Im Kino

Spektakulär sehnsuchtsvoll

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Jochen Werner
23.01.2021. Chung Mong-Hongs Netflixfilm "A Sun" erzählt in einem Rhythmus, der ganz figurale Bewegung ist, vom Selbstmord eines Jungen und den Folgen für die Familie. Vor allem aber ist er ein Film der Frauen, die sich mit  Pragmatismus und Solidarität dem Leben stellen. Mit der Disney-Serie "WandaVision" wird sich zeigen, ob das Marveluniversum sich vom Kino verabschiedet, und ob wieder radikalere Tonlagen und Narrative in den Superheldenfilmen möglich sind.


Zu Beginn geht alles schnell. Ein taiwanesisches Restaurant, ein Machetenangriff, eine abgeschlagene Hand, die dekorativ im Suppenteller landet. Der Anblick ist grotesk, so bestürzend wie komisch, und damit ähnlich den Schwierigkeiten, die im Nachklang des Vorfalls eine Rolle spielen werden. Vor Gericht steht dann A-Ho, ein geständiger Mittäter, der sich habe anstiften lassen. Die Körperverletzung bringt dem Schüler Jugendarrest und seiner Familie finanzielle Probleme, doch im Argen lagen die Dinge schon zuvor. Vater A-Wen verleugnet das straffällige Kind und schenkt auch dem ältesten Sohn A-Hao kaum Beachtung, Mutter Qin leidet unter der emotionalen Kälte und den ständigen Vorwürfen ihres Mannes. Als der verschwiegene A-Hao sich das Leben nimmt, droht die Familie ganz zu zerbrechen.

Inszeniert ist der Suizid des jungen Mannes auf eine für die offenbar methodischen Gewohnheiten der Figuren - konkreter gesagt: für das Dilemma ihrer Kommunikationsunfähigkeit - exemplarische Weise, nämlich ohne jeden Affekt. Das Sterben stellt "A Sun" - der Titel verweist auf eine bittere Selbstbeschreibung A-Haos - als schmerzvoll passiven Bilderreigen dar: in Einstellungen vom stillen Abtransport eines in die Tiefe gestürzten Körpers, vom verstummt zu Boden starrenden Vater, vom nächtlichen Halbdunkel, das alle Trauer verschlingt. So gefasst die Figuren das Leben zu bestreiten scheinen, so diskret soll auch ihr Tod sein.



Abzuwenden sind die dadurch ausgelösten Erschütterungen allerdings nicht, zunehmend zwingen sie auch den mürrischen A-Wen, sich der ebenso gewaltigen wie gewalttätigen familiären Probleme bewusst zu werden. Nach A-Hos Entlassung aus dem Gefängnis vergrößert A-Wen sogar noch einmal die Distanz zum Sohn, indem er immer mehr Zeit auf der Arbeit verbringt (einer Fahrschule, die allerorts Kunden mit dem peinigenden Motivationsspruch "Nutze den Tag, wähle deinen Weg!" lockt). Der räumliche Rückzug bildet den Höhepunkt jener emotionalen Verhärtung, die "A Sun" zunächst mit kalten Regungen, unberücksichtigten Bedürfnissen und physischem Leid überzieht, bevor die erdrückende Trostlosigkeit in der zweiten Filmhälfte einem aufrichtigen Humanismus weicht.

Besonders schöne Augenblicke ergeben sich aus den sanftmütigen Lernversuchen der Familienmitglieder, Empfindungen einerseits zu artikulieren und sie andererseits nicht zum bloßen Maßstab ihres Handelns zu machen. "A Sun" gewinnt nach und nach einen Rhythmus, der ganz figurale Bewegung ist, sowohl in Momenten der Abkehr als auch der Zusammenkunft, der Konfrontation und der Vermeidung, der Hingabe und der Gegenwehr. Das ist mal auf schlichte Art bewegend, wie bei der vorsichtigen Annäherung zwischen Vater A-Wen und seinem rehabilitierten Sohn A-Ho, und mal geradezu spektakulär sehnsuchtsvoll: Zwei ungleiche Geschwister, die sich mit Argwohn und Missgunst begegnen, aber neugierig einander nachspüren - bei unangekündigten Gefängnisbesuchen oder im Entdecken eines zurückgelassenen Zimmers, das so rätselhaft bleibt wie die Selbsttötung des Bruders.



