Im Kino

Blut durch die Finger

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Lukas Foerster
22.02.2017. Die dezent zurückhaltenden Bilder von Paul Verhoevens Vergewaltigungs-Thriller "Elle" entpuppen sich als riesengroße Falle. Lasse Hallströms Hundereinkarnationsfilm "Bailey - Ein Freund fürs Leben" ist ein high-concept-Edeltrash-Epos, aber momentweise auch großes Kino.


Nur die Katze war Zeuge. Exponiert in der ersten Einstellung, nimmt sie die Perspektive der Zuschauenden ein. Und wie sie wissen auch wir zunächst nicht, wovon genau wir Zeugen werden. Das Stöhnen, das schon vor dem ersten Bild zu hören ist, könnte auf sexuelle Ekstase, aber auch auf eine Vergewaltigung hindeuten. Es geht "Elle" von Anfang an um die Vermengung von Bereichen, die die meisten Menschen klar und sicher voneinander getrennt wissen wollen: einvernehmlicher Sex auf der einen, sexuelle Gewalt auf der anderen Seite. Das ist eine große Provokation und der Regisseur des Films, Paul Verhoeven, ist einer der begnadetsten Provokateure der Filmgeschichte, für den seit Anfang der Siebziger die Regeln bezüglich dessen, was auf der Leinwand gezeigt und erzählt werden darf, vor allem dazu da sind, gebrochen zu werden.

So ist denn auch das Gediegene an "Elle", die Art etwa, wie der Film die Vergewaltigung zu Beginn, denn um eine solche handelt es sich, ausblendet, sie zunächst nur durch Blut im anschließenden Schaumbad erahnen lässt, aber auch die in Scope-Einstellungen eingefangenen geschmackvollen Interieurs, eine riesengroße Falle. Das beinahe Geleckte der Oberflächen kann immer weniger verbergen, wie sehr es darunter brodelt, wie sich immer größere menschliche Abgründe auftun. Michèle Leblanc (Isabelle Huppert), die aus nachvollziehbaren Gründen nach ihrem Erlebnis nicht zur Polizei geht, macht sich selbst daran, ihren maskierten Peiniger zu suchen, der sie weiterhin beobachtet, ihr obszöne Kurznachrichten schickt, in einer Szene in ihre Wohnung eindringt und seinen Samen als Gruß auf ihrer Seidenbettwäsche hinterlässt. In seinem sadistischen Spiel nimmt sie unterdessen keine rein passive Rolle ein. Mehr und mehr trachtet auch sie danach, ihm wieder zu begegnen, ihr Trauma zu wiederholen, wobei die Grenze zwischen Lust und Gewalt immer durchlässiger, immer schwerer nachvollziehbar wird.

Mit "Elle" legte Verhoeven letztes Jahr auf dem Filmfestival in Cannes seinen ersten Kinofilm nach genau zehn Jahren vor. Schon der Vorgänger "Black Book" war aus der Perspektive einer Frau erzählt - einer Jüdin, die sich im von den Nazis besetzten Holland des ausgehenden Zweiten Weltkriegs versteckt und dabei in Kreise des Widerstands gerät. Schon dieser mutige Film unterminierte jedes Bedürfnis nach einfachen Antworten ebenso wie das nach Rache und Gerechtigkeit, indem er von Allianzen und Verrat über alle Grenzen nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit oder politischer Ideologie hinweg erzählte. Statt um die ordentliche Einteilung der Welt in Täter und Opfer, ging es, mit den denkwürdigen Worten Jacques Rivettes, um das "Überleben in einer Welt, die von Arschlöchern bevölkert ist".



Letzteres trifft auch auf "Elle" zu. Die Nebenfiguren sind durchweg ziemlich ätzende Karikaturen. Michèles Mutter Irène (Judith Marge) hat ein geradezu grotesk mit Botox aufgespritztes Gesicht und ist bei ihrem ersten Besuch der Tochter mit einem Mann zusammen, der nicht nur ihr Sohn, sondern gleich ihr Enkel sein könnte, und den sie später zu heiraten gedenkt. Ihr Sohn Vincent (Jonas Bloquet) ist vielleicht die einzige einigermaßen sympathische Figur, nicht obwohl, sondern gerade weil er ein ziemlicher Loser ist, der unter der gnadenlosen Fuchtel seiner, wie Michèle gleich mehrmals betont, "komplett verrückten" Freundin steht. Michèles Ex-Mann Richard (Charles Berling) ist ein Schriftsteller mit Geldsorgen und writer's block, der gerne ein Videospiel entwerfen würde und mit einer seiner Schülerinnen ein Verhältnis anfängt. Abgerundet wird das Figurenpersonal, das in seiner Diversität dadurch geeint ist, dass man im wirklichen Leben mit keinem von ihnen einen Kaffee trinken möchte, durch Anna (Anne Consigny), mit der Michèle ihre Firma für Videospiele leitet und mit deren Mann sie eine Affäre hat. Sowie der nette Nachbar Patrick (Laurent Lafitte), dem seine Frau offensichtlich nicht zu der sexuellen Befriedigung verhelfen kann, nach der er sich sehnt.

