Im Kino

Von Opfern zu Menschen

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
26.09.2019. François Ozon rekonstruiert in "Grâce à Dieu" den Fall eines katholischen Priesters, der über Jahrzehnte ihm schutzbefohlene Jungen missbrauchte und auch nach der Aufdeckung des Missbrauchs noch von der Kirche geschützt wurde. Aus der Perspektive der Opfer erzählt, begreift sich der Film auch als aktive Intervention in ein noch immer laufendes Verfahren gegen den Täter.


"Grâce à dieu", die Wendung entschlüpft Kardinal Barbarin auf einer Pressekonferenz, "Gott sei Dank" seien die Taten des Pater Preynat ja inzwischen verjährt. Zur Rede gestellt, nimmt er den Dank an Gott wieder zurück, in den Titel des jüngsten Films von François Ozon hat er es trotzdem geschafft (wenngleich nur so halb in den deutschen). Ozon rekonstruiert darin im Spielfilmformat den in mehr als einer Hinsicht bestürzenden und empörenden Fall eines Priesters, der im Lauf von Jahrzehnten einige Dutzend ihm schutzbefohlene Jungen missbrauchte. Bestürzend und empörend sind die Taten, ist die Tatsache, dass Preynat nichts leugnet, nie etwas geleugnet hat, dennoch höchstens Anflüge von Reue, dafür reichlich Selbstmitleid zeigt, ist das Faktum, dass seine Vorgesetzten um seine Verbrechen wussten, aber so gut wie nichts unternahmen.

Bestürzend und empörend ist der Fall dagegen ganz sicher nicht, weil er einzigartig wäre. Die katholische Kirche hat sich ihren Ruf, ein sicherer Hafen für Pädophile (gewesen) zu sein, schließlich mehr als verdient. Der Film zeigt nicht zuletzt, wie sich die Oberen kein bisschen um die Opfer scherten, er zeigt, wie sie sich immer noch winden, trotz klarer Worte des amtierenden Papstes, und er führt beispielhaft vor, dass die Kirche mit denen, die missbrauchten, und mit denen, die wussten oder ahnten und schwiegen, und mit denen, die nie Aufklärung forderten und sich heute noch gegen sie wehren, ein großes Täterkollektiv bildet und dass unzählige Täter davongekommen sind und davongekommen sein werden. Das alles stinkt so sehr zum Himmel, dass man sich selbst als Atheist zu wünschen beginnt, es gäbe wenigstens eine Hölle, in der sie alle in Ewigkeit schmoren.



Ozon, der auch das Drehbuch verfasst hat, erzählt die Geschichte aus der Perspektive der Opfer. Als Alexandre (Melvil Poupaud), einer von ihnen, Jahrzehnte später erfährt, dass Preynat, der ihn missbrauchte, nach wie vor Kinder betreut, ist er entsetzt und sucht erst einigermaßen irregeleitet innerkirchliche Unterstützung. Mit Barbarin, dem Kardinal von Lyon, gerät er allerdings an einen jener geschickten Vertuscher, die nach außen hin Aufklärung versprechen, im Innern aber alles tun, um die Täter zu schonen. Es dauert eine Weile, bis Alexandre, der noch immer an Gott glaubt und auch an die Kirche, das wirklich versteht. Dann aber erstattet er Anzeige, womit die Angelegenheit soweit öffentlich wird, dass weitere Opfer sich zu melden und zusammenzufinden beginnen.

Der Film nimmt sich viel Zeit für die Männer, schon um sie von Opfern zu Menschen zu individuieren. Sie haben alle, in unterschiedlichem Maß, beim Gang an die Öffentlichkeit Widerstände zu überwinden. Alle sind sie traumatisiert, haben ein Leben auf der nicht tilgbaren, nur verdrängbaren, abkapselbaren Erinnerung an das Verbrechen zu errichten versucht, viele von ihnen erfolgreich, einer, der Klügste von allen, irrt durch die Trümmer einer Existenz, zu der auch eine, wie er selbst sagt, toxische Beziehung gehört. Einige haben sich mit Frauen zusammengetan, die die Missbrauchserfahrung mit ihnen teilen. An anderen wird die Bandbreite der Reaktionen der Eltern exemplifiziert: Von Reue darüber, dass sie von den Vorwürfen oder Andeutungen der Kinder nichts wissen wollten, bis zu Verdrängung und dem Wunsch, diese Dinge doch unter dem Teppich zu lassen, unter den man sie all die Jahre gekehrt hat.



Ozon beginnt mit nicht gott-, aber kardinalsgleichem Blick von oben, wo die Kathedrale über der Stadt thront, auf Lyon. Dann aber begibt er sich auf den Boden der Tatsachen, folgt dem Geschehen auf Augenhöhe der Opfer, die aktiv werden, aktivistisch werden, die Medien einbeziehen, Ideen entwickeln wie die, mit dem Flugzeug einen riesigen Schwanz an den Himmel über der Kathedrale zu zeichnen - leider wird das verworfen. Alles an "Gelobt sei Gott" ist gut gemacht, Ozon ist auch hier der verlässliche Handwerker, als der er sich in allen Genres, Formen und Tönen erweist, wobei er dabei gelegentlich - mal zum Nutzen, mal zum Schaden der Filme - von allen guten Geistern verlassen erscheint.

Diesmal bleiben alle guten Geister von Anfang bis Ende an Bord. Was einerseits natürlich der sehr ernsten Sache angemessen ist. Andererseits nickt man viel und gelegentlich ein bisschen auch ein. Außergewöhnlich ist der Film dann aber doch in der einen Hinsicht, dass er sich als aktive Intervention in ein noch immer laufendes Verfahren begreift. Er ändert die Namen der Opfer, aber nennt die Täter bei ihren richtigen Namen. Es hat Klagen gegeben, aber weder ist es gelungen, den Start des Films bei der Berlinale (wo er, ein bisschen übertrieben, den Großen Preis der Jury gewann) noch in den Kinos noch auf DVD zu verbieten. Kardinal Barbarin wurde inzwischen zu einem halben Jahr auf Bewährung verurteilt, Pater Preynat kirchenrechtlich in den Laienstand versetzt. Das Urteil der weltlichen Gerichte steht weiterhin aus, aber wenigstens dieses filmische Zeugnis gegen ihn und die katholische Kirche in Frankreich ist nun in der Welt.

Ekkehard Knörer

Grâce à Dieu (Gelobt sei Gott) - Frankreich 2018 - Regie: François Ozon - Darsteller: Melvil Poupaud, Denis Ménochet, Swann Arlaud, Éric Caravaca, François Marthouret, Bernard Verley - Laufzeit: 137 Minuten.