Im Kino

Höhenflüge

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Jochen Werner
21.08.2014. Unerwartetes Kinoglück dank genialem Casting beschert Patrick Hughes' Meta-Actionfilm "The Expendables 3". In die Fänge des ländlichen Kanadas gerät man in Xavier Dolans queerem Backwood-Drama "Sag nicht, wer du bist!".


Das dürfte schon jetzt eine meiner Filmszenen des Jahres sein: Kelsey Grammer, bekannt als Hauptdarsteller der Sitcom "Frasier" (und vorher aus "Cheers"), und Sylvester Stallone, bekannt aus Dutzenden ungemein erfolgreicher Actionkracher vornehmlich der 1980er Jahre, fahren mit dem Auto durch Amerika. Nominell um ein Team junger Kämpfer zusammenzustellen. Aber eigentlich geht es vor allem darum, dass sich zwei Männer, die auf so unterschiedliche Art die Popkultur der 1980er und 1990er mitgeprägt hatten, über das Leben, das Universum und den ganzen Rest unterhalten. Und sich zwischendurch gegenseitig zum Narren halten. Sagt Grammer zu Stallone: "They found a lump on my lung, looks pretty dark... doctor says I don"t have much time left." Er wolle, fährt er fort, vor seinem Tod nichts weiter, als etwas Geld zu verdienen, auf dass er seinen Kindern wenigstens irgendetwas hinterlassen könne. Als Stallone schockiert sein Mitleid ausdrückt, rudert Grammer zurück: Alles frei erfunden, es geht ihm blendend, "I just wanted to make sure you"re still human…".

Dass "The Expandables 3" sich derartige Höhenflüge erlauben würde, war nicht ein bisschen abzusehen gewesen. Stallone hatte die "Expendables"-Filmserie 2010 aus der Taufe gehoben, um sich selbst und einigen anderen altgedienten, inzwischen mehr oder weniger abgehalfterten Stars des (vornehmlich) amerikanischen Testosteronkinos ein kleines Karriere-Comeback zu bescheren; kommerziell funktionierten Teil eins und zwei ganz gut - anschaubar war vor allem der erste nur bedingt, allzu planlos zusammengehauen wirkte das von Stallone selbst inszenierte Gipfeltreffen der Altstars, allzu derangiert kamen ausgerechnet die von einer atemlosen Montage füsilierten Actionsequenzen daher. Das Sequel machte zwar handwerklich einen etwas solideren Eindruck, litt allerdings darunter, dass Regisseur Simon West vor allem auf das komische Potential der Akteure setzte - welches sich leider auf eine langwierige Abfolge dummer Sprüche zu beschränken scheint.



Wenn"s beim ersten mal so gar nicht klappt, und beim zweiten Mal auch nicht so recht, dann probieren wir es einfach noch ein drittes Mal: Das könnte die Dramaturgie eines eher plump gestrickten Actionfilms sein. Und also ist es vermutlich nicht ganz unpassend, dass die "Expendables"-Filmreihe, wahlweise Metakommentar oder Apotheose des plump gestrickten Actionfilms, ebenfalls stur immer noch einmal einen weiteren Anlauf nimmt. In diesem Fall: zum Glück! Denn "The Expendables 3", inszeniert vom vorher nicht groß auffällig gewordenen Patrick Hughes (sein mittelmäßige Neo-Western "Red Hill" lief vor ein paar Jahren auf der Berlinale), ist nicht nur den beiden Vorgängern haushoch überlegen, sondern schlichtweg einer der besten und eigensinnigsten Hollywoodfilme, der in den letzten Monaten in die Kinos gekommen ist.

Nimmt man "The Expandables 3" als Genrefilm, so hat sich erst einmal nicht viel geändert: Wieder trommelt Stallone viele alte und einige neue Kumpels zusammen, um mit ihnen einerseits einem Finsterling das Handwerk zu legen, und andererseits jede Menge male bonding zu betreiben. Das alles macht viel mehr Spaß als vorher, weil der Film es versteht, seine Akteure in fluide wechselnden Konstellationen einander gegenüber zu stellen, weil der Humor diesmal auf eine einzige, auch tatsächlich ziemlich hemmungslose Figur (Antonio Banderas!) ausgelagert ist, weil die Actionsequenzen weitgehend klarsichtig inszeniert und schlüssig um einzelne Bauwerke beziehungsweise Verkehrsmittel herum konstruiert sind.