Vielmehr noch aber ist "A Sun" ein Film der Frauen. An die Stelle der temporär oder unabänderlich aus dem Familienalltag verschwindenden Jungen treten in beiden Fällen Mädchen: Zum einen die 15-jährige Xiao-Yu, Mitschülerin von A-Ho und schwanger mit dem Kind des frisch Inhaftierten, zum anderen Xiao-Zhen, eine Kommilitonin A-Haos, die sich vor dessen Tod in den schüchternen Studenten verliebt hatte. Xiao-Yu darf den werdenden Vater wegen strenger Besuchsregelungen nicht sehen, weshalb deren Tante und A-Hos Mutter Qin eine Heirat planen. Beide wissen mit den Problemen, die ihnen die Männer bereiten, nicht nur bemerkenswert pragmatisch, sondern voll solidarischer Zuversicht umzugehen. Zwar könne Qin nicht für ihren erratischen Sohn bürgen, wie sie der berechtigte Zweifel anmeldenden Tante gesteht, doch würden untereinander geteilte Sorgen es immerhin allen leichter machen.

Aus der notbehelfsmäßigen Hochzeitsidee entwirft Regisseur Chung Mong-Hong (dessen Debüt "Parking" 2008 im Wettbewerb von Cannes lief) schließlich die amüsanteste Szene seines hierzulande auf Netflix veröffentlichten Films. In einer Gefängniszeremonie mit bedröppelt dreinschauenden Gesichtern und trist zu Boden fallendem Konfetti wird der bei aller Tragik doch zentrale Humor von "A Sun" akzentuiert. Stets etwas unvermittelt durchkreuzt dieser Humor das Geschehen, als wolle er unterminieren, was in themenschwere Schicksalserzählung umschlagen könnte. All die Drehbuchmechaniken, die den Film vom intimen Figurenstück in eine weltschwere Familienchronik zu verwandeln drohen, werden auf bezaubernde Art und Weise ausgehebelt, wenn die Figuren in ihrer Bekümmertheit auch immer einen Funken Absurdität entdecken.

Rajko Burchardt

A Sun - Taiwan 2019 - OT: Yangguang puzhao - Regie: Chung Mong-Hong - Darsteller: Wu Chien-Ho, Chen Yi-Wen, Samantha Ko Shu-Chin, Liu Kuan-Ting - Laufzeit: 156 Minuten. "A Sun" auf Netflix.

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Am vergangenen Wochenende sind, von einer aufwendigen Werbekampagne und allerlei Berichterstattung begleitet, die ersten beiden Episoden der Streaming-Serie "WandaVision" auf dem Portal Disney+ erschienen, und aufgrund des Medienwechsels vom Kinoblockbuster zur Webserie war man sich weitgehend einig, dass das Marvel Cinematic Universe nun in eine neue Phase eintrete. Insbesondere in einer Zeit, in der die Kinos weiterhin geschlossen sind, bietet dieser zumindest potenzielle Wendepunkt des erfolgreichsten Bewegtbildfranchises unserer Zeit die Gelegenheit, den Blick ein wenig schweifen zu lassen und, neben einer Einordnung dieser noch unvollendeten Miniserie, über Gegenwart und Zukunft des MCU sowie des Verhältnisses von Kinofilm und Streamingcontent zu spekulieren.

"WandaVision" zeigt die "Scarlet Witch" Wanda Maximoff und ihren Ehemann, den zuletzt in "Avengers: Infinity War" verstorbenen Androiden Vision, in einem zunächst schwarzweißen, später eingefärbten Sitcom-Szenario nach dem Vorbild wechselnder klassischer TV-Comedyserien, von der "Dick Van Dyke Show" bis zu "Bewitched" oder "I Dream of Jeannie". Das ungewöhnliche Paar versucht sich dort in ein uramerikanisches 50er-Jahre-Vorstadtszenario einzufügen und seine Superkräfte zu verstecken, ohne aus der Rolle zu fallen, während unheimliche Stimmen aus dem Radio und andere bizarre Geschehnisse immer wieder auf die Instabilität dieser vermeintlichen Realität hindeuten.

