Im Kino

Unbeschädigt, aber verändert

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
10.09.2021. Venedig ist von den drei großen europäischen Filmfestivals sicherlich am vitalsten aus der Corona-Krise hervorgegangen. Es sind auffällig viele Historienfilme unter den Wettbewerbsbeiträgen. Und gerade sie zeigen zweierlei: Kino ist heute vom  Streaming geprägt. Aber ein Film wie  "Leave No Traces" Jan P. Matuszyński zeigt, dass Historienfilme visionär sein können. Dass es ein reicher Jahrgang war, zeigen auch Filme von Natasha Merkulova/Aleksey Chupov, Paul Schrader und Maggie Gyllenhaal.
Er versucht der Hölle zu entkommen wie wir alle. Er rennt dabei fast die ganze Zeit, rennt durch ein Diesseits, das aber in weiten Teilen auch wie die Hölle ist. Der Mann heißt Hauptmann Volkonogov und wir sehen ihm also mehr als zwei Stunden lang auf dieser Flucht zu, auf der er immer wieder seinen Verfolgern ein Schnippchen schlägt und die doch die ganze Zeit aussichtslos scheint. Das Diesseits, durch das er rennt, ist das Leningrad des Jahres 1938, der Sünder und Held, mit dem wir mitfiebern, ist Mitglied einer Geheimpolizeieinheit, die so genannte Staats- und Parteifeinde zu Tode foltert. Aber jetzt steht auch in der Geheimpolizei eine Säuberung an, Hauptmann Volkonogov hat davon Wind bekommen und rennt um sein Leben. Oder vielmehr um seine Seele, damit wenigstens die noch in den Himmel kommt, wenn sich nun die totalitäre Logik gegen ihn wendet.

Szene aus "Captain Volkonogov Escaped". Foto: Verleih.



Diese Geschichte erzählt mit unausweichlichem Tempo der Film "Captain Volkonogov Escaped", der im Wettbewerb der Filmfestspiele in Venedig Premiere hatte. Ein Film so zentriert wie ein Videospiel, so zwingend wie ein Thriller, so grotesk wie ein Schattenriss, tragisch wie ein antikes Drama und von einer unerbittlichen Moral wie ein Brecht-Theaterstück, wenn man das angesichts von Brechts Haltung zur sowjetischen Terrorherrschaft der 1930er sagen darf. Denn Volkonogov hat eine Botschaft aus dem Jenseits erhalten: In der Hölle ist es nicht gut, dort reißen sie dir unablässig die Eingeweide heraus. Und du hast noch die Chance, in den Himmel zu gelangen, wenn Du eines, nur eines deiner Opfer dazu bringst, dir zu verzeihen. Also los, Lola rennt auf stalinistisch. Volkonogov rennt zu den Angehörigen der Totgefolterten und präsentiert ihnen mit dem Aktendeckel in der Hand die Wahrheit, obwohl auch die selten Erlösung verspricht.

Es wimmelt beunruhigend von Historienfilmen im diesjährigen Venedig-Wettbewerb. Wir sind im stalinistischen Russland, im kommunistischen Polen, im sich abschottenden Frankreich der Restaurationsjahre und später in der jungen Frauen gegenüber feindlichen fünften Republik der 1960er. Wir sind im okkupierten Italien des Zweiten Weltkriegs und im sozial toxischen Italien der 1980er. Wir kehren zurück nach Abu Ghraib und gehen auch noch einmal an die Wurzel der jüngsten Geschichte: zum Anfang des Kriegs in der Ostukraine. Es gibt auch den Film "Spencer", der das Märchen von Charles und Diana dekonstruieren will, aber der passt nicht recht in diese Reihe. Denn die anderen Geschichtsdramen beeindrucken zwar sämtlich durch zeittypische Kostüme, Sprache und liebevolle Ausstattung. Aber sie sprechen ganz brutal von Heute, wenn sie über Gestern zu erzählen vorgeben. Und sie erzählen, wie nah das eine dem anderen ist. Zum Beispiel vermittelt die Geschichte aus Russland, gedreht von Natasha Merkulova und Aleksey Chupov mit Geld aus Lettland aber auch des Moskauer Kulturministeriums, wie sich die Willkür anfühlt. Jene Willkür, in der ein erfoltertes Geständnis "Spezialbehandlung" heißt und seine Rechtfertigung so lautet: "Wir sind schließlich ein Rechtsstaat. Da können wir nicht einfach jemanden ohne Tatnachweis verurteilen". Die monsterhafte Vergangenheit ist nur ein Spiegel, durch den wir sehen, wie gering unser Abstand (oder in diesem Fall der des heutigen Russland) zur Hölle nur ist.

