Im Kino

Atombombengefühle

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Jochen Werner
10.04.2013. Sally Potters "Ginger & Rosa" erzählt eine Coming-of-age-Geschichte in zerbrechlich wirkenden Bildern entlang der Kubakrise. In der Werkschau, die das Berliner Kino Arsenal den Filmen des Frankokanadiers Denis Côté widmet, kann man das Kreatürliche in sich selbst entdecken.


Ein Atompilz und die Trümmer Hiroshimas, beides dokumentarische, körnige Filmaufnahmen; dann ein harter Schnitt in die Fiktion, in einen britischen Kreissaal, auf zwei Mütter, die gleichzeitig ihre Kinder gebären. Im Jahr 1945 geht nicht nur der verheerendste Krieg der Menschheitsgeschichte zu Ende, gleichzeitig beginnen zwei andere, neue Leben, von denen der Film "Ginger & Rosa", erzählen wird. Ein selbstbewusster, fast schon unverschämter Beginn, auf den vieles folgen kann, aber sicher nichts Halbgares. Bomben, die tatsächlich explodiert sind und Bomben, die zu explodieren drohen: Der Rest des Films spielt im Herbst 1962, während der Kubakrise; die die Regisseurin Sally Potter, wie Hiroshima, zunächst einmal nicht für sich selbst, sondern als Metapher interessiert. Eine Metapher, der eine gewisse Unverhältnismäßigkeit eingeschrieben ist: Es geht immer gleich ums Überleben der gesamten Menschheit. Und so ist auch "Ginger & Rosa" ein Coming-of-age-Film, in dem sich die Gefühle atombombengroß aufblasen.

Ein kluger Film ist "Ginger & Rosa", weil er weiß, dass das keine echte Äquivalenz ist; dass sich da also im Herbst 1962 nicht etwa die weltpolitische Spannung ganz real und ungebrochen auf den Gefühlshaushalt eines rothaarigen Mädchens mit naheliegendem Spitznamen Ginger (zurecht für diese Rolle gefeiert: Elle Fanning) übertragen hat. Sondern dass die Kubakrise genau deswegen als Metapher fürs Heranwachsen taugt, weil sie einerseits die schlimmstmöglichen Ängste weckt und weil sie andererseits weit weg ist, nicht das Geringste zu tun hat mit der linksengagierten, aber durch und durch bourgeoisen Lebenswelt, durch die sich Ginger und ihre Freundin Rosa (Alice Englert, zur Zeit auch in dem Fantasyfilm "Beautiful Creatures" hochromantisch unterwegs) bewegen. An der Antikriegsdemo, der sie sich anschließt, interessiert Ginger am Ende doch vor allem der ein wenig versponnene lockige junge Mann, der vorneweg marschiert.



Ein schöner Film ist "Ginger & Rosa", weil er die Atombombengefühle nicht in filmischem Pomp, sondern in zerbrechlich wirkenden Bildern aufhebt. Alles sehr delicate, die Kameraarbeit, die auf schöne Bilder ohne Schwere zielt, die auch dann nicht aufdringlich wird, wenn sie den Figuren sehr nahe kommt; auch die Figuren selbst, die Mädchen, die aus reiner, eher luftiger als erdiger Lebensfreude schon einmal ein Rad schlagen, die feinsinnige, jazzige Musik hören und die einmal ein wenig Schneematsch in ihren Fingern zerreiben, wie, um sich zu vergewissern, dass die Welt, durch die sie sich bewegen, auch eine organische Seite hat; sogar die verschmitzt lächelnden Männer, die den Mädchen zwar Blicke zuwerfen, die der Intention nach schmutzig sind, aber denen man das nicht so recht ansieht - das muss alles erst am Ende, in der großen finalen Konfrontation, ausformuliert werden, damit man sich noch einmal klarmachen kann, was man auf einer anderen Ebene natürlich immer schon wusste: nein, das geht wirklich nicht klar, und wenn's noch so unaufdringlich erotisch ausgesehen hat.