Mich"Elle", deren Perspektive, darauf verweist schon der Titel, der Film einnimmt, fügt sich als extrem unterkühlte Geschäftsfrau erst einmal ziemlich gut ins sinistre Gesamtbild. Ähnlich gefasst wie sie zu Beginn über ihre Vergewaltigung hinweg geht, nimmt sie später auch den Tod ihrer beiden Eltern in Kauf. Ganz zu Beginn sehen wir sie auf einem Meeting in ihrer Firma, wo sie sich darüber beklagt, dass die Vorabversion eines Computerspiels nicht brutal genug sei. Wenn ein Monster in einem buchstäblichen Kopffick mit Tentakeln in den Kopf seines weiblichen Opfers eindringt, will sie dessen "orgiastischen Zuckungen" sehen, will, dass die Spielenden das Gefühl haben, das Blut rinne ihnen aus dem Control Pad durch die Finger.

Wie alle Filme Verhoevens, vielleicht ganz besonders wie seine dystopischen Zukunftsvisionen "Robocop", "Total Recall" und "Starship Troopers", spielt auch "Elle" in einer Welt, in der Gewalt allgegenwärtig ist. Sie findet sich im Boxkampf im Fernsehen. In YouTube-Videos von Menschen, die Insekten zertrampeln. In den Nachrichtensendungen, die die Verbrechen von Michèles Vater rekapitulieren und in der Schändung seines Grabs auf dem Friedhof, auf dem der Film mit einer beinahe versöhnlichen letzten Einstellung endet. Ganz besonders in der innerfamiliären Kommunikation. Die messerscharfen Dialoge des bislang überwiegend auf niedrig budgetierte Serienkillerfilme spezialisierten Drehbuchautors David Birke machen die Sprache zu einer Waffe, jede verbale Auseinandersetzung zu einem erbarmungslosen Gefecht.

Wenn die am Anfang noch dezent zurückhaltenden Bilder der Vergewaltigung immer wieder unvermittelt in den Film einbrechen, in Flashbacks, die das Geschehen an einer Stelle zu einer Rachefantasie ummünzen, die der Film dann aber doch nicht zulässt, erscheint die sexualisierte Gewalt als konsequente Zuspitzung einer Gewalt, die eh schon überall ist, alles durchdringt, die Menschen von innen her auffrisst. In einer solchen Gesellschaft wird das rape game mit echtem Vergewaltiger, dem man in einer Szene anmerkt, dass er erst einen hoch kriegt, wenn sein Opfer sich erbittert wehrt, zu einer letzten Form, Sexualität zu leben. "Elle" ist das so erbitterte wie großartige Spätwerk eines großen Meisters des (exploitativen) Kinos. Vielleicht Verhoevens grimmigster Film. Und das will nun wirklich etwas heißen.

Nicolai Bühnemann

Elle - Frankreich 2016 - Regie: Paul Verhoeven - Darsteller: Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Annie Consigny, Charles Berling, Virginie Efira - Laufzeit: 130 Minuten.

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Die durchgeknalltesten Filme findet man nicht an den Rändern des Kinos, sondern mitten im Mainstream. Genauer gesagt findet man sie in den uncooleren Quartieren des Mainstreams, fernab aller Oscar- oder Nerdkultur-Relevanz. Zum Beispiel "Bailey - Ein Freund fürs Leben": Lasse Hallström hat hier einen gleichzeitig faszinierenden und toxischen Familienfilm über Hundereinkarnation gedreht. Wobei die Hundereinkarnation genau genommen nicht das Thema, sondern die sine-qua-non-Bedingung des Familienfilms darstellt: In unserer Welt, meint "Bailey", braucht es manchmal eben nicht ein, sondern fünf hintereinander geschaltete Hundeleben, um eine Familie zu synthetisieren. Oder wie es das amerikanische Poster ausdrückt: "Every Dog Happens for a Reason." In gewisser Weise ist Hallströms Film die spießige Disneyclub-Variante von metaphysischen Melodramen wie "Peter Ibbetson" oder "Pandora and the Flying Dutchman".

Aber der Reihe nach. Das erste Hundeleben ist mir nichts dir nichts vorbei, kaum dass es angefangen hat. Das zweite lässt sich auch nicht gut an... aber zum Glück wird der Hundewelpe, der später Bailey heißen wird, gerade noch rechtzeitig aus einem überhitzten PKW befreit und landet in einer 1960er-Jahre-Kleinstadt-Kleinfamilienidylle der weißesten Sorte. Sein Herrchen ist der junge Ethan, der über den Film hinweg zu Dennis Quaid heranwachsen wird. Zunächst lebt er ein Mittelklasse-Bilderbuchleben, bald geht er auf die High School, wird zum Football-Star ("Bailey" ist ein Film, der sich im Zweifelsfall immer auf die Seite der jocks schlägt), muss sich nur gelegentlich mit seinem Vater herumärgern, der ein Alkohoproblem hat und auch sonst psychisch nicht ganz beieinander ist - schuld daran, das legt der Film auf denkbar unkonkreter Weise nahe, trägt die Kubakrise, beziehungsweise die allgemeine Ungeordnetheit der Welt.