Zu einem Triumph wird "The Expendables 3" aus einem anderen Grund: Endlich gelingt es der Filmserie, ihre antiillusionäre Ästhetik produktiv zu machen. Denn so sehr sich die beiden ersten Filme auch in ihrer Wiederaufnahme vergangener Pulp-Narrative (Bananenrepubliken, die von einem Trupp wild zusammengewürfelter Söldner befreit werden müssen etc.) gefallen: Selbst an der B-Movie-Tradition gemessen musste das world building zwingend defizitär bleiben, weil die Schauspieler in den "Expendables"-Filmen keinerlei Anstalten machen, hinter ihren Rollen zu verschwinden. Der eigentliche Reiz der von Anfang an als öffentliches Klassentreffen konzipierten Serie bestand stets darin, auf den nächsten unerwarteten Cameo-Auftritt, auf die nächste cine-mythologische Verbrüderungsgeste der alten Recken zu warten. Die Fiktion dagegen war in den ersten beiden Filmen bestenfalls ein notwendiges Übel. "The Expendables 3" dagegen ist nicht einfach nur ein nostalgischer Actionfilm mit einigen in die Jahre gekommenen Filmstars; sondern ein - darin ganz und gar nicht nostalgischer - Film über das in die Jahre gekommene Starsystem Hollywood.



Was heißt: Die Kunst, die "The Expendables 3" vor allen anderen zelebriert, ist die Kunst des Casting. Wenn der wegen Steuervergehen bis vor kurzem inhaftierte Wesley Snipes zu Beginn von seinen Kollegen aus dem Gefängnis befreit werden muss, kann man das noch als harmlose Augenzwinkerei abtun (allerdings: Snipes sprüht offensichtlich vor wütender Energie, da kommt noch was!). Ambitionierter schon die Rahmung, der Auftrag, dem sich Stallones Truppe diesmal widmen muss. Der Widersacher entpuppt sich einerseits als ein ehemaliger Mitstreiter der Expendables, es kämpfen also auf beiden Seiten ausschließlich Entbehrliche; und tatsächlich gibt es bald auch auf der integren Seite nicht mehr nur ein, sondern ganze drei "Expendables"-Teams, wie um klarzustellen, dass dieses Paralleluniversum der Actionfilmarchive selbstversorgend überleben kann, keinerlei Kontakt zu einer auch noch so schlecht erfundenen Außenwelt benötigt. Und andererseits entpuppt sich der Widersacher als Mel Gibson, also als jemand, der (aus guten Gründen) im echten Leben ebenfalls zum Paria unter den Actionstars geworden ist. Analog der ziemlich krude Auftritt Arnold Schwarzeneggers: Der versucht sich schon seit geraumer Zeit an einem Comeback, auf das offensichtlich kaum ein Kinogänger gewartet hat. Und auch in "The Expendables 3" scheint seine Figur vor allem gegen die (durchaus auch eigene) Erkenntnis anzukämpfen, dass es eigentlich nicht allzu viel zu tun gibt, diesmal, für den Exilösterreicher.

Der größte Besetzungscoup des Films allerdings ist zweifellos Kelsey Grammer (zu allem Überfluss trägt seine Figur auch noch den Namen Bonaparte), der erst jüngst mit einer leider eher verschenkten Nebenrolle in "Transformers: Age of Extinction" überrascht hatte. Grammer bezeichnet den Abstand, der die Schauspieler von ihren Rollen, die Altstars des Actionfilms von ihrer jugendlichen, ruhmreichen Vergangenheit, und vielleicht auch das Kino der Gegenwart von dem der 1980er trennt. Mit ihm rückt Hughes ein Moment der klugen Ironie in eine Filmserie ein, die sich vorher in der unklugen Ironie des postmodernen Zitatenschungels verlaufen hatte. "I just wanted to make sure you"re still human…".

Lukas Foerster

The Expendables 3 - USA 2014 - Regie: Patrick Hughes - Darsteller: Sylvester Stallone, Jason Statham, Harrison Ford, Arnold Schwarzenegger, Mel Gibson, Wesley Snipes, Kelsey Grammer, Jet Li, Antonio Banderas, Dolph Lundgren - Laufzeit: 110 Minuten.