Das Festival von Venedig, das muss man beim Anschauen all dieser Filme auch feststellen, ist das einzige, dass den Corona-Einschnitt fast unbeeindruckt überstanden hat: Cannes und Berlin fielen je einmal aus und haben beide nun Schwierigkeiten, zu ihrer alten Rolle zurückzufinden - trotz eines aus der Warteschleife gut gefüllten Programms bei der verspäteten Cannes-Ausgabe diesen Sommer. Venedig dagegen fand letztes Jahr statt und dieses und vermittelt den Eindruck, dass das Kino unbeschädigt aber verändert aus der Krise gekommen sei.

Unbeschädigt: Es ist nichts zu spüren von einem Mangel an Stoffen, an Geld oder an Drehmöglichkeiten wegen irgendwelcher Lockdowns - so groß sind das Niveau, die Fülle, die Vielfalt der Geschichten (allerdings nicht die Vielfalt der Herkunft, Europa und Amerika dominieren).

Verändert: Die Sehgewohnheiten, die das Streaming prägt, scheinen sich einzuschleichen - mehr Tempo in den Geschichten, aber auch weniger Geheimnisse, Dekonstruktion von Erzählformen oder andere ästhetische Störungen, die riskieren dass die Kontinuität des Guckens abreißt. Dazu kommt eben auch: Der Rückgriff auf historische Geschichten, Situationen, Figuren, die Zugang ermöglichen und Wirklichkeit versprechen. Selten waren so viele Literaturverfilmungen, Biopics, Helden aus der Wirklichkeit. Und es gibt auch einfach wahnsinnig viel zu sehen, vor allem Grausamkeit, Kämpfe, Blut. Man muss jetzt natürlich noch einmal schauen, ob es so weitergeht oder all das nur eine Momentaufnahme ist. Aber vorerst gilt, dass das Kino in der Form konservativer geworden scheint, im Handwerk gediegener (durchaus im positiven Sinne) und seine Geschichten konkreter, zugänglicher.

Auch hat sich Venedig in seiner Rolle als letzter Hollywood-Liebling unter Europas Festivals und Oscar-Vorsortiermaschine behauptet - auch weil hier im letzten Jahr der einzige US-Beitrag "Nomadland" den Goldenen Löwen gewann und dann prompt beim Oscar abräumte. Dieses Mal waren es mehr US-Premieren. Die pompöse Neuverfilmung des Science-Fiction-Klassikers "Dune" erhielt hier eine Marketingrampe erster Güte - bevor das kurzweilige aber wenig erinnerungswürdige Gewimmel aber nach neuer Art in Warners Angebot HBO Max in den Streaming-Krieg geschickt wird, anstatt nach alter Sitte erst einmal exklusiv auf der breiten Leinwand zelebriert zu werden. Zu den Oscar-Kandidaten (jenseits der Auslandspreise) gesellen sich dieses Mal gleich vier Filme, denen man durchaus Chancen attestieren darf: "The Card Counter" von Altmeister Paul Schrader, der schon das Drehbuch zu "Taxi Driver" lieferte, ein Film, an den er hier gewissermaßen anknüpft: Oscar Isaac spielt überaus überzeugend einen Ex-Folterer aus Abu Ghraib (schon wieder ein Folterknecht, und es wird nicht der letzte sein), der sich nach seiner Haft aufs Pokerspiel verlegt hat, dem das posttraumatische Belastungssyndrom ins Gesicht geschrieben steht. "Sundown" von Michael Franco bringt die Geschichte eines Mannes, der aussteigt - aus dem elterlichen Schlachtimperium, aus dem Familienleben, aus allen Verbindungen und dann am Strand von Acapulco dömmert. Dann der neue Jane-Campion-Film "The Power of A Dog"

Szene aus "The Lost Daughter". Foto: Verlieh.