So innerlich glänzend und sauber ist die Welt, so gutaussehend sind die Menschen vermutlich nur in der Erinnerung; und sicher nicht in jeder Erinnerung (es liegt nahe, dass die Regisseurin, selbst nur wenige Jahre nach ihren beiden Hauptfiguren geboren, mitunter Autobiografisches verarbeitet). Aber am Ende stehen dafür auch die falschen Alternativen, vor die das Leben Ginger stellt, mit bemerkenswerter Klarheit vor ihr. Sie hat zwar rote Haare, aber sie möchte keine Rothaarige werden, wie ihre Mutter (Christina Hendricks, bekannt aus der Serie "Mad Men", wo sie fast dieselbe Figur spielt wie hier) eine ist; ihre roten Haare sollen auch weiterhin widerspenstig bleiben und sich nicht in eine aus Modezeitschriften abgeschaute Hausfrauenfrisur fügen. Sie denkt zwar pazifistisch, aber sie möchte keine Pazifistin werden, wie ihr Vater einer ist, der sein Freigeistlertum auf Kosten anderer auslebt (und der halt schon auch das Problem hat, erklären zu müssen, warum man ausgerechnet dann dem eigenen moralischen Kompass besonders stur folgen muss, wenn ein Verteidigungskrieg gegen Nazideutschland ansteht; das sind dann die Bereiche, für die sich der Film vielleicht doch etwas zu wenig interessiert). Auch keine Pazifistin möchte sie werden, wie ihre Tante eine ist, die selbstgerecht und besserwisserisch alle Menschen und alle Gefühle immer schon sortiert hat. Und schließlich will sie zwar ein sexuelles Wesen sein, sich dabei aber nicht so dumm anstellen wie ihre Freundin Rosa.

Lukas Foerster


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"No Comfort Zone" - unter diesem Titel eröffnet das Berliner Kino Arsenal am 12. April eine Retrospektive des noch schmalen Œuvres des kanadischen Regisseurs Denis Côté. Sieben Langfilme hat Côté seit seinem Debüt "Les états nordiques" (2005) inszeniert. Die Werkschau versammelt sie vollständig und sie lohnen, sofern man mit diesem mitunter sperrigen, aber höchst eigensinnigen und auf eine selten so ganz greifbare Weise faszinierenden Filmemacher noch nicht vertraut ist, die Entdeckung unbedingt. Gelegenheit dazu, auf Côtés Filme zu stoßen, bot zuletzt gleich zweimal die Berlinale, die, nachdem im letzten Jahr bereits "Bestiaire" im Forum zu sehen war, in diesem Jahr mit "Vic et Flo ont vu un ours" erstmals einen Film von Côté in den Wettbewerb einlud, wo dieser prompt mit dem Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet wurde - dem im Grunde interessantesten Preis des Festivals, der (jedenfalls nominell) für die Eröffnung neuer Perspektiven der Filmkunst vergeben wird.

Bereits mit "Les états nordiques" zielt Côté auf eine sehr eigenständige Position, die eine fiktive Figur aus einer narrativ aufgelösten Situation - der Sterbehilfe an der schwerkranken Mutter - in ein sich zunehmend dokumentarisierendes Szenario überführt. Immer wieder wird die Erzählung des Films, die den Neubeginn des Protagonisten Christian im nordkanadischen Dorf Radisson begleitet, durch dokumentarische Porträts der Dorfbewohner aufgebrochen, die sich selbst spielen und mit ihrer Lebensrealität die Fiktion des Filmes zunehmend - ja, was eigentlich? In Frage stellen? Konfrontieren? Anreichern?



Solche Konfliktlagen verbleiben bei Côté stets in einem nie ganz zu klärenden Spannungsverhältnis, und eine besondere Qualität seiner inszenatorischen Handschrift liegt darin, dass diese Verzerrungen der Grenzverläufe zwischen filmischen Genres und Gattungen nie allzu eitel schlaumeiernd im Vordergrund ausgestellt werden. Statt sich in selbstreflexiven Glasperlenspielereien zu verlieren, sind seine Filme einem eher spröden Grundton verpflichtet und versiegeln ihre subtilen Störsignale unter einem langsam und scheinbar gleichmütig fließenden Strom der Ereignisse - oder eben auch einer schweigenden, dräuenden Ereignislosigkeit.