Dass "WandaVision" sich an einer Adaption der Scarlet-Witch-Storylines "Avengers Disassembled" und "House of M" versucht, kann bereits nach dem Serienauftakt mit einiger Sicherheit konstatiert werden. In diesen wird die dem Wahnsinn anheimgefallene Wanda, deren Kräfte die Wirklichkeit selbst zu manipulieren imstande sind, zur Gefahr für ihre einstigen Verbündeten, die Avengers, die sie in der verzweifelten Verteidigung einer fabrizierten Realität, in der sie ein ihr versagtes Leben als Ehefrau und Mutter führt, brutal attackiert. Für den Tod mehrerer Avengers und die Auflösung des Superheldenteams verantwortlich, wird sie von Charles Xavier und Magneto in Gewahrsam genommen, während die verbleibenden Helden über den Umgang mit der wahnsinnigen, unkontrollierbaren Mutantin und die Option, sie zum Schutze der Menschheit zu töten, debattieren. In "House of M" schließlich übernimmt Wanda zeitweise die Kontrolle und schreibt den gesamten Lauf der Geschichte zu einem Parallelweltszenario um.

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Während die beiden Comicerzählungen weitgehend aus der Perspektive der Avengers erzählen, die dem zunächst rätselhaften Geschehen nach und nach auf den Grund gehen und die Bedrohung in den eigenen Reihen entdecken, scheint "WandaVision" die Perspektive umzudrehen und die zur Wirklichkeit gewordenen Wunschträume der aus der brutalen Realität - hier wohl infolge von Visions Tod - geflohenen Wanda näher zu erforschen. Das ist zunächst einmal ein sehr interessanter Perspektivwechsel, der die narrativen Möglichkeiten des MCU massiv erweitert.

Eine der größten künstlerischen Stärken des Marvel-Comicuniversums liegt darin, dass es in seiner schier unendlich anmutenden Verzweigtheit und Unübersichtlichkeit eine Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Narrative und Tonlagen ermöglicht, die von politisch-subversiv über individuell-tragisch bis zu komödiantisch-unterhaltsam in ihrer Gesamtheit ein einigermaßen vollständiges Spektrum menschlicher Emotionen und sozialer Analyse bilden. In den Marvel-Comics ist alles möglich, weil es zahlreiche Parallelerzählungen immer gleichzeitig gibt und die nächsten Reboots und Retcons immer schon vor der Tür stehen und mitgedacht sind.

Den Zwang zur alles bestimmenden Continuity zwischen allen Publikationen des Verlages hat Marvel Comics bereits in den 70er-Jahren gelockert und schließlich, mit der Etablierung des Marvel-Multiversums, das zahllose parallele und einander widersprechende Erzählungen um dieselben Figuren herum möglich macht, komplett fallen gelassen. Dieses Multiversum, das bereits in den abschließenden Filmen des ersten großen MCU-Kinozyklus angedeutet wurde, wird in den kommenden Filmen und dem knappen Dutzend im Rahmen eines großen PR-Events angekündigter Serien ausgestaltet werden - und es könnte tatsächlich Lösungsansätze für das zentrale Problem des bisherigen MCU bieten.

So wurden zuletzt, den mitunter gigantischen Kassenerfolgen und der ungebrochenen Begeisterung eines beträchtlichen Kinopublikums zum Trotz, kritische Stimmen immer lauter, die insbesondere eine gewisse Gleichförmigkeit der MCU-Blockbuster bemängelten; was sich tatsächlich nicht ganz von der Hand weisen lässt - insbesondere wenn man sie mit den Marvel-Filmen der Prä-MCU-Ära vergleicht. Da waren die ästhetischen wie qualitativen Schwankungen beträchtlich: Sam Raimis "Spider-Man"-Trilogie, Bryan Singers "X-Men"-Filme, Ang Lees idiosynkratischer "Hulk" oder Flops wie "Fantastic Four" oder "Daredevil" wählten jeweils signifikant unterschiedliche Ansätze in der Adaption ihrer Comicvorlagen. So entstanden einige sehr gelungene und einige völlig missratene Filme - ein zersplittertes Gesamtbild mit extremen Höhen und Tiefen, kurz: ein lebendiges System. Das MCU zog nun erstmals einen roten Faden durch das Marvel-Universum, mit dem Gewinn, dass die kompletten Fehltritte fortan nicht mehr vorkamen - und dem dafür zu zahlenden Preis, dass auch die Idiosynkrasien, Merkwürdigkeiten, die ästhetischen wie qualitativen Spitzen fortan nivelliert wurden auf das mittlere, stets ein maximales Publikum ansprechende Niveau der meisten MCU-Kinofilme.