An Ethans Seite immer Bailey. Oder eben andersrum: an Baileys Seite Ethan. Die Erzählung bleibt strikt auf den Hund fokussiert, auch wenn Hallström auf eigentlich naheliegende technische Spielereien wie Hunde-POVs oder gar weitergehende Mimikry ans Hundesensorium weitgehend verzichtet. Dafür gibt es einen Hunde-voice-over - und der ist, muss man bei aller Liebe für diesen ansonsten sympathisch beknackten Film sagen, leider völlig debil und geistlos geraten. Man muss Hunden nicht unbedingt ein so reiches Innenleben unterstellen wie zum Beispiel Katzen, aber die dümmlichen Reiz-Reaktions-Phrasen, die "Bailey" seiner Hauptfigur in den Mund legt, grenzen doch an Verleumdung. Noch dazu ist der gleichzeitig infantil und onkelig herumdelirierende Bailey-Sprecher Josh Gad in einem ansonsten hochsoliden cast die einzige Fehlbesetzung.



Gleichzeitig naiv, genial, übergriffig und jedenfalls ziemlich unfassbar ist die Szene, in der der Hund eine Freundin für sein Herrchen findet: Als Ethan während eines Spaziergangs über den Rummelplatz die sehr blonde Hannah ins Auge fällt, die gerade dabei ist, mit einem Luftgewehr auf Tontauben anzulegen, rennt Bailey auf das Mädchen zu und drängt sich kurzerhand zwischen Hannahs Beine, in Richtung Schritt. Mechanik des Begehrens: Ihre Pose mit dem Gewehr zieht nicht nur seinen Blick, sondern auch gleich noch die Hundeschnauze an, die sofort die Interessenlage klarstellt.

Eben als alles geregelt scheint, greift das Schicksal ein und trennt Bailey von Ethan. Wie Ethan da dem Hund zunächst ein letztes Mal das geliebte Spielzeug, einen luftleeren Football, zuwirft, wie Bailey den Ball dann fallen lässt, sich von Ethans Mutter losreist und von aufbrausender Sinfonik begeleitet durch saftig grüne Wiesen und im Wind Wellen schlagende Weizenfelder seinem Herrchen hinterhereilt und dessen Auto eben noch abfängt, gerade rechtzeitig für eine tränenreiche Abschiedsszene: Das ist tatsächlich zumindest so etwas Ähnliches wie großes Kino. Überhaupt ist der Film immer dann, wenn er melodramatische Affekte mithilfe eines durchaus kraftvollen middle-of-the-road-Klassizismus ausagiert, besser als er jedes Recht hat zu sein.

Jedenfalls kommt nach Ethans Abschied alsbald der eigentliche Clou des Films, die Hundereinkarnation, wieder ins Spiel. Vom geliebten Herrchen verlassen, verkümmert Bailey und stirbt, findet sich allerdings gleich darauf, mitsamt der bekannten voice-over-Stimme, in einem frischen Hundekörper wieder. Dieses nächste und auch noch das übernächste Hundeleben führen den Film in ganz andere soziale Gefilde. Ein Gegenmodell zum melting pot: Fein säuberlich trennen die einzelnen caninischen Reinkarnationsstufen das weiße Kleinstadtamerika zuerst vom Latino-Großstadt-Hexenkessel und dann von einer rein schwarzen Mitteklassewelt, die direkt der "Bill Cosby Show" entsprungen sein könnte (passenderweise ist der Film inzwischen in den 1980er Jahren angelangt). "Bailey" spielt in genau jenem ethnisch segregierten Fantasie-Amerika, nach dem sich die älteren, weniger rabiaten unter den Trump-Wählern zurückzusehnen meinen.

All das bereitet einen noch längst nicht auf die hanebüchen-hemdsärmelige, aber schon auch wieder geniale Pointe vor, die Baileys letzter Wiedergeburt vorbehalten bleibt und die zumindest mich deutlich mehr fasziniert als ein Großteil des aktuellen Oscar-Jahrgangs. Ganz zu schweigen von der hochfrequent im Leerlauf rotierenden Star-Wars- und Marvel-Seifenoperproduktion, auf die sich der gründlich auf die Hunde gekommene Disney-Konzern - der eigentlich der logische Ort wäre für ein high-concept-Edeltrash-Epos, wie Hallströms Film eines ist - inzwischen spezialisiert.

Lukas Foerster

Bailey - Ein Freund fürs Leben - USA 2017 - OT: A Dog's Purpose - Regie: Lasse Hallström - Darsteller: Josh Gad, K.J. Apa, Britt Robertson, Dennis Quaid, Peggy Lipton - Laufzeit: 100 Minuten.