Côtés Filme setzen allesamt etwas unterschwellig Bedrohliches in Szene - etwas Thanatoides. Sie könnten, narrativ betrachtet, durchaus kriminalistisch vorgehen - und entscheiden sich bewusst für eine andere, mitunter erschreckend ungerührte Form des Erzählens. Am Augenfälligsten wird dies in "Curling", einer zutiefst beunruhigenden Vater-Tochter-Geschichte aus dem ewig gefrorenen, ländlichen Quebec: immer wieder liegen da Leichen, in Hotelzimmern, draußen im Schnee, am Rande des Erzählten. Wer die Toten sind, was mit ihnen geschah, wer sie tötete - all das tut nichts zur Sache, der Film streift sie nur und erzählt (wie auch an der titelgebenden Nischensportart: im Film wird meistens gebowlt) haarscharf an ihnen vorbei. Der Gestus des Erzählens selbst scheint so frostig, so vereist wie die Welt, die erzählt wird.

Weniger eisig, aber von ähnlich ungreifbaren Bedrohungsstrukturen ist "Vic et Flo ont vu un ours" durchzogen, der sich mit seinen Protagonistinnen, dem lesbischen Titelpaar, in eine Hütte inmitten eines mutmaßlichen Märchenwaldes, der sich zunehmend als schrecklich real demaskiert, zurückzieht. Ein Bär wird im Film nicht in Erscheinung treten, in einer zutiefst abgründigen Pointe wird sich die Prophezeiung des Titels dann aber doch auf makabre Weise erfüllen. Vic und Flo werden vielleicht tatsächlich einen Bären gesehen haben, aber wir werden nicht tief genug in die verschlossenen Psychologien der Heldinnen eingedrungen sein, um mehr als die ganz und gar weltlichen, brutalen Geschehnisse der spröden Wirklichkeit registriert zu haben. Ein eskapistisches Märchen, vielleicht, dessen markerschütternde Tragik darin bestehen könnte, das es sich nie ganz ins Fantastische verliert - ein Traum von der Weltflucht, der unerfüllt bleibt, unlesbar auch. Eine Fluchtlinie aus der Realität, die ihre Grenzen knapp erreicht und dann an einer brutalisierten Wirklichkeit zerschellt.



Oftmals sind es Tiere in Denis Côtés Filmen, die für das stille, doch unbedingte Beharren eines Rätselhaften, einer kreatürlichen Brutalität in den stillgestellten Welten der Protagonisten stehen. Der abwesende Bär in "Vic et Flo ont vu un ours". Der unerklärt (und wohl unerklärlich) anwesende Tiger in der Eiswelt von "Curling". Nur konsequent ist es, dass Côté zwischen beiden Filmen sein eigenes Bestiarium inszenierte. Der Kinostart des großartigen Dokumentar- oder Essayfilms "Bestiaire" folgt der Werkschau im Arsenal unmittelbar, und seine grandiosen Meditationen über die Blickstrukturen zwischen Mensch und Tier bilden einen überaus reichen Resonanzboden auch für Côtés narrative Spielfilme. Tiere schauen dich an. Das Kreatürliche in dir selbst blickt zurück, schweigend, lauernd, unlesbar.

Jochen Werner

Ginger & Rosa - GB 2012 - Regie: Sally Potter - Darsteller: Elle Fanning, Alice Englert, Alessandro Nivola, Christina Hendricks, Timothy Spall, Oliver Platt, Annette Bening, Jodhi May - Laufzeit: 90 min.

Das Programm "No Comfort Zone - Die Filme von Denis Côté" ist vom 12.4. bis zum 23.4. im Berliner Kino Arsenal zu sehen.