Anhand von "WandaVision" dürfte sich nun entscheiden, in welche Richtung es fortan ästhetisch geht und ob die fortschreitende Verzweigung und Zersplitterung des MCU auch radikalere Tonlagen und Narrative ermöglicht. Die Comicvorlage, auf der die Miniserie zumindest zum Teil beruht, bietet viel Potenzial für persönliche Tragik und verstörende Weirdness, die in den MCU-Kinofilmen so zuletzt nicht denkbar war. Als Beispiel für die bei allem Ausufernden doch recht engen Grenzen ebendieser mag "Captain America: Civil War" dienen, der ein Abertausende Seiten umfassendes Comicevent derart auf zweieinhalb Kinostunden umschreibt, dass von all der politischen und moralischen Komplexität auf der Leinwand nur ein auf ein handelsübliches Komplott heruntergebrochener Schatten der Vorlage übrig blieb.

Wie aber geht es nun, im Zeitalter der Corona-Pandemie, erneut seit Monaten geschlossener Kinos und zahlloser ad infinitum verschobener oder per Streaming versendeter Blockbusterproduktionen mit dem MCU auf der Kinoleinwand weiter? Deutet sich mit den zahllosen Serienproduktionen ein schleichender Abschied von der großen Leinwand an? Eine Frage, die im Übrigen mit "Star Wars" auch das andere große Disney-Franchise betrifft, das bereits einen Schritt weiter in einer Entwicklung scheint, die dem MCU noch bevorstehen könnte. Neben weiteren Trilogien nahm Disney nach dem Erwerb der "Star Wars"-Rechte von George Lucas eine fortlaufende Reihe von für die Kinoleinwand produzierten Spin-offs, Prequels und ähnlichem Schnickschnack in Angriff, die jedoch nach dem Misserfolg von "Solo: A Star Wars Story" wieder abgeblasen wurde. Zwar beabsichtigt Disney weiterhin, "Star Wars"-Filme fürs Kino zu produzieren, zieht aber aus einer möglichen Übersättigung des Marktes den Schluss, die Frequenz zu verringern und einen größeren Schwerpunkt auf die Produktion von Streaming-Serien zu legen.

Ähnlich könnte man sich die Zukunft des MCU vorstellen, denn soviel scheint klar: ein gänzlicher Verzicht auf das Kino als Auswertungsform würde gleichzeitig das Ende des hunderte Millionen teuren Blockbusters bedeuten. Sosehr die Studios mitunter darauf drängen, die Auswertungsketten zu verkürzen und alle Einnahmen in der eigenen Hand zu behalten: eine Produktion solchen Formats wird sich auch zukünftig nicht allein durch die hauseigene Streamingplattform refinanzieren lassen, schon allein da dort der Beginn der Auswertungskette gleichzeitig ihr Ende ist.

Auch könnte das Kino momentan wohl kaum auf die Marvel-Filme verzichten, denn bei aller zulässigen Kritik an Ästhetik und Erzählweise (und nicht zuletzt auch des hochgerüsteten Militarismus der sich einstmals so hartnäckig an Fragen nach Macht und persönlicher Verantwortung abarbeitenden Superheldenfilme) muss man konstatieren, dass es diesen gelungen ist, ein beträchtliches Publikum über einen langen Zeitraum zu binden und einen großen Enthusiasmus nicht nur für die Filme selbst, sondern auch für das Kino als Ort und Sichtungsdispositiv zu kreieren.

Etwas mehr Vielfalt auf den Multiplexleinwänden, so es diese nach dem x-ten Lockdown denn noch gibt, etwas mehr Luft in den Kinostartlisten zwischen all den kalkulierten Franchisefilmen, in die eigenständige Stoffe hineinstoßen könnten, etwas mehr Experimentierfreude sowohl des Kinopublikums als auch der Kinomacher - sicher, all dies scheint gerade nach einem Jahrzehnt MCU notwendiger denn je. Und doch: Gerade in einer Zeit, in der sich das Kino mit immer mehr Stimmen auseinandersetzen muss, die es entweder gleich als obsolet betrachten oder voreilig musealisieren wollen, haben die MCU-Filme zahlreiche Menschen dazu gebracht, sie nicht nur sehen, sondern sie dezidiert im Kino sehen zu wollen. Das ist auch ein Beitrag zur Kinokultur, und als ein solcher ganz und gar nicht wenig.

Jochen Werner

WandaVision - USA 2021 - Regie: Matt Shakman - Serie. "Wanda Vision" auf Disney Plus.