Frank Hamer (Kevin Costner) und Maney Gault (Woody Harrelson) sorgten einst als Texas Rangers für rauhe Gerechtigkeit im amerikanischen Südwesten, inzwischen, in den frühen 1930ern, sind sie allerdings eigentlich verrentet und wenn sie dann doch noch einmal, für die Jagd auf ein von Teilen der Bevölkerung popstarähnlich verehrtes Ganovenpaar, aktiviert werden, kommen sie nur langsam in Schwung. Bei den ersten Schießübungen schlägt kaum eine Kugel auch nur in der Nähe des Ziels ein.

Regisseur John Lee Hancock hat Filme über Baseball und Football gedreht, über die Schlacht von Alamo, über Walt Disney und McDonalds. Ein durch und durch amerikanisches Werk, das nun folgerichtigerweise durch einen Neowestern über den Bonnie-&-Clyde-Mythos ergänzt wird. Viel kommentiert wird die Umkehr der Perspektive: Bonnie Parker und Clyde Barrow selbst haben kaum Screentime, und in den wenigen Szenen, in denen sie doch auftauchen, gibt sich der Film alle Mühe, sie nicht zu runden, ganzen Figuren werden zu lassen; mal sehen wir während eines Feuergefechts nur die Füße der beiden Gangster, mal feuert Bonnie in einer perspektivisch verzerrten Aufnahme ihr Gewehr praktisch direkt in Richtung Zuschauerschaft ab.

Die Exzentrik der Bonnie-&-Clyde-Einschübe ist umso auffälliger, als der restliche Film dezidiert unaufgeregt inszeniert, visuell konsequent von der Stoik der letzten aufrechten Männer und der Weite der Landschaft her gedacht ist. Insofern ist es durchaus naheliegend, "The Highwaymen" als ein konservatives Projekt zu beschreiben: Wenn die beiden grumpy old men die jungen, hippen Outlaws schließlich zur Strecke bringen, dann triumphiert gleichzeitig die klassische Mise-en-scene über das zeitgeistige Stylekino.



Überhaupt ist gerade das das Beste am Film: der geduldige, aufmerksame Blick auf die beiden Hauptdarsteller. Costner und Harrelson sind, das zeigt sich bereits in der Art, wie sie sich immer wieder ihre Hüte zurechtrücken, geborene Westerndarsteller, und eigentlich sollten beide jedes Jahr mindestens einen Film wie "The Highwaymen" drehen; einen Film, der uns auf den jeweils neuesten Stand in Sachen Costner, beziehungsweise Harrelson bringt. Seitdem das Starsystem seine zentrale Bedeutung für die Filmindustrie eingebüßt hat, ist uns auch die Kontinuität der Starkörper nicht mehr verfügbar. In gewisser Weise hat das Gegenwartskino uns um die Freude betrogen, angemessen mitzuverfolgen, wie Costners einst geschmeidiger Nacken rauh und hart geworden ist, und wie Harrelsons jugendliche Naivität sich in eine Form närrischer Weisheit verwandelt hat, die in seinen Gesichtszügen und seiner Körperhaltung eingeschrieben steht.

Daran anschließend gilt es, den Konservativismus von "The Highwaymen" genauer zu spezifizieren. Die Protagonisten sind weder lautsprecherisch trumpistische Berserker noch technokratische Handlanger eines polizeistaatlichen Faschismus. Insbesondere für letztere, die den beiden ausrangierten Rangers in Gestalt aufgeblasener, inkompetenter FBI-Agenten am laufenden Band in die Quere geraten, hat der Film nur Verachtung übrig. Der Konservativismus von Hamer und Gault ist keiner der Stärke, sondern einer der Schwäche. Sie sehnen sich in eine Welt zurück, die ihnen selbst unheilbare Wunden geschlagen hat. Wobei der eigentliche Reiz des Films darin besteht, dass die beiden Partner ganz und gar nicht auf dieselbe Art beschädigt sind. Es geht um zwei komplett unterschiedlich gealterte Kinokörper, die vom Film in zwei unterschiedliche Formen von Altersstarrsinn übersetzt werden. Von Bonnie und Clyde sind beide besessen, aber aus diametral entgegengesetzten Gründen: Hamer identifiziert sich - uneingestanden - mit den Gangstern, die er jagt, Gault hingegen mit deren Opfern.

Lukas Foerster

The Highwaymen - USA 2019 - Regie: John Lee Hancock - Darsteller: u.a. Kevin Costner, Woody Harrelson, Kathy Bates, John Carroll Lynch - Laufzeit: 132 Minuten. (The Highwaymen ist auf netflix verfügbar.)

Zum Kinostart von Paul Schraders "First Reformed" sei außerdem noch auf Michael Kienzls Perlentaucher-Kritik zur Aufführung beim Rotterdam Filmfestival 2018 hingewiesen