Der vierte Film ist der Bemerkenswerteste: Es ist das Spielfilmdebüt der Schauspielerin Maggy Gyllenhaal. "The Lost Daughter", beruht auf Elena Ferrantes Roman "Frau im Dunkeln". Hier ist aber anders als im Roman eine griechische Insel der Spielort und es sind lauter Amerikaner, die in eine Bucht einfallen, ihre Ferienquartiere und eine Bar. Dass wir in Griechenland sind, legt auch irgendwie nahe, dass etwas Tragisches passiert und lange Zeit sieht alles im Film so aus. In der Ausgangssituation ist das Ganze also das Gewohnte, man weiß nur nicht, ob ein Krimi oder eine persönliche Tragödie sich entspinnen wird. Hauptfigur ist die 48jährige Leda, preiswürdig gespielt von Olivia Colman. Irgend etwas ist also mit dieser Frau, wir vermuten: Ein totes Kind ist im Spiel. Doch später, so viel Spoilern darf hoffentlich sein, stellt sich heraus, dass wir es hier mit einer Art Traumatisierung ohne ein traumatisierendes Ereignis zu tun haben. Es ist einfach nur das ganz normale, durchschnittliche Lebensunglück, das der Hauptfigur zu schaffen macht. Und das auch nicht einmal so dramatisch doll. Und genau darin liegt, gerade bei der eher konventionellen Konstellation eben die Qualität dieses Films. Wie er genau und präzise dieses Unglück vorführt, wie er die Möglichkeiten durchkonjugiert, ohne sie auszuspielen, langsam die Regler hochdreht und rechtzeitig wieder runter, wie nie irgend etwas eskaliert oder auf die Spitze getrieben wird - das ist sehr kunstvoll und eher hollywood-untypisch.

"Leave No Traces". Foto: Verleih.



Einen Preis verdient hätte auch der polnische Beitrag "Leave No Traces" von Jan P. Matuszyński. In 160 Minuten, und in jeder davon spannend, zeichnet er ein Ereignis aus dem Polen des Jahres 1983 nach. Die kommunistische Herrschaft beginnt bereits zu bröckeln, die Gewerkschaft Solidarnosc gewinnt an Unterstützung. Gerade als die Regierung das Kriegsrecht etwas lockern will, schlagen Polizisten auf einer Wache in Warschau den 19-jährigen Schüler Grzegorz Przemyk so sehr, dass er kurz darauf im Krankenhaus stirbt. Der Film erzählt einerseits die Geschichte von Jurek, des Freundes von Grzegorz, der zum Zeuge des Übergriffs wurde und der bis zum Schluss an der Wahrheit festhält, obwohl die Staatsmacht alles versucht, um ihn zum Schweigen zu bringen. Gleichzeitig aber schildert der Film sehr genau die Geschichte, wie Militär und Regierung die Justiz zu manipulieren und dirigieren suchen, die eben gerade erste vorsichtige Versuche unternimmt, unabhängiger zu handeln.

Und hier sind die Bezüge zur Jetztzeit unübersehbar, obwohl der Film die ganze Zeit nah bei seinen Figuren und seiner Geschichte bleibt. Aber darüber zeigt er umso genauer auf, was es bedeutet, wenn eine Regierung sich die Justiz Untertan macht. Der Stadt und seine Medien versuchen Grzegorz und Jurek als Trinker, Drogenabhängige, Homosexuelle und Kriminelle zu diskreditieren und auch die von ihnen angewandten Methoden sind leider nicht ausgestorben. Ein Film der zeigt, dass historische Filme keine Rückblicke sein müssen, sondern visionär sein können. Und dass sie dabei auch genau sein können, anders etwa als Xavier Gianniolis so turbulente wie temporeiche Balzac-Verfilmung "Illusions Perdues", die zwar überdeutlich Parallelen zur Gegenwart zieht und auch vor Anspielungen auf Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron nicht zurückscheut. Aber dessen Parallelen legen nahe, dass damals wie heute Politik und Medien und Kulturmächtige unter einer Decke stecken, alle korrupt bis auf die Knochen, alles ein großer Zirkus, gesteuert von Bankern wie Rothschild. So vergnüglich die Geschichte anzusehen, so elegant und geschliffen sie gemacht ist - für so platte Analogien sind Historienfilme gerade nicht da.

Zehn Tage Kinoschau gehen am Samstag zu Ende und wie immer sind es natürlich auch Tage der Selbstschau der Kinobranche. Die besten Bilder dazu kommen aus der vergnügt bösen spanischen Komödie "Competencia Oficial" von Gastón Duprat und Mariano Kohn mit Antonio Banderas und Penélope Cruz. Ein Pharmamillionär will sich ein Denkmal setzen und hat beschlossen, einen Film drehen zu lassen. Die exzentrische Regisseurin Lola lässt ihre zwei Hauptdarsteller auch mit Selbsterfahrung arbeiten. Einmal fesselt sie beide zusammen an den Kinosessel, stellt eine große Maschine auf die Bühne und schreddert darin ganz geruhsam deren große Filmpreise: Fünf Goyas, eine goldene Palme und der Goldene Löwe von Venedig. Das knackt und scheppernd schön Verheißungsvoll für die Preisverleihung.

Lutz Meier
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