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Kammerspiel und Cinemascope: das auffälligste Gestaltungsmerkmal des neuen Films des kanadischen Regiewunderkinds Xavier Dolan ist sein formatsprengender Wechsel zwischen den Einstellungsgrößen. Dramaturgisch macht das Sinn, basiert doch "Tom à la ferme", der unter dem deutschen Titel "Sag nicht, wer du bist!" ins Kino kommt, auf einem Theaterstück, was weiten Strecken des Settings auch anzumerken ist. In diesen Sequenzen ist Dolans Film ein Kammerspiel, ein Drei-, später kurz Vierpersonenstück. Ein einigermaßen reduzierter, geschliffener Dialogfilm.

Das genügt der Regie Dolans erfreulicherweise nicht, und so sprengt er diese genügsame Form immer wieder mit Wucht auf, lässt die Welt, die Natur, das Begehren kraftvoll in den Stoff eindringen, sich gewaltsam Raum behaupten. Eine blutige Verfolgungsjagd durch ein Maisfeld. Eine bedrohliche Konfrontation im nächtlichen Wald. Eine brutale körperliche Attacke, die plötzlich ihren eigentlichen Charakter als psychosexuelles Dominanzspiel offenlegt. Das sind die Momente, für die "Sag nicht, wer du bist!" die ganze Breite der Kinoleinwand braucht und beansprucht.



Dieser auffällige, die filmische Form betonende Kunstgriff ist somit von vornherein mehr als ein bloßes Gimmick. Er ermöglicht Dolan vielmehr erst, den Film so zu erzählen, wie er es tut - nämlich von einer steten untergründigen Spannung durchflossen, die auch, der Originaltitel legt es im Gegensatz zum nichtssagenden deutschen Äquivalent geschickt nahe, eine Frage der Topografie ist. Die titelgebende "Farm", der Bauernhof, ist zwar mehr als ein konkreter Ort - ein Geisteszustand -, bleibt aber dabei stets konkret räumlich verortet, in einer schroffen Landschaft, die der Protagonist Tom (Xavier Dolan selbst) anfangs noch mit dem Auto durchmisst. Um dann an einem Ort anzukommen, der ein Endpunkt sein könnte, einer der Orte, an denen man kleben bleibt, die einen nicht mehr fortlassen. Nicht, weil man sie, wie der verklärende Landlebenfilm des internationalen Arthouse-Mainstreams einen glauben machen möchte, nie wieder verlassen will. Sondern weil sie einen mit Haut und Haaren verschlingen können.

"Sag nicht, wer du bist!" ereignet sich nicht nur im großen Maßstab an einem solchen Ort, er ist auch von kleinteiligen Schauplätzen durchsetzt, die, jeder für sich, als Mikrokosmen in die raue Natur geworfen scheinen. Die Farm selbst und ihre Bewohner, ein unbehaglich anmutendes Zweiergespann aus der um ihren verstorbenen Sohn trauernden Mutter Agathe und dessen Bruder, dem völlig übervirilen Francis, der mit aller, auch und gerade: körperlicher Gewalt versucht, die Lebenslüge verdrängter Homosexualität aufrecht zu erhalten. Die Bar, in der Tom mit einem dunklen Geheimnis konfrontiert wird - Tom, der zum Begräbnis seines, durch Suizid wohl, aus dem Leben geschiedenen Freundes und Lebensgefährten Guillaume aufs Land reist und dort auf Verdrängung, Ignoranz, Nichtwissenwollen trifft. Und auf Lügengespinste, die abgründiges Begehren notdürftig überdecken - und beim urban sozialisierten Tom auf eigene Sehnsüchte treffen, unbehagliche, aber erstaunlich radikal Raum greifende Begierden freisetzen.



Xavier Dolan inszeniert zwar deutlich zurückgenommener als in seinen bisherigen Filmen, aber diese Reduktion hindert ihn keinesfalls daran, eine über die gesamte Laufzeit von "Sag nicht, wer du bist!" stetig stärker werdende Sogwirkung zu erzeugen. Mit dem Fremden Tom geraten wir in die Fänge einer Welt, deren archaisches Gesetz uns reizt und ausstößt und aufsaugt, eine Welt, deren finstere Erotik Angst macht und doch nicht loslässt. Ein queerer Backwood-Film, eigentlich.

Jochen Werner

Sag nicht, wer du bist! - Kanada 2013 - OT: Tom à la ferme - Regie: Xavier Dolan - Darsteller: Xavier Dolan, Pierre-Yves Cardinal, Lise Roy, Evelyne Brochu - Laufzeit: 102 Minuten.